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Abstract
Im US-Kriegsgefangenenlager Fort Hunt wurden während des Zweiten Weltkriegs deutsche Soldaten verhört und abgehört, was in Protokollen dokumentiert wurde. Die praxeologische Herausforderung besteht darin, Praktiken anhand dieses Materials adäquat zu analysieren. Dass wir Spuren in Archivdaten verstehen, ist in ihrer Semiotizität begründet. Dass sie die sie hervorbringenden Situationen überdauern, verdanken wir ihrer Medialität. In einer semiopraxeologischen Analyse, die diese beiden Grundkonstanten zeichenvermittelter Kommunikation in Beziehung zueinander setzt, wird erörtert, wie Praktiken sich aus ihren Spuren erschließen. Es wird gezeigt, wie sich an Dokumenten indexikalische und reflexive Verweise auf die heterogenen, praktischen Verwendungszusammenhänge über die Zeit manifestieren. Entsprechend sind Archivdokumente als historische Werkzeugnisse aufzufassen, die einerseits Vergangenes belegen und die andererseits praktisch gehandhabt werden, was wiederum neue Praxisindizes erzeugt und als Spuren am Material hinterlässt. Die Analyse zeigt, inwiefern Wissen nicht trotz, sondern aufgrund seiner semiotischen und materialen Manifestationen in (Archiv-)Dokumenten vorläufig ist und sich als Gegenstand weiterer Praktiken immer wieder verändern kann.
Abstract
Der Beitrag diskutiert die Frage, wie mediale Einflussfaktoren die Herausbildung von Interaktionsordnungen in Videokonferenzen prägen. Anders als bei digitalen Formen schriftlicher Kommunikation einschließlich der sogenannten quasi-synchronen Chat- Kommunikation erfolgt die Kommunikation in Videokonferenzen prinzipiell im Raum wechselseitiger Wahrnehmung; dieser Raum reduziert sich jedoch von der Dreidimensionalität eines betretbaren physischen Ortes auf die Größe eines zweidimensionalen Bildschirms und ist mit einer Dissoziation zwischen der körperlichen Verortung und der audiovisuellen Wahrnehmung der Interaktanten verbunden. Hier setzt der Beitrag an und richtet den Fokus auf die Formen von Anwesenheit und „response presence“ (Goffman) unter den Bedingungen einer eingeschränkten „Wahrnehmungswahrnehmung“ (Hausendorf). In Abkehr von der noch verbreiteten Auffassung von technisierter Kommunikation als Ersatz für Face-to-Face-Begegnungen argumentiert er für eine Betrachtung der Videokonferenzen als eigenständige Interaktionsformen. Speziell bezogen auf Videokonferenzformate, deren Teilnehmerzahl über die bislang meist untersuchten Dyaden oder Kleingruppenkonstellationen hinausreicht, soll verdeutlicht werden, dass sich die Beteiligungsstrukturen in den videobasierten Interaktionen nicht allein den technischen Rahmenbedingungen verdanken, sondern aus dem Zusammenspiel von medientechnologischen Vorgaben, Plattformeinstellungen und der Entwicklung spezifischer Praktiken ihres Gebrauchs resultieren.
Abstract
Im Werk Annie Ernaux’ konstituiert die Darstellung der Menge eine Ästhetik, die die Menge sichtbar macht und mit dieser Menge auch die eigene Position als Teil dieser Menge: als Ansammlung anonymer Stimmen, alltäglicher Gesten, immer wieder gleicher Szenen, in der sich flüchtige Form und soziale Prekarität sowie auch Flaneur und Passantin überlagern, die sich von dieser Menge nicht unterscheiden. Ernaux wirft damit zugleich einen veränderten Blick auf die Menge und sich selbst, sowie darüber hinaus auch auf die Literaturgeschichte. Durch die Überkreuzung von Flanerie und Autobiographie wird die Flanerie zum Verfahren, zu einer Praxis oder Selbsttechnik, die nicht auf Selbstentblößung zielt, sondern auf das Sammeln des Gesagten, des déjà-dit. Die dargestellte Überlagerung von öffentlichem Platz und Subjekt, Menge und Selbst ermöglicht die Selbstschreibung als prekären Ort der Durchquerung. Das Tagebuch wird zu einem öffentlichen Ort, das Notizheft verkörpert letztlich selbst die prekäre Menge.
Abstract
Der vorliegende Beitrag adressiert medienlinguistische Herausforderungen bei der Untersuchung von stationären Sprachassistenzsystemen im Privathaushalt. Dabei werden die Neuartigkeit dieses Gerätetyps, ein methodisches Desiderat in der Medienlinguistik sowie eine fortlaufende theoretische Debatte um den Medienbegriff als methodologische Herausforderungen identifiziert. Mit Vorschlägen erstens aus dem Bereich der praxeologisch fundierten Medienforschung und zweitens aus der ethnomethodologischen Konversationsanalyse bzw. der Video-Interaktionsanalyse sowie mithilfe zweier Fallbeispiele will der Beitrag diesen Problemstellungen begegnen.
Abstract
The article addresses the phenomenon of voice-controlled assistance systems, or more precisely: smart speakers with voice user interfaces, as they have been finding their way into private households for some time. The public discourse revolves, among other things, around the question of the extent to which the socio-technical exchange with such systems differs from social interaction or increasingly approaches it, and, related to this, whether individual users must adapt to machines or vice versa. At the same time, empirical research shows that socio-technical dialogues and social interaction are often not two separate worlds, but components of a complex practice in which prima facie ontologically different participants are involved. These circumstances make it possible to reconstruct the characteristics of both socio-technical dialogue and the social interaction which is situated around it as linguistically mediated performances from a praxeological perspective. In this context, systematic transitions between socio-technical dialogue and a “meta-interaction space” play an important role, as do various forms of “sequential” processes and their mediation with each other. This article approaches these phenomena based on empirical data from an ongoing research project, notably audio-visual recordings of situations of the initial installation/commissioning of IPA in two- and multi-person households, audio recordings of situations of everyday use, log data of socio-technical dialogue which the systems make available to the users through the corresponding smartphone app.