Im Zuge großer Editionsprojekte (Keller, Nietzsche, Wittgenstein und andere) ist in letzter Zeit ein neues Interesse für den Schreibprozess entstanden. Dabei geht es heute nicht mehr nur um Probleme der Editionskritik, sondern auch um Fragen der Textgenese und der Texttheorie. Notizen, Vorstufen, verschiedene Druckversionen etc. können Aufschluss über Arbeitsweisen und Denkwege geben, so dass Philologie und Interpretation miteinander verbunden werden. Der Band versammelt Beiträge zu Dichtern und Philosophen von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert.
Die Aufmerksamkeit durchquert das anthropologische, religiöse, medizinische, pädagogische, philosophische, ästhetische und literarische Wissen der Zeit und ist in all ihren Bezugsfeldern wesentlich auf das diätetische Theorem des Maßhaltens bzw. auf dessen Zurückweisung bezogen. Im Austausch mit den kulturell prägenden und nicht selten konkurrierenden Wissensformen produzieren die Texte der deutschen Literatur des 18. und 19. Jhs. (Brockes, Thomasius, A. Bernd, G.F. Meyer, Moritz, Goethe, Novalis, Nietzsche) nicht nur genuin literarische Konzepte von Aufmerksamkeit und Diätetik, sondern lassen sich auch – im Hinblick auf Erzählstrukturen und Darstellungskonzepte – von diesen Kategorien her bestimmen. Ausgehend davon lässt sich nachweisen, dass die Theoretisierungen der Aufmerksamkeit um 1900 und um 2000, die auf den Bedarf an immer mehr Information mit einem Bedarf nach Selektion der ständig anwachsenden Information antwortet, ihre Wurzeln im 18. Jahrhundert hat.
Die zahlreichen und facettenreichen Bilder des Morgenlandes im 18. und 19. Jahrhundert sind Gegenstand dieses Bandes, der in internationaler und interdisziplinärer Perspektive deutsche Sichtweisen des Orients rekonstruiert. Angesichts der gegenwärtigen Auseinandersetzung um kulturelle, religiöse und ökonomische Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der westlichen Welt und dem Orient gerät leicht aus dem Blick, dass der reale und der imaginäre Orient für deutsche Literaten, Philosophen und Künstler auch vielfach ein Ort der Inspiration und der Sehnsucht war. Nicht Verachtung und Polemik haben den deutschen Orient-Diskurs geprägt, sondern Neugier und Respekt sowie Achtung vor dem Fremden, welches das Eigene in einer ungeahnten Weise bereichern konnte – und heute noch kann.
Textgenetische Analyse und Interpretation von Friedrich Dürrenmatts „Stoffen“ als moderner Autobiographie, die keine sein will. Die „Stoffe“ sind Friedrich Dürrenmatts Opus magnum, an welchem er von 1970 bis zu seinem Tod 1990 arbeitet. Im Nebeneinander von autobiographischer Darstellung, philosophisch-essayistischer Reflexion und unterschiedlichen Formen von erzählerischen Fiktionen entsteht ein variantenreicher Text, der als Gesamtkomposition nicht nur in Dürrenmatts Schaffen, sondern auch in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur neuartig und in der Dürrenmatt-Forschung erst ansatzweise analysiert und interpretiert worden ist. Die zwei publizierten Bände „Labyrinth“ und „Turmbau“ sind aber nur die Spitze des Eisbergs, unter der sich ein gewaltiger Fundus von Manuskripten verbirgt, die in Dürrenmatts Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv der Öffentlichkeit zugänglich sind. Den rund 600 Druckseiten der publizierten „Stoffe“ und den 170 Seiten der „Gedankenfuge“ steht ein Manuskript-Berg von über 23.000 hand- und maschinenschriftlichen Seiten gegenüber, die die wechselvolle Entwicklung von Dürrenmatts Autobiographieprojekt bis ins Kleinste dokumentieren. Probst zeichnet die Entstehung und Entwicklung von Dürrenmatts Werk mit der Methode textgenetischer Analyse und Interpretation nach und liest die „Stoffe“ als moderne Form der Autobiographie, in der der Autor bewusst mit der Gattungstradition spielt und diese in literarisch überzeugender Weise erneuert und fortführt.
Selbstlektüren setzen die Möglichkeit einer Selbstbeobachtung beim Schreiben voraus. Doch wer oder was ist das ›Selbst‹, das beim Schreiben in Bewegung gerät – oder die Bewegung vorantreibt? Von Autoren, bei denen – klassisch – die Subjektivität des Autors als Triebfeder des Schreibens bestimmt wird, zu Schriftstellern, bei denen – instrumental – das Schreibwerkzeug zum Hauptagenten wird, bis hin zu Schreibern, die – gestisch – in der Hand die Antriebskraft des Schreibens sehen, gibt es prinzipielle Unterschiede in der praktischen Beurteilung der Frage, wer oder was beim Schreiben Regie führt oder führen soll. Diese Unterschiede prägen auch die Art, in der Schreibprozesse thematisch und emphatisch, zu einer ›Schreib-Szene‹ werden.
Die Arbeit entdeckt erstmalig die immense Bedeutung des Abscheus im Werk Thomas Bernhards. Diesem wird eine für sein Schreiben konstitutive Funktion zugesprochen, die die Prosa poetologisch und politisch neu situiert. Weit davon entfernt ein beliebiges Motiv darzustellen, berührt der Abscheu nahezu alle Dimensionen von Bernhards Schreiben. Seine Texte sind durchtränkt von einer prononcierten Ekel-Semantik, die ihren Umgang sowohl mit soziohistorischen und politischen Phänomenen als auch ihre Reflexion fremden und eigenen Schreibens neu lesbar macht. Den wichtigsten theoretischen Bezugspunkt bildet dabei die in Deutschland bisher viel zu wenig rezipierte Ekeltheorie Julia Kristevas, die auch eine systematische Reformulierung der bei Bernhard hochproblematischen gender-Konstellationen unumgänglich macht. Kristevas Konzepte sind dabei allerdings nicht als Metamodell zu begreifen, vielmehr werden sie ihrerseits kritisch mit Bernhard konfrontiert.
Der „Mythos vom deutschen Sonder-weg“ spielt seit jeher eine fundamentale Rolle in den öffentlichen Debatten um die nationale Identität der Deutschen. Auch wenn seit 1945 dessen negative Deutungsvariante als Weg in die „deutsche Katastrophe“ dominiert, liegt dessen Ursprung doch in einem positiv verstandenen deutschen Son-derbewusstsein, das Kaiserreich und Weimarer Republik prägte: dem My-thos von der ästhetischen Erfindung der Nation in der „deutschen Bewe-gung“ um 1800, von Deutschland als „unpolitischem“ Land der „Dichter und Denker“. Diese Studie fragt erstmals nach Figu-rationen und Funktionen, aber auch nach dem kulturellen und historischen Ort der Rede von der „deutschen Bewegung“ um 1900.
Immer wieder von neuem artikuliert Hölderlin zwischen 1795 und 1802 ein ihm eigenes radikal neues Dichtungsprojekt. Unter dem Titel „Gesang“ verbindet sich darin die Hoffnung auf eine umfassende politische und religiöse Erneuerung der (zwischen)menschlichen Verhältnisse mit einer neuen, noch zu schaffenden, kommenden Dichtung. Diese Studie spürt den in Hölderlins Texten antizipierten Momenten des „Gesangs“ nach und widmet sich dabei vor allem Hölderlins Hymnenfragment „Wie wenn am Feiertage…“. Durch eine Fülle von Querverweisen auf Hölderlins übriges lyrisches und dramatisches Werk und besonders durch zwei theoretische Kapitel zu den philosophischen und poetologischen Texten Hölderlins gelangt die Studie zu einer Charakterisierung von Hölderlins poetischer Sprache als einem durchgängig prozessualen Sprachgeschehen.