Anfang des 20. Jahrhunderts feierte der russische Impresario Sergej Djagilev mit seinen Ballets-Russes-Produktionen in ganz Europa große Erfolge, und Igor’ Stravinskij war mit seinen frühen Balletten L’Oiseau de feu (1910), Pétrouchka (1911) sowie Le Sacre du printemps (1913) maßgeblich daran beteiligt. Djagilevs Auftrag an ihn, für die Pariser Ballets-Russes-Saison von 1910 die Musik zum Ballett L’Oiseau de feu zu schreiben, kann als entscheidender Moment in Stravinskijs Karriere betrachtet werden. Nicht nur sorgte der phänomenale Erfolg der Uraufführung dafür, dass der Komponist internationale Aufmerksamkeit erfuhr; die Ballets-Russes-Mitglieder im Allgemeinen und ihre ästhetischen Überzeugungen im Besonderen hatten in der Anfangszeit der Kompanie einen signifikanten Einfluss auf seine Ideen und künstlerischen Entscheidungen.149 Aleksandr Benua, Künstler, Kunstkritiker und in der Anfangszeit der Ballets Russes einer der engsten Mitarbeiter Djagilevs, beschreibt Stravinskijs Hinzustoßen zur Gruppe wie folgt:
One of the binding links between us, besides music, was Stravinsky’s cult of the theatre and his interest in plastic arts. Unlike most musicians, who are usually quite indifferent to everything that is not within their sphere, Stravinsky was deeply interested in painting, architecture and sculpture. Although he had had no groundings in these subjects, discussion with him was very valuable to us, for he ‚reacted‘ to everything for what we lived. In those days he was a very willing and charming ‚pupil‘. He thirsted for enlightment and longed to widen his knowledge.150
Jenes „everything“, das Benua hier als Lebenselixier der Ballets-Russes-Mitglieder benennt, war ein „Gesamtkunstwerk“151. Und dieses „everything“ war es schließlich auch, welches Stravinskij 1913 mit seinem Sacre du printemps erstmals zu verwirklichen gedachte.152
Über Stravinskijs Sacre, dessen Entstehungsumstände und damit zusammenhängende Phänomene der russischen Kunst- und Kulturgeschichte liegen bereits einschlägige Studien vor. Richard Taruskin wies als Erster darauf hin, dass die Idee des Ballets-Russes-Gesamtkunstwerks auf nationale Wurzeln zurückgeführt werden muss – insbesondere auf zwei russische Kunstbewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, nämlich die Mir Iskusstva und die neonationalen Opernproduktionen des Moskoviter Kunstmäzens Savva Mamontov.153 Um den Einfluss der gemeinhin als neorussisch bezeichneten Ästhetik des Mamontov-Kreises auf das Gesamtkunstwerksideal der Ballets Russes zu verdeutlichen, bezeichnete es Taruskin in der Folge als „neonationalist“ und konnte durch seine historiografischen und musikanalytischen Betrachtungen obendrein zeigen, dass Stravinskij mit dem Sacre genau jenes „neonationalist ‚Gesamtkunstwerk‘“154 in aller Konsequenz umzusetzen versuchte:155 ein antiliterarisches Musiktheater also aus den gleichberechtigten Bestandteilen Musik, Tanz und Bühnenbild, dessen Sujet auf archäologischen Erkenntnissen fußen und damit tief in der russischen Kultur verankert sein sollte.156
Dass sich das Ballett und eben nicht die (von Djagilev zunächst präferierte Kunstform) Oper zum antiliterarischen Musiktheaterideal der Gruppe entwickelte, wird größtenteils auf den Einfluss Benuas zurückgeführt.157 Als Djagilevs engster Mitarbeiter hatte er vor allem in der Anfangszeit der Ballets Russes auch einen sehr großen Einfluss auf die ästhetischen Vorstellungen der Gruppenmitglieder – so unter anderem auch auf Stravinskij.158 Benua war es, der 1910 den deutschsprachigen Begriff Gesamtkunstwerk erstmals im Kontext der Ballets Russes öffentlich erwähnte.159 Zwei Jahre zuvor hatte er ihn schon in seinem Essay „Beseda o balete“ verwendet, der im Sammelband Teatr. Kniga o novom teatre erschienen war.160 Taruskin erwähnte diesen Text erstmals im Kontext der Ballets Russes, ernannte ihn zum „epitome of Miriskusstnik propaganda on behalf of Terpsichore“ und sieht darin quasi ein von Benua formuliertes frühes ästhetisches Konzept der zukünftigen Ballets-Russes-Produktionen, da er im fiktiven Gespräch zwischen Ballettliebhaber und Künstler erstmals Thesen formuliert sieht, die den Ballets Russes später als ästhetische Paradigmen zugeschrieben wurden und noch werden.161 Was Taruskin in seiner kurzen Paraphrase des Essays nicht erwähnt, ist, dass die Anthologie, in der er publiziert wurde, gleich mehrere Artikel zur Reformierung des Theaterwesens in Russland vereint und ihrerseits wiederum in Zusammenhang mit vergleichbaren Theaterreformschriften stand, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ganz Europa kursierten. Ihnen allen ist gemein, dass sie umfangreich die Ideale des Gesamtkunstwerks diskutieren.162
Die Theaterreform um 1900 wird klassischerweise nicht mit Werk und Ästhetik der Ballets Russes in Verbindung gebracht.163 Dass Benua allerdings jenen für die Ballets-Russes-Ästhetik als bedeutsam erachteten Essay in einem Band veröffentlichte, in dem sich führende Persönlichkeiten dieser Bewegung intensiv mit der Reformierung des Theaterwesens auseinandersetzten, legt einen (wie auch immer gearteten) Zusammenhang nahe.164
Sollte die Theaterreformbewegung etwa einen Einfluss auf das Gesamtkunstwerksideal der Ballets Russes gehabt haben? Und falls ja: Könnte dann ein tieferes Verständnis der Theaterreform und der dort diskutierten Bedeutung von Gesamtkunstwerk und Tanz zu einem besseren Verständnis des Ballets-Russes-Ideals beitragen?
1 Schlüsselfiguren und -gruppierungen
1.1 Aleksandr Benua, Sergej Djagilev, die Nevskij Pickwickians und die Mir Iskusstva
Wie bereits erwähnt, muss, was die ästhetischen Vorstellungen der Ballets Russes angeht, Alexandr Benua eine initiierende Rolle zugesprochen werden. Hinsichtlich Erfolg und Bekanntheitsgrad der Kompanie verwundert, dass noch keine umfassende Studie zu seiner Person erschienen ist.165 Gemeinsam mit Dimitrij Filosofov, einem später anerkannten Publizisten und Kritiker, und Val’ter Nuvel’, dem bald gefeierten Autor und Musikkenner, gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Nevskij Pickwickians166 – einer Vereinigung russischer Künstler, Literaten, Musiker und Intellektueller, die seit circa 1889 meist in privatem Rahmen regelmäßig zusammentrafen, um über aktuelle Tendenzen der russischen Kunst und Kultur zu diskutieren. Dabei wurden neueste Publikationen besprochen, kleinere Lesungen abgehalten oder private Konzertabende organisiert. Auch in ihrem selbst gewählten Schattendasein entwickelte diese Gruppe eine große Anziehungskraft, sodass rasch namhafte Sankt Petersburger Kulturpersönlichkeiten zu ihr stießen, unter ihnen der Musikkenner Alfred Pavlovič Nurok, der sich später auch als Konzertorganisator einen Namen machen sollte,167 und die bildenden Künstler Konstantin Andreevič Somov und Lev Samojlovič Bakst.168 Die Pickwickians stammten allesamt aus gut situierten, meist aristokratischen, einflussreichen Familien, verfügten über klassische Bildung, ein reges Interesse an Kunst, Musik, Literatur und Theater169 sowie eine kritische Einstellung gegenüber den zeitgenössischen Entwicklungen der russischen Kunst.
Im Russland des 19. Jahrhunderts wurden Kunst und Kultur vor allem durch die 1757 von Katharina der Großen gegründete kaiserliche Akademie Sankt Petersburgs bestimmt. Diese halb höfisch, halb bürokratisch organisierte Einrichtung vertrat zu dieser Zeit Ideen und Maßstäbe des Klassizismus – einer Strömung, in der die historisierte Nachahmung des klassischen Altertums im Mittelpunkt stand.170 In ganz Europa übte die Industrialisierung einen großen Einfluss auf die Denkweise der Menschen aus – so auch im Hinblick auf Kunst und Kultur.171 Vielleicht gerade durch die raschen Veränderungen hin zu Schnelllebigkeit und Anonymität wurde der Begriff des ‚Nationalen Charakters‘ im Europa des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen ästhetischen Wert.172 Auch in Russland steigerte der zunehmende Traditionsverlust die Sensibilität für die eigene Volkskultur. Die historisierten Formen der in Russland vorherrschenden Akademiekunst konnten diese Sehnsucht nicht erfüllen, sodass viele Russen deren Absichten infrage stellten. Als eine der ersten Anti-Akademie-Bewegungen gelten die Peredvižniki (Wanderer)173. Sie begriffen sich als eine antiakademische, fortschrittliche Bewegung, die sich für eine Kunst für das Volk einsetzte. Im Gegensatz zu den hochstilisierten Formen des Klassizismus versuchten sie das reale Leben in seiner Einzigartigkeit und Schönheit abzubilden und fanden ihre Motive häufig im alten russischen Bauern- bzw. Brauchtum. In ihren zahlreichen Wanderausstellungen – daher auch der Name – stilisierten sie den russischen Bauern in seiner Einfachheit und Rohheit zum neuen Helden. Das von den Peredvižniki favorisierte Kunstwerk verwies dabei stets auf einen soziopolitischen Kontext, an dem durch das Kunstwerk Kritik geübt werden sollte.174 Obwohl die Peredvižniki sich also als eine antiakademische Bewegung begriffen, wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts kritische Stimmen laut, die sich an ihrem soziopolitisch geprägten Realismus störten. Die Kritiker beanstandeten dabei vor allem das Fehlen von Individualität, Unabhängigkeit und psychologischer Tiefe.175
In diesem Kontext muss auch die Kritik der Nevskij Pickwickians verortet werden. Diese wandte sich neben dem in Russland vorherrschenden konservativen Akademismus unter anderem auch gegen den soziopolitisch geprägten Realismus der Peredvižniki,176 da die Pickwickier die(se) russische Kunst gegenüber den progressiven Strömungen der westeuropäischen Kunstszene immer weiter zurückfallen sahen. Sie forderten daher eine Rückbesinnung auf die Ästhetik des l’art pour l’art und eine Kunst, die in der russischen Tradition wurzelt. Sie verlangten die unbedingte Freiheit der Kunst, verneinten jegliche Zweckeinbindung des Kunstwerks und sahen allein in der künstlerischen Persönlichkeit den einzig relevanten Kulminationspunkt. Nur: Die Überlegungen der Gruppe blieben zunächst ungehört und hatten keinerlei Auswirkungen auf das kulturelle Leben Sankt Petersburgs wie Russlands. Das sollte sich (erst) ändern, als Sergej Djagilev zu den Nevskij Pickwickians stieß.177
Der aus der Provinz stammende Jurastudent, der in Kunst und Literatur zunächst nur wenig bewandert war, entwickelte in diesem kreativen und intellektuellen Sankt Petersburger Umfeld neben seiner Leidenschaft für die Musik178 sehr bald großes Interesse für die bildenden Künste. Durch zahlreiche Diskussionen über zeitgenössische Kunst, aber auch durch umfangreiche Reisen in die großen Kulturzentren Europas eignete er sich immer umfassendere Kenntnisse der europäischen Kunstgeschichte an und erkannte bald, dass seine Begabung weniger im Künstlerischen als vielmehr in der Vermittlung und Vermarktung desselbigen lag. Diese Erkenntnis – kombiniert mit seinem professionellen Auftreten, seiner Redegewandtheit und fesselnden Art – ermöglichte es ihm, Mäzene von seinen Vorhaben zu überzeugen und sie für die zeitgenössische Kunst zu begeistern.179 Um die auf Benua zurückgehenden Ideen der Pickwickier einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen, veröffentlichte Djagilev beispielsweise ab 1896 eine Serie von Ausstellungsrezensionen in der Sankt Petersburger Tageszeitung Novosti i Birževaja Gazeta (1880–1906), in denen er die Gruppenideale gekonnt platzierte.180 Zum nächsten Ziel machte er sich die Institutionalisierung der bislang lose zusammenhängenden Interessengemeinschaft. Gemeinsam mit Benua gründete er hierfür die Mir Iskusstva (Welt der Kunst), die zunächst als Ausstellungsvereinigung (1899–1906) fungierte, sich aber in kürzester Zeit zu einer ernst zu nehmenden avantgardistischen Kunstbewegung entfaltete.181 Mit der Gründung einer gleichnamigen Zeitschrift (1898–1904) verschaffte Djagilev der Gruppe endgültig ein effektives Sprachrohr. Angelehnt an die Ideale der Bewegung, zielte die Zeitschrift einerseits auf die Vermittlung von zeitgenössischen westeuropäischen Kunstströmungen an das russische Publikum, strebte aber andererseits auch danach, eine eigene Charakteristik in der russischen Kunst zu etablieren. Neben Informationen zur aktuellen Situation der russischen Kunst enthielt sie daher regelmäßig Artikel, die auf Kunstwerke und -strömungen aus dem westeuropäischen Ausland aufmerksam machten – und zwar auf jene, die die Miriskusniki als kunst- und kulturgeschichtlich besonders wertvoll erachteten.182 Die geforderte russische Charakteristik sahen die Miriskusniki am ehesten in den Arbeiten des Moskoviter Abramcevo-Kreises bzw. in jenen der Künstlerkolonie Talaškino verwirklicht.183
1.2 Savva Mamontov, die Künstlerkolonie Abramcevo und die Moskauer Private Oper
Der russische Industrielle und Kunstmäzen Savva Mamontov sowie seine in Abramcevo ansässige Künstlerkolonie prägten die ästhetischen Vorstellungen der Mir Iskusstva entscheidend – vor allem was das Gesamtkunstwerksideal der daraus hervorgegangenen Ballets Russes betrifft. Es lohnt daher, Mamontovs Rolle als Djagilev-Mentor und Mir Iskusstva-Mäzen zu betrachten, um davon ausgehend den Einfluss der von ihm produzierten und auf Visualität fokussierten Opern auf die ästhetischen Vorstellungen der Ballets Russes zu skizzieren.184
Mamontov hegte eine große Leidenschaft für zeitgenössische Kunst, Oper und Theater. Seinen Reichtum hatte er dem Eisenbahnbau zu verdanken.185 Im Gegensatz zu anderen Mäzenen seiner Zeit war er aber als ausgebildeter Sänger immer auch selbst künstlerisch tätig.186 Wohl um sein schöpferisches Engagement mit seinem ausgeprägten Mäzenatentum zu verbinden, erwarb er 1870 den ehemaligen Landsitz des russischen Schriftstellers Sergeij Aksakov in Abramcevo – einem kleinen Dorf im Oblast’ Moskau nahe der heutigen Stadt Sergiev Posad –, um dort eine Kolonie für zeitgenössische Kunst zu gründen.187 Die ersten Künstler des Abramcevo-Kreises gehörten den Peredvižniki an und vertraten also die Überzeugung, dass eine genuin russische Kunst von Folklore und traditionellem Handwerk inspiriert sein müsste. Während sich die Peredvižniki – wie erwähnt – meist auf das russische Bauerntum bezogen, um auf soziale und politische Missstände aufmerksam zu machen, zogen Mamontovs Künstler ihre Inspiration vielmehr aus Farben- und Formvielfalt ursprünglicher Gebrauchsgegenstände und ließen sich parallel auch von modernen westlichen Strömungen wie dem französischen Impressionismus oder Symbolismus inspirieren.188 Dieser neorussische Stil schlug sich zunächst in der Architektur, dann aber auch in bildender Kunst und Bühnengestaltung nieder. Durch zahlreiche Werkstätten und Ausstellungen sowie die Einrichtung eines Museums für Volkskunst leistete Mamontov mit seiner Kolonie ferner einen großen Beitrag zum allgemeinen Interesse an Volkskultur in Russland. Immer mehr Künstler ließen sich von den Arbeiten des Mamontov-Zirkels beeinflussen, und bald etablierte sich Abramcevo zu einem Zentrum für moderne russische Kunst.189
Mamontov vertrat die Überzeugung, dass die höchste künstlerische Ausdrucksform nur in der Synthese aller Kunstformen – bildender Kunst, Schauspiel und Musik – erzielt werden könne und suchte daher nach einer neuen Form der Oper, bei der Ohr und Auge des Rezipienten während der Aufführung zu gleichen Teilen angesprochen würden.190 Von Anfang an räumte er deshalb seinen Künstlern die Möglichkeit ein, sich in hauseigenen Theater- und Opernproduktionen auszuprobieren. Seine bildenden Künstler hatten so die Chance, mit Bühnengestaltung, Kostüm und Beleuchtung, aber auch Gesang, Schauspiel, Tanz oder Klavierspiel zu experimentieren und sich darin zugleich praktisch zu üben. Dies stellte insofern eine Besonderheit dar, als an den Akademien das Fach Bühnengestaltung meist nur theoretisch und auch insgesamt lediglich wenige Semester lang unterrichtet wurde.191 Nachdem 1882 das staatliche Monopol auf das Theater aufgehoben wurde, entschloss sich Mamontov 1885 dazu, seine Theatertätigkeit zu professionalisieren, und gründete die erste private Oper Russlands.192 Auch zu seinem Theaterkreis gehörten herausragende Persönlichkeiten des künstlerischen Lebens: So trat bei ihm beispielsweise regelmäßig der später weltberühmte russische Opernsänger Fëdor Šaljapin auf, und auch der später international anerkannte Regisseur und Theaterreformer Konstantin Stanislavskij ging bei ihm ein und aus.193 Auf Bühnenbild und Ausstattung der Werke legte Mamontov immer besonderen Wert, sodass ihm Kritiker häufig vorwarfen, die Musik zugunsten der Inszenierung zu vernachlässigen.194
Das erste Treffen von Mamontov und Djagilev fand höchstwahrscheinlich im Herbst 1897 statt, als Letzterer im Begriff war, seine erste Mir Iskusstva-Ausstellung in Moskau vorzubereiten.195 Olga Haldey vermutet sogar eine daran anschließende intensive Mentor-Schüler-Beziehung zwischen Mamontov und Djagilev.196 Spätestens als Mamontovs Oper im Winter 1897/98 zum ersten Mal mit einer Boris Godunov-Produktion in Sankt Petersburg gastierte, müssen auch Benua und die anderen Mitglieder der Mir Iskusstva auf den Mamontov-Zirkel aufmerksam geworden sein.197 Im März 1898 unterzeichnete Mamontov dann den Herausgebervertrag der von Djagilev und Benua geplanten Zeitschrift Mir Iskusstva und investierte (gemeinsam mit der Fürstin Marija Teniševa) in das vielversprechende junge Unternehmen.198
2 Die ideale Kunstform Ballett
2.1 Benuas Einfluss auf die Ballets-Russes-Ästhetik
Es wurde deutlich, dass Mir Iskusstva- und Mamontov-Ästhetik als die Haupteinflussfaktoren des künstlerischen Ideals der Ballets Russes gelten, für das Taruskin den Ausdruck „neonationalist ‚Gesamtkunstwerk‘“199 prägte: Die Miriskusniki strebten nach einem antiliterarischen Musiktheater, da gemäß ihren ästhetischen Prämissen das Wort per se zweckgebunden war und somit in einem Kunstwerk, das der Ästhetik des l’art pour l’art gerecht werden wollte, nicht verwendet werden durfte. Die beteiligten Kunstformen sollten dabei gleichberechtigt nebeneinanderstehen und das verwendete Sujet in der russischen Kultur fußen.
In den Mamontov-Produktionen sahen Djagilev und Benua erstmals genau jene Einheit von Nationalcharakter und Moderne verwirklicht. Die hervorstechende Farbenvielfalt und detailgetreue Ausarbeitung der Kostüme und Bühnenbilder stellte für sie einen ersten Ansatz dar, den sie in ihrem Sinne weiter ausbauen wollten.200 Vor allem der musikalische Aspekt der Mamontov-Produktionen entsprach noch nicht ganz ihren ästhetischen Überzeugungen. Von den Komponisten des Balakirev-Kreises – Aleksandr Borodin, Cezar’ Kjui, Milij Balakirev, Modest Musorgskij und Nikolaj Rimskij- Korsakov –, die vermehrt in Mamontovs Oper gespielt wurden, hielten sie wenig, da sie deren kompositorische Arbeit mit den Werken der Peredvižniki- Künstler gleichsetzten. Jene Tonsetzer verarbeiteten russisches Volksliedrepertoire, um ihren Kompositionen nationalen Charakter zu verleihen. Dabei sahen sie jenes Material nicht als Kunst, sondern verstanden es als barbarisch und konventionell – sie waren davon überzeugt, dass die Schönheit der Melodien nur durch deren Einbindung in bestehende, westliche Kunstformen zur Geltung kommen könnte, und nutzten das ursprüngliche Liedmaterial ausschließlich stilisiert, als motivisch-thematisches Material.201
Wie schon erwähnt, wird Benua als die treibende Kraft dafür gesehen, dass der Mir Iskusstva-Kreis sich mit der Kunstform des Balletts zu beschäftigen begann. So suggerieren beispielsweise musikwissenschaftliche Studien, dass Djagilev bis zuletzt nicht von Benuas Auffassung überzeugt gewesen sei, im Ballett statt in der Oper das Mir Iskusstva-Ideal zu sehen. Die Tatsache, dass Djagilev in Paris zunächst vor allem Opern produzierte und auf das Ballett in Gänze erst dann zurückgriff, als ihm die Gelder für eine zweite geplante Opernsaison ausgingen, wird meist dahingehend gedeutet, dass er – anders als Benua – nicht das Ballett, sondern die Oper präferierte.202 Schließlich ist in Djagilevs Neuinszenierung von Modest Musorgskijs Boris Godunov in Paris 1908 die von den Miriskusniki bevorzugte Verbindung von Mir Iskusstva- und Mamontov-Ästhetik auch deutlich zu erkennen: Die von Rimskij-Korsakov neu bearbeitete Fassung jener Oper lenkte die Aufmerksamkeit ganz bewusst verstärkt auf visuelle und szenische Aspekte – auf Literatur und Sprache fokussierte Teile wurden gekürzt, virtuose Gesangspartien sogar gestrichen, und insgesamt beschäftigte Djagilev fünf bildende Künstler für Bühnenbild und Kostüme.203
Wann genau Djagilev sich entschied, in Paris Ballette zu zeigen, wird wohl nicht endgültig herauszufinden sein. Ob Ballett eine mögliche Kunstform sei, mit der sich das geforderte Ideal verwirklichen ließe, diskutierte der Mir Iskusstva-Kreis allerdings schon Ende des 19. Jahrhunderts.204 Als der russische Musik- und Theaterpädagoge Sergej Volkonskij 1899 zum Intendanten der kaiserlichen Theater in Sankt Petersburg (Mariinskij-Theater) und Moskau (Bol’šoi-Theater) ernannt wurde, erhielten einige Künstler jenes Kreises die Möglichkeit, bei Produktionen und anderen Tätigkeiten des renommierten Sankt Petersburger Hauses mitzuwirken – so auch Djagilev und Benua.205 In dieser Zeit starteten beide dort ihren ersten Versuch, gemeinsam ein Ballett zu verwirklichen.206 (Djagilev plante sogar, zusammen mit dem Tanzkritiker Valerian Svetlov eine Ballettgesellschaft zu gründen, um die verschmähte Kunstform Ballett beliebter zu machen.207) Benua erhielt erst 1907 die Chance, sein bereits um 1895 entworfenes Ballett Le Pavillon d’Armide in enger Zusammenarbeit mit Michail Fokin (Choreografie) und Nikolaj Čerepnin (Musik) auf der Mariinskij-Bühne, ganz wie es das Mir Iskusstva-Ideal verlangte, zu inszenieren, und seinen Erinnerungen zufolge reagierte Djagilev auf die Produktion mit den Worten: „This must be shown in Europe.“208
2.2 Die missglückte erste Realisierung: Stravinskijs L’Oiseau de feu
Taruskin benennt Stravinskijs L’Oiseau de feu als das erste „neonationalist ‚Gesamtkunstwerk‘“ der Ballets Russes – seiner Ansicht nach war es genau das, was die Kompanie mit diesem Ballett umzusetzen gedachte.209 Es war das erste Ballett, dessen Produktion sie selbst in Auftrag gegeben hatte und das in der ersten offiziellen Ballets-Russes-Saison 1910 in Paris uraufgeführt wurde.210
Für Stravinskij handelte es sich dabei erst einmal um ein Auftragswerk: Er sollte die Musik zum bereits von Djagilev und Fokin ausgearbeiteten Szenario schreiben. Um dem geforderten russischen Charakter Rechnung zu tragen, hatten die beiden eine Handlung gewählt, die auf verschiedenen russischen Erzählungen basiert.211 Für Bühnenbild und Ausstattung engagierte Djagilev die beiden früheren Mir Iskusstva- und Mamontov-Künstler Aleksandr Golovin und Lev Bakst. Obgleich L’Oiseau de feu für Djagilev und seine Mitarbeiter einen phänomenalen Erfolg darstellte und Stravinskij zu internationaler Aufmerksamkeit verhalf, äußerte sich Benua dazu einen Monat später in der Sankt Petersburger Tageszeitung Reč’ eher kritisch:
Если в чем другом ‚Жар-птица‘ еще не вполне то, о чем мечталось, то по своей музыке - эта уже сразу достигнутое совершенство.212
Wenn der ‚Feuervogel‘ auch noch nicht in allen Aspekten ist, wovon wir träumten, auf dem Gebiet der Musik ist Perfektion erreicht.
Benua machte somit öffentlich darauf aufmerksam, dass die Ballets Russes mit L’Oiseau de feu noch nicht annähernd das erreicht hatten, was sie sich vorgenommen hatten – mit Ausnahme des musikalischen Niveaus, dank des neuen Mitarbeiters Stravinskij.
Es war Stravinskij, der sich der Herausforderung stellte, nicht nur musikalisch, sondern vor allem durch seine szenischen Angaben und Anweisungen das Ideal der Ballets Russes in seiner Gänze zu verwirklichen. Noch während seiner Arbeit an L’Oiseau de feu machte er sich daher an ein neues, sein erstes eigenständiges Ballett: Le Sacre du printemps.213 Vor dem Hintergrund der „neonationalist“ Ästhetik des ehemaligen Mir Iskusstva-Zirkels, mit der Stravinskij 1909 konfrontiert wurde, leuchtet Taruskins Erklärung dafür ein, warum Stravinskij hierfür ein Sujet aus dem „heidnischen Russland“214 wählte: Er wollte dem geforderten nationalen Charakter gerecht werden. Für die verpflichtende russische Charakteristik oder – wie Taruskin sie nennt – „archeological authenticity“215 des Werkes bemühte er sich zunächst um eine Zusammenarbeit mit dem Maler und Archäologen Nikolaj Rerich.216 Dieser überblickte nämlich die im 19. Jahrhundert entstandenen Sammlungen archaisch gedachter Riten, Bräuche und Volksgesänge wie kein Zweiter und war zudem ein geschätzter Künstler und langjähriger Freund der Miriskusniki.217 Die Musikwissenschaft hat hinlänglich darauf hingewiesen, dass Stravinskij zahlreiche russische Volksmelodien in seinem Sacre verarbeitete und gezeigt, mit welcher Detailtreue er diese ausgewählt hatte.218 Die geforderte Gleichberechtigung der Kunstsparten brachte ihn und Rerich dazu, Tanz, Bühnenbild und Kostüm noch vor dem eigentlichen Kompositionsprozess konzeptionell zusammenzudenken: Die von den beiden dem Szenario zugrunde gelegten Bräuche weisen große Ähnlichkeiten zum slawischen Frühlings- und Fruchtbarkeitsfest Semik auf, bei dem traditionell Chorovody gesungen wurden.219 Die Chorovody zeichnen sich wiederum vor allem dadurch aus, dass sie in ihrem historischen Gebrauch stets in Verbindung mit Tanz aufgeführt wurden.220 Neben der Verortung des Sujets in der russischen Kultur scheinen sich Stravinskij und Rerich also sogar um ein Vorbild für die geforderte Gleichberechtigung der Kunstsparten bemüht zu haben.221
Als Darstellungsform wählte Stravinskij das Ballett – genau die Kunstform also, der Benua seinen zukunftsweisenden Essay gewidmet hatte. Dieser Text und der Band, in dem er veröffentlicht worden ist, lassen nun aber einen Zusammenhang zwischen ihnen und der Theaterreform um 1900 vermuten.222 Und so wäre es durchaus möglich, dass das Gesamtkunstwerksideal der Ballets Russes, das mitunter auf dieses Schriftstück zurückgeführt wird, von den in ganz Europa virulenten Überlegungen zur Reform des Theaterwesens beeinflusst war.
3 Benua, Mamontov und die Theaterreform
3.1 Benuas Essay „Beseda o balete“ und die Rolle des Tanzes für die Theaterreform
Wie schon erwähnt, erschien Benuas „Beseda o balete“ 1908 in der Aufsatzsammlung Teatr. Kniga o novom teatre, die sich – wie der Titel nahelegt – dem „neuen Theater“ Russlands widmete. Zehn Autoren veröffentlichten in dem Sammelband Texte, die sich aus unterschiedlichsten Perspektiven mit dem vorgeschriebenen Thema beschäftigen – darunter unter anderem der nachrevolutionäre Kulturpolitiker und Volkskommissar für Bildungswesen Anatolij Lunačarskij, der Regisseur, Schauspieler und Theaterreformer Vsevolod Mejerchol’d sowie die Symbolisten Fëdor Sologub, Valerij Brjusov und Andrej Belyj.223
Diese Autoren waren Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihren Überlegungen zu einer Reform des Theaterwesens nicht alleine. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstanden vor allem im deutschsprachigen Raum zahlreiche Programmschriften, Manifeste und Reformvorschläge zum Theater – die Sammlung dieser Texte setzt mit der deutschen Reichsgründung 1871 ein und endet um 1920.224 Einen Höhepunkt erreichte die Bewegung im deutschsprachigen Raum mit den theoretischen Schriften und Theaterprojekten des deutschen Kultur- und Literaturessayisten Georg Fuchs, des österreichischen Regisseurs Max Reinhardt sowie des englischen Schauspielers, Regisseurs, Bühnenbildners und Autors Edward Gordon Craig. Ein wichtiger Punkt, der alle diese Schriften einte, war die Abkehr vom Illusionismus der naturalistischen Guckkastenbühne und die damit einhergehende Forderung nach einem Theater, das sich von den Fesseln der Literatur befreien sollte. Diese Forderung manifestierte sich unter anderem in der verstärkten Hinwendung zur Inszenierung und in einer aufgewerteten Stellung des Regisseurs.225 Auch wenn verglichen zum deutschsprachigen Raum im europäischen Ausland sowie in Moskau und Sankt Petersburg nur wenige solcher Texte entstanden, wird die Theaterreform um 1900 als ein paneuropäisches Phänomen gesehen.226 Die zunehmende Mobilität durch den Ausbau von Zugverbindungen oder telegrafischen Kommunikationsmitteln führte dazu, dass Ideen und Inszenierungen der unterschiedlichen Protagonisten schneller verbreitet werden konnten. Und so finden sich vergleichbare Texte zeitgleich in England (London), Frankreich (Paris), Russland (Moskau) und der Schweiz.
Es wurde aufgezeigt, dass Benuas „Beseda o balete“ bzw. seine dort formulierten theoretischen Überlegungen zum Ballett bislang ausschließlich mit dem „neonationalist ‚Gesamtkunstwerk[s]‘“-Ideal der Ballets Russes in Verbindung gebracht und deshalb hinsichtlich ihrer Bezüge zu Mir Iskusstva- und Mamontov-Ästhetik interpretiert werden. Dass noch nie darauf verwiesen worden ist, dass der Text in einem Sammelband steht, der als russischer Beitrag einer gesamteuropäischen Theaterreformbewegung gesehen werden muss, verwundert umso mehr, da Benua die Protagonisten seines fiktiven Gesprächs zu Beginn explizit darauf hinweisen lässt, dass die hier dargelegten Ausführungen zur Zukunft des Balletts im Kontext der zeitgenössischen Überlegungen zur Zukunft des Theaters entstanden:227
Балетоман: Я рад, что вижу Вас сегодня. Я слышал, что Вы пишете статью о театре для сборника, целиком посвященного будущему театру. Не коснетесь ли Вы и балета?
Художник: Я не только ‚коснусь‘ балета, но я всю статью собираюсь посвятить ему. Правда, это несколько суживает поставленную сборником задачу, и я, прямо, сомневаюсь, подойдет ли моя специальная статья ко всему изданию. Но я все же задумал написать статью исключительно о балете, будучи уверен в том, что мои товарищи по сборнику зададутся одной только драмой.
Балетоман: Позвольте, насколько я знаю отношение Ваших ‚новых людей‘ к театру – они едва ли вообще пожелают сохранить наши деления на специальности, так что Ваша специальная статья будет идти в разрез с прочим уже потому, что Вы держитесь ‚установленного репертуара‘, тогда как они, вероятно, захотят вводить новые зрелища, в которых все разделения драматического искусства сольются воедино. Вы напрасно думаете, что они будут говорить о драме; они будут говорить о Gesamtkunstwerk’e. Я в этом уверен.
Художник: Очень возможно. Но в таком случае они будут говорить о далеком будущем, а я о ближайшем … Или нет. Дело, разумеется, не в названиях. Скажем, что слово ‚балет‘ прямо как-то не годится для разговоров о будущем. Он слишком характерен для известного периода культуры и как-то неуместен в другом периоде. Но это только касается самого слова. Что же касается сути, то суть балета вечная и именно, если подразумевать под ‚балетом‘ не одно искусство танцев, но целую драматическую отрасль и целое драматическое настроение. Я же буду настаивать на том, что и все прочие отрасли вечны, как таковые. Что значит театр будущего? Один род зрелища или множество разнородных зрелищ? Пусть Бог будет один, но пусть он является под разными видами. Если мне скажут, что он может явиться в одном и том же зрелище под разными видами, то я буду утверждать, что каждое такое его явление будет менее ярко, нежели, если посвятить явлению целое зрелище. ‚Пантомима‘ в Фенелле, ‚балет‘ в Тангейзере, ‚комедия‘ или ‚драма‘, прерывающие всякую Opera Comique, ‚опера‘ в мелодраме – все это слишком убедительно говорит против ‚смешения стилей‘. Вводить рельеф в картину, вводить музыку в чтение! живопись в скульптуру, уделять скульптуре слишком значительное место в архитектурном памятнике, все это такие промахи против ‚хорошего вкуса‘, которые коробят эстетическое чувство.228
Ballettliebhaber: Ich bin froh, Sie heute anzutreffen. Ich habe gehört, dass Sie für einen Sammelband einen Artikel über das Theater schreiben, der sich vollständig der Zukunft des Theaters widmet. Werden Sie im Zuge dessen in einigen Worten das Ballett anreißen?
Künstler: Ich werde das Ballett darin nicht bloß anreißen, sondern gedenke, dieser Thematik den ganzen Artikel zu widmen. Zugegebenermaßen schränkt solch eine Entscheidung die vom Sammelband gestellte Aufgabe etwas ein, und ich zweifle regelrecht daran, ob mein Ansatz eines solch spezifischen Artikels sich überhaupt für die (gesamte) Publikation eignet. Dennoch habe ich beschlossen, einen Artikel ausschließlich über das Ballett zu schreiben, da ich davon überzeugt bin, dass meine Kollegen sich im Sammelband einzig und allein mit dem Drama beschäftigen werden.
Ballettliebhaber: Gestatten Sie, doch so weit mir das Verhältnis Ihrer ‚neuen Leute‘ [die Reformer] zum Theater bekannt ist, werden diese sich kaum wünschen, unsere Art der Unterteilung in Fachbereiche beizubehalten. Ihr spezifischer Artikel wird allein deshalb gegen den Wind segeln, da Sie auf ‚das etablierte Repertoire‘ setzen, während sie [die Kollegen aus dem Sammelband] wahrscheinlich neue Spektakel einführen wollen, in denen alle Abteilungen der dramatischen Kunst miteinander verschmelzen werden. Sie irren sich, zu glauben, dass sie [die Kollegen] über das Drama reden werden; sie werden von einem Gesamtkunstwerk sprechen. Davon bin ich überzeugt.
Künstler: Gut möglich. Aber in solch einem Fall werden sie über eine ferne Zukunft sprechen und ich über die unmittelbare … oder auch nicht. Es geht hier gewiss nicht um Bezeichnungen. Sagen wir es so: Der Begriff ‚Ballett‘ eignet sich irgendwie nicht für Gespräche, die die Zukunft betreffen. Dieser ist äußerst charakteristisch für eine berühmte kulturelle Epoche und wirkt deshalb in einer anderen Epoche irgendwie fehl am Platz. Dies betrifft jedoch lediglich den Begriff. Was das Wesen angeht, so ist das Wesen des Balletts ein Ewiges, vorausgesetzt, man versteht unter ‚Ballett‘ nicht nur eine Kunst der Tänze, sondern eine gesamte Abzweigung des Dramas und eine ganze Stimmung des Dramas. Ich werde darauf bestehen, dass auch alle übrigen Zweige als solche ewig sind. Was heißt ‚Theater der Zukunft‘? Eine bestimmte Art der Aufführung oder eine Mehrzahl vielfältiger Aufführungen? Selbst wenn es auch nur einen Gott geben mag, so wird er uns doch in vielen Formen erscheinen. Würde man behaupten, dass er in ein und demselben Spektakel unter verschiedenen Formen erscheinen kann, dann würde ich darauf bestehen, dass jede seiner Erscheinungen weniger ausdrucksstark sein würde, als wenn einer Erscheinung ein ganzes Spektakel gewidmet werden würde. ‚Die Pantomime‘ in Fenelle, ‚das Ballett‘ von Tannhäuser, ‚die Komödie‘ oder ‚die Dramen‘, die jede Opera Comique unterbrechen, ‚die Oper‘ im Melodrama – das alles spricht in sehr hohem Maße gegen ‚die Vermischung der Stile‘. Das Relief ins Bild einzuführen, die Musik in die Lektüre einzuführen; die Malerei in die Bildhauerei, der Bildhauerei die viel zu bedeutende Stelle im architektonischen Denkmal zu geben, all dies sind solch Gräueltaten am ‚guten Geschmack‘, die wie eine Beleidigung des ästhetischen Gefühls wirken.
Benua situiert sich mit seinem imaginären Gespräch ganz klar innerhalb des zeitgenössischen Diskurses zur Reform des Theaters – nicht nur nennt er gleich zu Anfang für den Reformdiskurs wichtige Schlüsselworte wie das „Gesamtkunstwerk“229 oder das „Theater der Zukunft“ (Teatr buduščego)230, er veröffentlichte den Essay auch in einer ausgewiesenen Reformschrift. Es scheint, als verteidige er mit diesem Text die Kunstform Ballett gegen Vorurteile, mit denen sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu kämpfen hatte: Als veraltet und zaristisch geltend, sah man in ihr keinerlei Potenzial für zeitgenössische Experimente.231 In diesem fiktiven Gespräch wird deutlich, dass Benua diese Ansicht nicht teilte. Seiner Meinung nach erfülle das Ballett (in einer neuen Form) sehr wohl alle Voraussetzungen dafür, sich zu derjenigen Kunstform zu entwickeln, nach der die Reformer suchten. Die Argumentation des Künstlers im erdachten Gespräch kann also gleichsam als Vorschlag Benuas an die Reformer interpretiert werden, das Ballett als bessere Alternative zu Oper und Drama zu wählen: als Theater der Zukunft.
3.2 Das Gesamtkunstwerk: Benuas Begriffsgebrauch und Mamontovs Ästhetik
Eine Woche vor Benuas L’Oiseau de feu-Rezension in der russischen Tageszeitung Reč’ stellt er einen direkten Bezug zwischen den (Ballett-)Produktionen der Ballets Russes und den ästhetischen Vorstellungen Richard Wagners her: In seiner Besprechung der Ballets-Russes-Saison von 1910 im selben Blatt berichtet er ja, dass Djagilev mit dem Ballett Schéhérazade, das am 14. Juni 1910 in der Opéra Garnier Premiere feierte, jenes „Gesamtkunstwerk“ realisiert habe, von dem Richard Wagner immer geträumt habe und von dem derzeit in Russland jeder künstlerisch begabte Mensch träumen würde.232 Auch anderswo findet sich in Benuas (sowohl russisch- als auch französischsprachigen) Schriften der deutsche Ausdruck Gesamtkunstwerk, der als solcher letztlich auch Eingang in die Ballets-Russes-Rezeption und -Forschungsliteratur fand.233
Dass die Vorstellung der Ballets Russes allerdings nicht auf Wagner zurückgeführt werden kann, ist schon mehrfach gezeigt worden – am nachhaltigsten von Taruskin und Haldey. Beide sprechen Benuas’ Wagner-Zitation entsprechend keine große Bedeutung zu. Taruskins Ansicht nach sei es „high time to stop ascribing to Wagner’s influence every turn-of-the-century manifestation of the tendency to mix artistic media or see union as their highest aim“234: Das Ballets Russes’sche Gesamtkunstwerk sei eben gerade nicht auf Wagner zu beziehen, sondern in der von Wagner unabhängigen russischen Kulturgeschichte zu verankern. Als „the prime Wagnerian text for the Mir Iskusstniki “ nennt Taruskin Henri Lichtenbergers Richard Wagner. Poète et penseur von 1898 – und beschreibt diesen als „a book that [is not a work of Wagner’s but] belongs, properly speaking, to the history of Symbolism“235. Haldey schließt sich Taruskin an. Zwar seien die Ballets-Russes-Mitglieder in ihrer selbsternannten Wagner-Nachfolge nicht ganz unehrlich gewesen; Benuas’ Begriffsgebrauch sei aber eher als eine Art Vermarktungsstrategie zu sehen, die mit den Erwartungen und Vorurteilen des Pariser Publikums gespielt habe.236
Taruskin und Haldey rekurrieren mit ihren Angaben auf zwei Gegebenheiten: Die von Haldey erwähnten Erwartungen und Vorurteile des Pariser Publikums sowie Taruskins Nennung des Lichtenberger-Textes verweisen auf das Phänomen des Wagnérisme, einem für die Musikgeschichte bislang einzigartigen Rezeptionsphänomen, das sich von 1860 bis 1914 erstreckte.237 Wagners musikalisches Werk und vor allem auch seine allgemeinen, als besonders innovativ und fortschrittlich geltenden Anschauungsweisen hatten nicht nur maßgeblichen Einfluss auf zeitgenössische Kunst und Künstler, sondern prägten – insbesondere in Frankreich – auch richtungsweisende Diskurse in Politik und Gesellschaft.238 Da die Idee des Gesamtkunstwerks in der Rezeption des ästhetischen Entwurfs Wagners meist überproportional stark hervortrat, wurde das Konzept der Synthese verschiedener Kunstformen zur Jahrhundertwende stets in direktem Bezug zu Werk und Wirken Wagners gesehen. Dass der Ursprung der Gesamtkunstwerksidee viel breiter und in der Zeit der Romantik verortet werden muss, spielte hierbei keine Rolle.239
Haldeys zweite Bemerkung, die Ballets-Russes-Mitglieder seien in ihrer selbst erklärten Wagner-Nachfolge nicht ganz unehrlich gewesen, verweist ferner auf die Wagner-Rezeption in Russland sowie auf etwaige Wagner-Beziehungen des Mir Iskusstva-Kreises: Ein dem französischen Wagnérisme vergleichbares Phänomen setzte in Russland erst sehr viel später ein. Bis Ende der 1880er-Jahre waren Wagners Opern auf russischen Bühnen eine Seltenheit, und über seine Musik sowie seine ästhetischen Vorstellungen wurde lediglich in Fachkreisen diskutiert.240 Erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts kann von einem beginnenden „Russian Wagnerism“241 gesprochen werden, und Benua und Djagilev waren an diesem verspäteten Phänomen nicht ganz unbeteiligt: Ihre Kunstzeitschrift Mir Iskusstva war es, die 1899 als erste nicht musikalische russischsprachige Zeitung über Wagner berichtete. In der August- und Oktoberausgabe veröffentlichten sie Auszüge aus der von Taruskin im Symbolismus lokalisierten und 1898 in Paris erschienenen Lichtenberger-Schrift Richard Wagner. Poète et penseur in russischer Übersetzung.
Unter Berücksichtigung der Ausführungen in Kapitel II.3.1. zu Benua sowie seines Ballettessays im Reformsammelband und der eben dargelegten Erkenntnisse von Taruskin und Haldey liegt die Vermutung nahe, dass Benuas Verwendung des deutschsprachigen Ausdrucks Gesamtkunstwerk ebenfalls auf seine Beschäftigung mit der Theaterreformbewegung zurückgeführt werden muss: Die Vertreter dieser Bewegung können sowohl mit dem Phänomen des Wagnérisme als auch mit dem Symbolismus in Verbindung gebracht werden. Doch weder Taruskin noch Haldey berücksichtigen die Reformbewegung in ihren Überlegungen.242 In Anlehnung an Taruskin bekräftigt Haldey also noch einmal, dass das Gesamtkunstwerksideal der Ballets Russes nicht auf Wagner, sondern auf Einfluss und Wirken Savva Mamontovs zurückzuführen sei. Bezüglich der Theaterreformverbindungen erweist sich allerdings als besonders interessant, worauf Haldey dann anschließend hinweist: Ihrer Ansicht nach würde Taruskins Verortung von Mamontovs Tätigkeit als „neonationalist“ zu kurz greifen. Sie macht darauf aufmerksam, dass Mamontov, wenn er überhaupt zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wurde, fälschlicherweise immer sehr einseitig dargestellt worden sei: entweder als Verfechter eines Realismus auf der Bühne (so größtenteils in der russischsprachigen Literatur) oder als Nationalist (wie in der von Stuart Grover 1971 verfassten und bis 2010 einzigen nicht russischsprachigen Mamontov-Monografie).243 In der Folge thematisiert Haldey Taruskins Ausführungen zu Mamontov wie folgt: Taruskin habe Mamontov für die russische Musikgeschichtsschreibung erstmals einen wichtigen Platz eingeräumt – sowohl durch seine neue Interpretation und Einordnung von Mamontovs Wirken in den Kontext der „neonationalist“ Kunstbewegung (in Abgrenzung zu einer rein nationalistischen Interpretation), aber vor allem auch durch die detaillierte Darstellung von dessen künstlerischer Tätigkeit im Bereich der Oper (Mamontovs prägenden Einfluss auf russische Oper und Theater hält Haldey in den anderen Mamontov-Studien für unterrepräsentiert). Taruskins Interpretationen allerdings – und das mahnt sie explizit an – würden sich größtenteils auf die faktischen Resultate des Historikers Stuart Grover stützen, der Mamontov ganz klar als Nationalisten darstelle. Diese einseitige Darstellung aber würde der komplexen künstlerischen Figur Mamontov nicht gerecht.244 Auf der Grundlage von Grovers Studie würde Taruskin Mamontovs Errungenschaften und Visionen auf zwei Komponenten reduzieren: Einerseits auf nur eine einzige Kunstform, nämlich die der Bühnengestaltung, und andererseits auf eine einzige ästhetische Qualität, nämlich die des „neonationalism“.245 In ihrer Monografie präsentiert Haldey Mamontov dann tatsächlich als eine weit vielschichtigere Figur und seine künstlerischen Aktivitäten und Verbindungen als weit vielfältiger, als dies bis dato geschehen ist. Dabei schlägt sie sich bewusst nicht auf die Seite einer der zuvor dargelegten Charakterisierungen seiner Person, sondern zeigt auf, dass sowohl nationalistische, realistische als auch „neonationalist“ Interpretationen ihre Berechtigung haben. Die jeweils zu einseitigen Herangehensweisen vorheriger Mamontov-Forscher würden allerdings zu einer stark vereinfachten Darstellung eines komplizierten und manchmal sogar widersprüchlichen Beziehungsgeflechts neigen.
Neben Mamontovs prägendem Einfluss auf Djagilev, die Mir Iskusstva und das Gesamtkunstwerksideal der Ballets Russes, der ja bereits von Taruskin ausführlich dargestellt wurde, kann Haldey zeigen, dass Mamontov ferner die russischen Theaterschaffenden Konstantin Stanislavskij (den späteren Gründer des Moskovskij Chudožestvennyj teatr [Moskauer Künstlertheaters]) und Vsevolod Mejerchol’d beeinflusste.246 Sie wies erstmals ausführlich darauf hin, dass einige produktionsästhetische und -technische Belange der Mamontov-Opern Ähnlichkeiten mit solchen der Meininger-Inszenierungen aufweisen, und zeigt sogar, dass Mamontov sich in einigen Aspekten von ihnen beeinflussen ließ.247 Im Zuge groß angelegter Europatourneen war das Schauspielensemble des Meininger Hoftheaters Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt zweimal im Russischen Kaiserreich zu sehen – vom 22. Februar bis 3. Mai 1885 und vom 2. März bis zum 1. Juli 1890 jeweils in Sankt Petersburg, Moskau, Kiev und Odessa.248 Mamontov soll in beiden Jahren die Vorstellungen des berühmten Ensembles besucht haben.249
Bislang galt Konstantin Stanislavskij (mit seinem Moskovskij Chudožestvennyj teatr) als erster russischer Theaterschaffender, der sich mit den Reformprinzipien der Meininger auseinandersetzte und sich auch intensiv von ihnen beeinflussen ließ.250 Und Stanislavskij ist es wiederum, dem gemeinhin ein richtungsweisender Einfluss auf den russischen Schauspieler und Regisseur Vsevolod Mejerchol’d zugeschrieben wird. Vor allem im Hinblick auf das Konzept des Regietheaters, mit dem sich Mamontov angeregt durch die Meininger zu beschäftigen begann, soll er als Vorbild für Stanislavskij und dessen (damaligen) Schüler Mejerchol’d fungiert haben. Stanislavskij habe Mamontovs Ansätze mit seinem Moskauer Künstlertheater weitergeführt, und Mejerchol’d habe seine beiden Vorbilder in dieser Hinsicht dann weit übertroffen.251
Die Meininger Inszenierungen gelten als frühe und bedeutende Beispiele dafür, wie sich allmählich die Funktion und Bedeutung des Optischen im Theater veränderte. Einer ihrer wichtigen Grundsätze war die detailgetreue Darstellung des vom Dramenautor vorgegebenen Szenarios, und so wurde sehr viel Wert auf Bühnenbild und Ausstattung gelegt. Das deutsche Theater begriff sich seit der Aufklärung mehr als auditive denn visuelle Kunstform und maß dem gesprochenen Wort der Dichtung einen weit höheren Stellenwert zu als der Inszenierung. Literarisch orientierte Kritiker fürchteten daher, dass das Theater durch eine derart betonte Visualität, wie sie bei den Meiningern praktiziert wurde, an inhaltlicher Substanz verlieren könnte, und entfachten so eine lang anhaltende Debatte über die Bedeutung des Optischen im Theater. Dieser Disput erreichte seinen Höhepunkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die theoretischen Schriften und praktischen (Theater-)Arbeiten von Max Reinhardt, Georg Fuchs sowie Gordon Craig aufs Schärfste kritisiert wurden.252 Als beispielhaft für das Ausmaß dieses Streits kann die Warnung des deutschen Journalisten Robert Kohlrausch genannt werden, die dieser im Frühjahr 1906 in seinem Artikel im Hannoverschen Courier zu Papier brachte:
Unseren Bühnen droht, wie mir scheint, eine beachtenswerte Gefahr. Die Maler wollen sich des Theaters bemächtigen. […] Um eine Berechtigung dafür zu finden, hat man in Kreisen der bildenden Künstler und derer, die ihnen nahe stehen, eine völlig neue Definition der dramatischen Kunst ersonnen. Man findet sie am klarsten […] in einer Veröffentlichung ausgesprochen, die den geistvollen Münchener Kritiker für bildende Kunst, Georg Fuchs, zum Verfasser hat. […] Ungefähr gleichzeitig erschien die ‚Kunst des Theaters‘ von dem englischen Maler E. Gordon Craig […] und beide Schriften lassen keinen Zweifel daran, was man für unsere Theater plant.253
Kohlrausch berichtet hier unter Nennung von Fuchs und Craig von der drohenden Gefahr, dass sich die Maler des Theaters bemächtigen wollten. Während bei Fuchs (genauso wie bei Reinhardt) die aufgewertete Mise en Scène im Großen und Ganzen aber noch gleichberechtigt neben der Sprache – also dem literarischen Aspekt des Theaters – begriffen wird, war es vor allem Craig, der ab circa 1903 eine ungleich radikalere Meinung vertrat: Er forderte dazu auf, das Theater ganz von der Literatur zu befreien.254
Es sind diese um 1900 (nicht nur von Kohlrausch) stark kritisierten Texte und Arbeiten unter anderem von Reinhardt, Fuchs und Craig, die Theaterschaffende zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ganz Europa, aber auch in Moskau und Sankt Petersburg rezipierten. Als einer der ersten Rezipienten in Russland gilt Mejerchol’d. Er war entscheidend daran beteiligt, dass die in Deutschland zirkulierenden Schriften auch in Russland wahrgenommen wurden.255 1908 gab er den Theaterreformsammelband Teatr. Kniga o novom teatre mit heraus – also genau dasjenige Korpus, in dem Benuas Essay „Beseda o balete“ veröffentlicht wurde.
In Haldeys Studie wird deutlich, dass Taruskins Begriff des „neonationalism“ die ästhetischen Qualitäten Mamontovs bzw. die seiner Opernproduktionen nicht ausreichend erfasst. Einige zeitgenössische Bestrebungen in Kunst und Theater sieht sie mit diesem Ausdruck unterrepräsentiert. Sowohl Mamontovs Beeinflussung durch die Meininger als auch sein eigener Einfluss auf die Theatermoderne in Russland können damit nicht erklärt werden. Und interessanterweise führt ein Weiterdenken dieses Aspekts im Kontext der Ballets Russes zu einem weiteren, wenn auch nur indirekten Zusammenhang zur Theaterreform.
Benuas und Mamontovs ästhetische Überzeugungen beeinflussten – das konnte gezeigt werden – das Gesamtkunstwerksideal der Ballets Russes massiv; ein Ideal, das Stravinskij mit seinem Sacre in seiner ganzen Komplexität umzusetzen gedachte. Die Miriskusniki hatten das Ballett als optimale Kunstform erwählt, um ihr Ideal erstmals in die Tat umzusetzen. Diese Entscheidung geht vor allem auf Benua zurück. Taruskin wies erstmals ausführlich darauf hin, dass der Ballettaspekt des Sacre in einer (musik‑)wissenschaftlichen Untersuchung nicht vernachlässigt werden dürfe. Er konnte anschaulich darstellen, wie Stravinskij die auf Mamontov zurückgehenden „neonationalist“ Anforderungen an das Gesamtkunstwerk nicht nur im Libretto, sondern auch in seiner Komposition verwirklichte. Bei Benua konnten nun Verbindungen zur Theaterreform um 1900 festgestellt werden: Nicht nur weist Benua in seinem für die Ballets-Russes-Ästhetik richtungsweisenden Ballettessay selbst auf diesen Konnex hin; er veröffentlicht den Text außerdem in einer für die Theaterreformbewegung in Russland wesentlichen Publikation. Und auch Mamontov war (zumindest indirekt durch seinen Einfluss auf Mejerchol’d) schon frühzeitig in die Reformdiskurse der Jahrhundertwende verwickelt. Mit dem von Taruskin geprägten „neonationalist ‚Gesamtkunstwerk‘“ können diese Zusammenhänge nicht befriedigend erklärt werden. Gerade aber was die Rolle des Tanzes im Ballets-Russes-Gesamtkunstwerk angeht, scheinen diese Reformverbindungen in keiner Weise vernachlässigbar: Der Tanz bzw. der Tänzer wurde in den Reformschriften umfangreich diskutiert. Und Benuas Apologie des Balletts gegenüber Oper und Drama scheint vor dem Hintergrund jener Reformdiskurse ebenfalls sehr nachvollziehbar. Sogar was den von Benua mehrfach im Kontext der Ballets Russes gebrauchten Terminus Gesamtkunstwerk angeht, liegt eine Beziehung zur Reformbewegung nahe, obgleich dies noch nie so dargestellt worden ist.
Und so stellt sich eine Frage zunehmend als unausweichlich dar: Spielte die Theaterreform bei der Enstehung des Sacre eine Rolle? Immerhin hatte Stravinskij mit diesem Werk ja geplant, besagtes Ideal zum ersten Mal in Gänze umzusetzen.
Vgl. Taruskin, „How ‚The Rite‘ Became Possible“, S. 380–400. Stravinskij soll dem englischen Journalisten John Drummond auf die Frage, wie er Djagilev zum ersten Mal getroffen habe, geantwortet haben: „It was in Petersburg. They had been playing my ‚Fireworks‘ in the orchestral version at a concert in the conservatory. Afterwords he sent round his card with a note, asking me to call the following day at 3.00 p.m. Of course, I knew who he was, everyone did, so I went. The door was opened by a servant […]. He said ‚sit down and wait‘. There was a small entrance hall, I sat and waited. Laughter could be heard from an inner room. Time passed. You know, I was young and already impatient. I grew restless. After twenty minutes I got up and moved to the street door. As I grasped the handle, a voice behind me said, ‚Stravinsky, pridite, pridite‘, come in. I went in. You know, my dear, I’ve often wondered if I’d opened that door, whether I would have written ‚Le Sacre du printemps‘.“ Vgl. John Drummond: Speaking of Diaghilev, London 1997, S. 21. Der L’Oiseau de feu-Choreograf Michel Fokin berichtet davon, wie er auf Anraten Djagilevs gemeinsam mit ihm und Alexandr Benua bei einem Konzert war, um Stravinskijs Feu d’artifice zu hören. Ein Datum gibt er nicht an. Vgl. Michel Fokine: Fokine. Memoirs of a Ballet Master, übers. von Vitale Fokine, hg. von Anatole Chujoy, Boston und Toronto 1961, S. 160. Immer wieder findet sich in der Forschungsliteratur die Angabe, dass Stravinskijs Feu d’artifice gemeinsam mit seinem Scherzo fantastique in einem von Aleksandr Ilyich Ziloti geleiteten Konzert am 24. Januar/6. Februar 1909 in Sankt Petersburg uraufgeführt wurde. So unter anderem bei Volker Scherliess: Art. ‚Igor’ Fëdorovič Stravinskij‘, in: MGG 2, Personenteil: Bd. 16, Kassel u.a. 2006, Sp. 115–166, hier Sp. 138; Eric Walter White: Stravinsky. The Composer and his Works, 2. Ausg., Berkeley und Los Angeles 1979, S. 141f.; Steven Walsh: The Music of Stravinsky, London 1988, S. 299. An besagtem Konzertabend wurde allerdings nur Stravinskijs Scherzo fantastique aufgeführt. Die offizielle Uraufführung von Feu d’artifice fand zwar ebenfalls unter der Leitung von Ziloti in Sankt Petersburg statt, allerdings erst ein Jahr später, am 9./22. Januar 1910. Höchstwahrscheinlich wurde Feu d’artifice aber bereits zu Beginn des Jahres 1909 im Konservatorium gegeben und danach noch einmal vom Komponisten überarbeitet. Vgl. Steven Walsh: Art. ‚Stravinsky‘, in: The New Grove, Bd. 24, S. 528–567, hier S. 558; Vera Stravinsky und Robert Craft (Hg.): Stravinsky in Pictures and Documents, London 1979, S. 23. So vermutet Charles M. Joseph nachvollziehbar, dass Djagilev an besagtem Konzert vom 24. Januar/6. Februar 1909 auf Stravinskij aufmerksam wurde und daraufhin zu Beginn des Jahres 1909 gemeinsam mit Fokin und Benua zu einem weiteren (informellen) Konservatoriumskonzert ging, wo die drei dann Stravinskijs Feu d’artifice hörten. Vgl. Joseph, Stravinsky’s Ballets, S. 26.
Alexandre Benois: Reminiscences of the Russian Ballet, London 1941, S. 302.
Ebd., S. 370f.
Vgl. Taruskin, „How ‚The Rite‘ Became Possible“, S. 380f.: „There was no way that, for Diaghilev, Stravinsky would ever have written ‚Le Sacre du printemps‘, and this for two reasons: first, it was a ballet, and second, it had a ‚national‘ subject.“
Zu den Einflüssen Savva Mamontovs auf die Mir Iskusstva und die Ballets Russes vgl. unter anderem Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 487–553; Olga Haldey: „Savva Mamontov, Serge Diaghilev, and a Rocky Path to Modernism“, in: The Journal of Musicology 22/4 (2005), S. 559–603. Nähere Informationen zur Mir Iskusstva finden sich bei John Ellis Bowlt: The Silver Age. Russian Art of the Early Twentieth Century and the ‚World of Art‘ Group, Newtonville 1979, S. 47–132; Janet Kennedy: The ‚Mir iskusstva‘ Group and Russian Art, 1898–1912, PhD Dissertation, Columbia University 1977; Evgenija Nikolaevna Petrova: Mir iskusstva, Sankt Petersburg 1998; Evgenija Nikolaevna Petrova (Hg.): Mir Iskusstva. Russia’s Age of Elegance, Sankt Petersburg 2005; John Milner: Art. ‚World of Art‘, in: The Dictionary of Art, hg. von Jane Turner, London 1996, 34 Bde., Bd. 33, S. 379–380; Olga Haldey: Mamontov’s Private Opera. The Search for Modernism in Russian Theater, Bloomington 2010, S. 23–25; Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 423–447; Aleksandr Kamenskij (Hg.): ‚Welt der Kunst‘. Vereinigung russischer Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Leningrad 1991; Alla Aleksandrovna Rusakova: Simvolizm v russkoj živopisi. Protosimvolizm, Michail Vrubel’, ‚Mir iskusstva‘, Viktor Borisov-Musatov, ‚Golubaja roza‘, Kuz’ma Petrov-Vodkin, Moskau 1995. Zu Savva Mamontov und seiner privaten Oper finden sich größtenteils russischsprachige Studien. Vgl. unter anderem Vladislav Anatol’evič Bachrevskij: Savva Mamontov, Moskau 2000; Vera Rossichina: Opernyj Teatr S. Mamontova, Moskau 1985; Evgenij Ruvimovič Arenzon: Savva Mamontov, Moskau 1995. Die erste und lange Zeit auch einzige nicht russischsprachige Studie zu Mamontov stammt von Stuart R. Grover: Savva Mamontov and the Mamontov Circle, 1870–1905. Art Patronage and the Rise of Nationalism in Russian Art, PhD Dissertation, University of Wisconsin 1971. 2010 erschien dann Haldeys umfangreiche Monografie Mamontov’s Private Opera.
Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 555. Da der von Taruskin eingeführte Ausdruck „neonationalist ‚Gesamtkunstwerk‘“ den Großteil des (musik-)historiografischen Diskurses bestimmt (pars pro toto sei hier Francis Maes mit folgendem Diktum angeführt: „Sacre satisfies the neonationalist paradigm fully.“ Francis Maes: A History of Russian Music. From Kamarinskaya to Babi Yar, Berkeley 2006, S. 226), soll hier noch einmal detaillierter auf ihn eingegangen werden: Taruskin beschrieb, wie die neorussische (neonationalistische) Ästhetik, die in den Werken des Abramcevo-Kreises um Savva Mamontov ihren Höhepunkt fand, sich zunächst in der Architektur manifestierte und sich dann in die Bereiche der Kunst und Musik ausweitete. Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 503–524. Mit der Bezeichnung ‚neo-nationalism‘ möchte er gegenüber dem ‚nationalism‘ eine wesentliche Veränderung in der Haltung des Künstlers gegenüber Folklore und Volkskunst verstanden wissen: „‚Neo-nationalism‘ […] is not just a new nationalism but a fundamental change in attitude toward folklore and its creative potentials. Composers of Rimsky-Korsakov’s generation found themes in folklore anthologies the way an academic painter might choose a peasant as a subject. In both cases the subject was treated as established aesthetic and technical canons that did not differ from those applied to any other sort of subject or theme. When realist writers or painters like the ‚peredvizhniki‘ chose peasant subjects, moreover, it was often the purpose of exposing social ills in the hope the exposure would abet amelioration. Neo-nationalist painters found creative inspiration in the sorts of stylization that often caused professional artists to despise folk art, and they used them to point the way out of academicism or realism toward something ‚unfettered‘.“ Ders., „How ‚The Rite‘ Became Possible“, S. 392. Taruskin benennt das Gesamtkunstwerksideal der Ballets Russes „neonationalist“, um den Einfluss des Mamontov-Kreises zu verdeutlichen, und wendet diese Bezeichnung dann auch auf Stravinskijs Musik an: „As soon as Stravinsky joined this [Ballets Russes] circle he was exposed to his new peer group’s ideology and became the single important neo-nationalist composer […] in founding his personal modernistic idiom on the stylistic legacy of folklore.“ Ebd., S. 393. Haldey hält den von Taruskin vorgeschlagenen Begriff „neo-nationalism“ als Umschreibung für Mamontovs künstlerisches Wirken für problematisch. Er impliziere einen „reborn nationalism“, der sich begrifflich stark entferne von einem traditionellen Verständnis des nationalism. Einige modernistische Bestrebungen in Kunst und Theater, die der traditionelle nationalism-Begriff beinhalte, würden durch Taruskins „neo-nationalism“-Begriff unterrepräsentiert und Mamontovs künstlerisches Wirken daher reduziert. Vgl. Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 10; Kapitel II.3.2.
Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 660: „[…] The Rite, a ballet through which the neonationalist impulse would reach an unprecendented, though clearly not undreamed-of, peak.“
Vgl. unter anderem ebd., S. 487–524.
Vgl. unter anderem Stephen Walsh: Stravinsky. A Creative Spring. Russia and France. 1882–1934, London 2000, S. 130.
Benuas Einfluss auf Stravinskij wurde vor allem vor dem Hintergrund der engen Zusammenarbeit von Benua und Stravinskij für das Ballett Pétrouchka diskutiert. Vgl. hierzu unter anderem die Beiträge in Andrew Wachtel (Hg.): ‚Petrushka‘. Sources and Contexts, Evanston 1998; Leila Zickgraf: „Des Zauberkünstlers Marionetten. Igor’ Stravinskijs Pétrouchka im Kontext der Theaterreformbewegung um 1900“, in: Musiktheorie 3 (2015), S. 245–256; Monika Woitas: „Von Marionetten und Metropolen. Anmerkungen zu Petruschka“, in: Strawinskys ‚Motor Drive‘, hg. von Woitas und Hartmann, S. 195–210.
Benua schreibt in seiner 1910 in der russischen Tageszeitung Reč’ erschienenen Rezension des Balletts Shéhérazade, dass im Ballett das Gesamtkunstwerksideal erreicht würde, wovon bereits Wagner geträumt habe und wovon derzeit in Russland jeder künstlerisch begabte Mensch träumen würde: „В балете, где не нужно вслушиваться в слова, где глаз не раздражается уродствами, неизбежными в опере, где пребываешь все время в чем-то, что я бы назвал стихией слитных зрительных и слуховых впечатлений, в балете достигается идеал Гезамткунстверк’а, о котором мечтал Вагнер и о котором мечтает всякий художественно одаренный человек.“ „Im Ballett, wo man nicht gezwungen ist, auf Worte zu achten, wo das Auge sich nicht an Grässlichkeiten stößt, die in der Oper nicht zu vermeiden sind, wo man sich stets in etwas aufhält, das ich das Element der zusammengeführten visuellen und auditiven Eindrücke nennen würde – im Ballett wird das Ideal des Gesamtkunstwerks erreicht, von dem Wagner geträumt hat und von dem jeder künstlerisch begabte Mensch träumt.“ Aleksandr Benua: „Russkie spektakli v Pariže. ‚Šecherazada‘“, in: Reč’, 12./25. Juli 1910, abgedruckt in: Alexandr Nikolaevič Benua: Chudožestvennye pis’ma 1908–1917. Gazeta Reč’. Peterburg, Bd. 1: 1908–1910, Sankt Petersburg 2006, S. 453–459.
Vgl. Benua, „Beseda o balete“ sowie Kapitel II.3.1.
Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 540–542.
Als gemeinsames Moment und zugleich Ausgangspunkt der Theaterreformbestrebungen des frühen 20. Jahrhunderts ist die Orientierung an Richard Wagner und Friedrich Nietzsche bzw. die Rezeption von dessen Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik zu sehen. Die Musik wurde zum zentralen Theatererlebnis erklärt, und man verlangte nach einer „Erneuerung der mythischen Dimension des Theaters“. Vgl. Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert, 2009, S. 153. Das Gesamtkunstwerk wurde in diesen Reformschriften neben anderen Wagner’schen Reformideen, wie beispielsweise dem Festspiel oder dem Amphitheater, umfangreich diskutiert. Vgl. Balme, Das Theater von Morgen, S. 132.
Lynn Garafola vermutet Verbindungen zwischen Mitgliedern der Ballets Russes und dem Moskauer Künstlertheater Konstantin Stanislavskijs sowie einen Einfluss von Vsevolod Mejerchol’d auf die Ballets-Russes-Choreografen Fokin und Nižinskij, indem sie ästhetische Ähnlichkeiten beschreibt. Einen direkten Einfluss kann sie aber nicht belegen. Vgl. Garafola, Diaghilev’s Ballets Russes, unter anderem S. 19–32 und S. 55f. Zum Zusammenhang zwischen Stanislavskij, dessen Moskauer Künstlertheater, Mejerchol’d und der Theaterreformbewegung um 1900 vgl. Kapitel II.3.2.
In der Publikation Teatr. Kniga o novom teatre findet sich neben Benuas Essay unter anderem auch ein Text des russischen Schauspielers, Regisseurs und Theatertheoretikers Vsevolod Mejerchol’d, der neben dem Schweizer Adolphe Appia, dem Briten Edward Gordon Craig und dem Franzosen Jacques Copeau zu den wichtigsten Vertretern der Theaterrefombewegung um 1900 zählt.
Benua gehörte einer einflussreichen Sankt Petersburger Künstlerfamilie an, die ihre Wurzeln in der Nähe von Paris hatte. Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 423–429; Bowlt, The Silver Age, S. 172–198; Sjeng Scheijen: Diaghilev. A Life, London 2010, S. 50–61. Sowohl Bowlt als auch Scheijen erwähnen, dass Benua heute in Westeuropa kaum Beachtung findet, und erklären dies mit seinem mangelnden Talent. Er spiele für sie lediglich dahingehend eine wichtige Rolle, dass er in Djagilevs Anfangszeit in Sankt Petersburg einen großen Einfluss auf diesen gehabt hätte. Vgl. Scheijen, Diaghilev, S. 52; Bowlt, The Silver Age, S. 172. In musikwissenschaftlichen Studien wird Benua meist als einflussreicher Ideengeber für Djagilev und dessen Mitarbeiter in der Anfangszeit der Ballets Russes beschrieben. So wird beispielsweise die Beschäftigung Djagilevs mit dem Ballett auf Benuas Einfluss zurückgeführt. Vgl. unter anderem Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 538–542; Joseph, Stravinsky’s Ballets, S. 29.
Vgl. Bowlt, The Silver Age, S. 49 und 179–181. Vgl. dazu außerdem Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 423–437. Der Name Nevskij Pickwickians rekurriert gleichermaßen auf Charles Dickens’ ersten Roman The Posthumous Papers of the Pickwick Club (ebenfalls bekannt als The Pickwick Club) als auch auf eine der berühmtesten Straßen Russlands, den Sankt Petersburger Nevskij Prospekt. Dickens’ Roman wurde in der Zeit von März 1836 bis Oktober 1837 als Fortsetzungsroman monatlich in 19 Teilen veröffentlicht, bevor er 1837 erstmals als Buch herausgegeben wurde. Nikolai Gogol’ widmete dem Nevskij Prospekt eine berühmte Erzählung (Peterburgskie povesti [Petersburger Novellen]), die zwischen 1831 und 1834, also kurz vor Dickens’ Roman, entstand.
Vgl. Richard Taruskin: „From Subject to Style. Stravinsky and the Painters“, in: Confronting Stravinsky. Man, Musician, and Modernist, hg. von Jann Pasler, Berkeley, Los Angeles und London 1986, S. 16–38. Die Večera sovremennoj muzyki (Abende zeitgenössischer Musik) wurden zwischen 1901 und 1912 in Sankt Petersburg unter anderem von den Mir Iskusstva-Mitgliedern Val’ter Nuvel’, Al’fred Nurok, dem Musikkritiker Vjačeslav Karatygin sowie Ivan Kryžanovskij und Alexandr Medem organisiert. Ziel war es, eine Konzertreihe zu etablieren, die eine radikale Alternative bot zu den eher konservativen Angeboten des Sankt Petersburger Konservatoriums, der Russkoe muzykal’noe obščestvo (Russischen Musikgesellschaft) oder der Russkich simfoničeskich koncertov (Russischen Sinfoniekonzerte) von Mitrofan Petrovič Beljaev. In den Konzerten fanden unter anderem Premieren von Alexandr Glazunov, Igor’ Stravinskij, Sergej Prokov’ev oder Nikolaj Mjaskovskij sowie russische Erstaufführungen von Werken von Hugo Wolf, Richard Strauss oder Arnold Schönberg statt. Auch ausländische Komponisten wie Claude Debussy oder Max Reger traten beizeiten auf. Ihr Moskauer Pendant – organisiert von Vladimir Deržanovskij – exisierte von 1910 bis 1915. Vgl. Daniel Jaffé: Art. ‚Evenings of Contemporary Music‘, in: Historical Dictionary of Russian Music, hg. von Ders., Lanham 2012, S. 120.
Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 423f.; Bowlt, The Silver Age, S. 179. Filosofov, Nuvel’ und Benua kannten sich bereits aus dem Sankt Petersburger Gymnasium. Dieselbe Lehranstalt besuchte auch der spätere Sacre-Librettist und -Bühnenbildner Nikolaj Rerich. Vgl. John Ellis Bowlt: „Designing Dance“, in: The Ballets Russes and the Art of Design, hg. von Alston Purvis, Peter Rand, Anna Winestein, New York 2009, S. 13–36. Ulrich Steltner nennt als Ursprungsmitglieder der Nevskij Pickwickians (neben den von Taruskin genannten Personen Benua, Somov, Bakst, Djagilev und Filosofov) auch noch den Maler und Buchkünstler Evgenij Lansere. Vgl. Ulrich Steltner: „‚Mir iskusstva‘, ‚Vesy‘, ‚Zolotoe runo‘. Rußlands Zeitschriften am Beginn der Moderne“, in: Der russische Symbolismus. Zur sinnlichen Seite seiner Wortkunst, hg. von Ders. und Andreas Ohme, München 2000, S. 85–107, hier S. 90.
Vgl. Bowlt, The Silver Age, S. 49.
Vgl. unter anderem Camilla Gray: Das große Experiment. Die russische Kunst 1863–1922, Köln 1974, S. 11.
Vgl. Bowlt, The Silver Age, S. 29; Maria Deppermann: „Russland um 1900. Reichtum und Krise einer Epoche im Umbruch“, in: Aleksandr Skrjabin und die Skrjabinisten, Teil 2 (Musik-Konzepte, Bd. 37/38), hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1984, S. 61–106.
Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 497.
Zu den Peredvižniki (Wanderern) vgl. unter anderem Elena Dusz: „Russian Art in Search of Identity“, in: Russia and Western Civilization. Cultural and Historical Encounters, hg. von Rusell Bova, Armonk und London 2003, S. 177–209, hier S. 179–185; Elizabeth K. Valkenier: The Wanderers. Masters of 19th-Century Russian Painting. An Exhibition from the Soviet Union, Dallas 1991. Als einer der bekanntesten Vertreter der Peredvižniki gilt Il’ja Repin (1844–1939). Zu Repin vgl. unter anderem David Jackson: The Art of Ilya Repin. The Russian Vision, Schoten 2006; Angelika Wesenberg, Nicole Hartje und Anne-Marie Werner (Hg.): Ilja Repin. Auf der Suche nach Russland, Berlin 2003; Elina Knorpp: „Ilja Repin. ‚Wahrheit des Lebens‘ oder sozial(istisch)er Realismus?“, in: Kursschwankungen. Russische Kunst im Wertesystem der europäischen Moderne, hg. von Ada Raev und Isabel Wünsche, Berlin 2007, S. 103–111.
Vgl. Bowlt, The Silver Age, S. 17–19.
Vgl. Elena Bridgman: „Mir Iskusstwa. Origins of the Ballets Russes“, in: The Art of Enchantment, hg. von Van Norman Baer, New York 1988, S. 26–43, hier S. 28.
Vgl. Bowlt, The Silver Age, S. 15–27; Bridgman, „Mir Iskusstwa“, S. 28.
Sergej Djagilev kam nach seiner Ankunft in Sankt Petersburg mit der Gruppe in Kontakt, weil er mit Dimitrij Filosofov verwandt war. Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 423–429.
Auf Anraten Rimskij-Korsakovs verwarf Djagilev den Gedanken, Musik zu studieren. Vgl. ebd., S. 461–462. Für die meistzitierten Monografien zu Djagilev und den Ballets Russes vgl. Richard Buckle: Diaghilev, London 1979; Garafola, Diaghilev’s Ballets Russes; Scheijen, Diaghilev.
Monika Woitas beschreibt beispielsweise, wie Djagilev „die Balance zwischen Kunst und Kommerz perfekt beherrschte“. Vgl. Monika Woitas: Art. ‚Djagilev‘, in: MGG 2, Personenteil: Bd. 5, Kassel u.a. 2001, Sp. 1134–1136, hier Sp. 1135.
Djagilev veröffentlichte seine Rezensionen in der Novosti i Birževaja Gazeta unter seinem Monogram S.D. Vgl. Taruskin, Stravinskij and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 430.
Zu den Ausstellungen der Mir Iskusstva vgl. unter anderem Bowlt, The Silver Age, S. 86–107.
Zur Zeitschrift Mir Iskusstva vgl. unter anderem Eva Hausbacher: „Mir Iskusstva“, in: Die Wiener Moderne in slawischen Periodika der Jahrhundertwende, hg. von Stefan Simonek, Bern 2006, S. 39–58; Steltner, „‚Mir iskusstva‘, ‚Vesy‘, ‚Zolotoe runo‘“, S. 90–94; Deppermann, „Russland um 1900“, S. 73–75.
Nähere Informationen zu den Künstlerkolonien Abramcevo und Talaškino finden sich bei Wendy Ruth Salmond: Arts and Crafts in Late Imperial Russia. Reviving the Kustar Art Industries. 1870–1917, Cambridge 1996, S. 15–45 und 115–143.
Zum Einfluss Savva Mamontovs und insbesondere seiner Opernproduktionen auf Djagilev, die Mir Iskusstva sowie die späteren Mitglieder der Ballets Russes und deren Ballettwerke siehe vor allem Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 490–497. Die dort dargelegten Thesen sind im musikwissenschaftlichen Kontext allgemein anerkannt und sollen hier im Wesentlichen wiedergegeben werden.
Mamontov war von 1872 bis 1899 Direktor der (damalig) privaten Eisenbahngesellschaft Moskau-Jaroslavl’-Archangel’sk und überwachte die Konstruktion des Streckenbaus. Vgl. hierzu unter anderem Walter Sperling: Der Aufbruch der Provinz. Die Eisenbahn und die Neuordnung der Räume im Zarenreich, Frankfurt a.M. und New York 2011, S. 143.
Mamontov gilt als einer der wichtigen Kunstmäzene Russlands und wird in einem Atemzug mit Pavel Tret’jakov, Sergej Ščukin und Sergej Bachrušin genannt. Vgl. unter anderem Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 68f. Haldey weist darauf hin, dass oftmals das Mäzenatentum Mamontovs im Zentrum der Rezeption steht und dabei seine künstlerischen Ambitionen außen vor gelassen werden. Zum Mäzenatentum in Russland vgl. unter anderem Waltraud Bayer: Die Moskauer Medici. Der russische Bürger als Mäzen. 1850–1917, Wien 1996; Natal’ja Georgievna Dumova: Moskovskie mecenaty, Moskau 1992; Deppermann, „Russland um 1900“, S. 70f.
Vgl. Bowlt, The Silver Age, S. 31–34; Gray, Das große Experiment, S. 11–22; Eleonora Paston: „Die Künstlerkolonie Abramzewo. Geburtsstätte des neorussischen Stils und Wiege der russischen Moderne“, in: Russland 1900. Kunst und Kultur im Reich des letzten Zaren, hg. von Ralf Beil, Köln 2008, S. 169–182. Bereits zu Aksakovs Lebenszeit verkehrten hier namhafte Literaten wie Nikolaj Gogol’ oder Ivan Turgenev. 1870 bis 1885 entstanden viele Bauten im altslawischen Stil, die auch heute noch erhalten sind. So unter anderem Die Werkstatt (Viktor Gartman), Die Banja Teremok (Ivan Ropet) oder Die Kirche des Nicht von Menschenhand geschaffenen Erlösers (Viktor Vasnecov). Und so ist Abramcevo mit seinem Haltepunkt am 57. Kilometer der Transsibirischen Eisenbahn mittlerweile ein beliebtes Ausflugs- und Touristenziel. Vgl. unter anderem Gennady Vasilyev: Wiener Moderne. Diskurse und Rezeption in Russland, Berlin 2015, S. 51f.
Eine Beschreibung der Unterschiede zwischen den Peredvižniki und den Künstlern des Abramcevo-Kreises findet sich unter anderem bei Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 74–87.
Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 511. Um Mamontov und in Abramcevo versammelten sich die bekanntesten Maler Russlands, und zwar unterschiedlichster Kunstrichtungen. In der Anfangszeit verkehrten dort unter anderem bedeutende Vertreter des russischen Realismus wie Il’ja Repin, Vasilij Polenov oder Viktor Vasnecov. Später stießen auch Repins und Polenovs Studenten Valentin Serov, Konstantin Korovin und Aleksandr Golovin sowie Michail Vrubel’ hinzu, die als Gründerväter der modernen russischen Kunst gelten (Korovin gilt als der russische Manet, Golovin als ihr Pissaro, Serov als ihr Cézanne und Vrubel’ als russischer van Gogh). Die jüngste Generation des Mamontov-Kreises bestand dann aus Vertretern des russischen Symbolismus. Vgl. Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 71–74.
Vgl. ebd., S. 101.
Vgl. ebd., S. 73.
Vgl. ebd., S. 72f.; Bowlt, The Silver Age, S. 37f. Die Gründung einer privaten Oper war erst durch die Monopolaufhebung möglich. Und so eröffneten in dieser Zeit auch andere bekannte private Theater, wie beispielsweise das Moskovskij Chudožestvennyj teatr (Moskauer Künstlertheater), das von Konstantin Stanislavskij und Vladimir Nemirovič-Dančenko 1987 als Reformtheater gegründet wurde.
Sowohl Šaljapin als auch Stanislavskij widmeten Mamontov in ihrer Autobiografie ein ganzes Kapitel. Vgl. Fëdor ŠAljapin: Chaliapin. An Autobiography as Told to Maxim Gorky, mit ergänzender Korrespondenz und Notizen hg. und aus dem Russischen übers. von Nina Froud und James Hanley, New York 1967, Kapitel 7 und 8, S. 115–135; Constantin Stanislavski: My Life in Art, übers. von Jacob J. Robbins, New York 1956, Kapitel 14: „The Mamontov Circle“, S. 141–147.
Haldey beschreibt, dass mit Ausnahme des jungen Sergej Rachmaninov keinem von Mamontovs Musikern je ein besonderes musikalisches Können nachgesagt wurde und begründet dies unter anderem damit, dass die besten russischen Musiker am Bol’šoi angestellt waren. Mamontovs Oper standen daher nur Künstler zweiter Klasse zur Verfügung und (zumindest anfangs) lediglich ein sehr kleiner Orchesterapparat. Vgl. Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 102f. In gewisser Weise deckt sich diese zeitgenössische Wahrnehmung mit der wissenschaftlichen Rezeption. Vgl. Redepenning, Geschichte der russischen und sowjetischen Musik, Bd. 1, S. 324; Grover, Savva Mamontov and the Mamontov Circle, S. XX; Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 492.
Vgl. hierzu Haldey, „Savva Mamontov. Serge Diaghilev“, S. 561–562; Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 125–129. Djagilevs Ausstellungsvorbereitungen sind der Korrespondenz Benua – Djagilev zu entnehmen. Vgl. Haldey, „Savva Mamontov. Serge Diaghilev“, S. 561. Schriftlich erwähnt Djagilev Mamontov zum ersten Mal in einem Brief an Benua im November 1897: „Мамонтов обещал декорации […]. А в общем больше ничего не надо.“ „Mamontow versprach die Dekoration […]. Und darüber hinaus braucht man ja nichts.“ Der Brief ist abgedruckt in: Il’ja Zil’berštein und Vladimir Samkov (Hg.): Sergej Djagilev i russkoe iskusstvo. Stat’i, otkrytye pis’ma, interv’ju, perepiska, sovremenniki o Djagileve, 2 Bde., Moskau 1982, Bd. 2, S. 30–31, hier S. 31.
Haldey begründet ihre Vermutung unter anderem mit den vergleichbaren ästhetischen Ansichten sowie Management- und Vermarktungsstrategien von Djagilev und Mamontov. Vgl. Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 280–287. Auch Garafola suggeriert eine Vorbildfunktion Mamontovs, wenn sie formuliert: „Mamontov turned the dilettante of art [Djagilev] into a builder of artistic empires.“ Garafola, Diaghilev’s Ballets Russes, S. 150. Und schließlich mutmaßen sowohl Haldey als auch Taruskin, dass Djagilev mit seiner Saison Russe in Paris Mamontovs lang gehegten Opern-Export-Traum realisiert habe. Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 528; Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 287–290.
Benua beschreibt die Boris Godunov-Produktion in seinen Erinnerungen folgendermaßen: „Korovin’s décors amazed us by their daring approach to the problem and, above all, by their high ‚artistic‘ value – the very quality which was so often missing in the elaborate productions of the Imperial stage. It was obvious that the path Korovin had chosen was the right one and needed only to be developed and improved.“ Benois, Reminiscences, S. 197.
Vgl. Haldey, „Savva Mamontov. Serge Diaghilev“, S. 562. In gewisser Weise inspiriert von Mamontovs Einsatz für die nationale Volkskultur hatte Marija Teniševa 1893 die mit Abramcevo vergleichbare Künstlerkolonie Talaškino gegründet. Sie setzte sich dort für russisches traditionelles Handwerk und Folklore ein und förderte vor allem die Volksmusikentwicklung in Russland. Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 511; Bowlt, The Silver Age, S. 28. Die Finanzierung der Zeitschrift übernahm 1899, als Mamontov finanziell am Ende war, die Zarenfamilie (bis zum Ausbruch des russisch-japanischen Krieges 1904). Vgl. Steltner, „‚Mir iskusstva‘, ‚Vesy‘, ‚Zolotoe runo‘“, S. 92.
Vgl. Anm. 154.
Vgl. hierzu Benois, Reminiscences, S. 197.
Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 23–29; Andreas Wehrmeyer: „Rimsky-Korsakow als Vertreter der Sankt Petersburger Komponistenschule (1999)“, in: Nikolai Rimsky-Korsakow. Zugänge zu Leben und Werk. Monographien – Schriften – Tagebücher – Verzeichnisse (musik konkret, Bd. 12), aus dem Russischen übers. und hg. von Ernst Kuhn, Berlin 2000, S. XVII–XXIX, hier S. XVII; Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Bd. 1, S. 143–175.
Vgl. unter anderem Joseph, Stravinsky’s Ballets, S. 29. Benua selbst stellt dies ebenfalls so dar: „[…] looking to the future, Diaghilev saw himself, quite contrary to his own taste, forced to limit his Parisian repertoire to ballets.“ Alexandre Benois: „The Origins of the Ballets Russes“, in: Boris Kochno: Diaghilev and the Ballets Russes, New York 1970, S. 2–21, hier S. 16. In tanzwissenschaftlichen Studien wird dies differenzierter dargestellt. Sowohl Garafola als auch Scheijen erwähnen das nie realisierte Ballett Sylvia als erstes Ballett, in dessen Planungen sowohl Djagilev als auch Benua involviert waren. Vgl. Garafola, Diaghilev’s Ballets Russes, S. X; Schijen, Diaghilev, S. 111–123. Oder sie beschreiben es als Vorboten der späteren Ballets-Russes-Werke. Vgl. unter anderem Scholl, From Petipa to Balanchine, S. 45. Fest steht, dass Djagilev nach der erfolgreichen Opernsaison von 1908 zunächst eine zweite Opernsaison für 1909 anstrebte, die lediglich durch einen zusätzlichen Ballettabend komplettiert werden sollte. Weil er dann aber seinen wichtigsten Geldgeber verlor, musste die geplante Opernsaison kurzfristig in eine wesentlich günstiger zu produzierende Ballettsaison umgewandelt werden. Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 545f.
Vgl. ebd., S. 530–534. Das Bühnenbild gestalteten Konstantin Juon, Aleksandr Benua, Boris Anisfeld, Stepan Jaremič und Evgenij Lancere. Die Kostüme fertigte Mir Iskusstva-Mitglied Ivan Biblin an. Vgl. ebd., S. 534f.
Vgl. Scheijen, Diaghilev, S. 114f. Das Mir Iskusstva-Gründungsmitglied Nuvel’ sagte dem Ballett (in einer anderen als der bis dato existierenden Form) bereits 1897 eine große Zukunft voraus und schrieb diesbezüglich am 14. September 1897 an seinen Mir Iskusstva-Kollegen Somov: „[…]Балету предстоит, по-моему, огромная будущность, но, разумеется, не в том виде, в котором он существует теперь. Наши декадентские, эстетические и чувственные потребности не могут удовлетвориться идеалами пластичности и красоты движений, существовавшими 30 лет тому назад. Надо дать балету окраску современности, сделать его выразителем наших изнеженных, утонченных, болезненных чувств, ощущений и чаяний. Надо сделать его чувственным par exellence [по преимуществу – франц.], но чувственным эстетически и, если хочешь, даже символически. То неясное, невыразимое, неуловимое, что пытается выразить теперешняя литература, подчиняясь кричащим потребностям современного духа, должно найти и найдет, по всей вероятности, свое осуществление в балете […].“ „[…] dem Ballett steht meiner Meinung nach eine grandiose Zukunft bevor, aber gewiß nicht in der Form, in der es jetzt existiert. Unsere dekadenten, ästhetischen und sinnlichen Bedürfnisse können nicht mit 30 Jahre alten Idealen der Plastizität und Schönheit von Bewegungen befriedigt werden. Man muss dem Ballett die Färbung der Gegenwart verleihen, es zum Ausdruck unserer verweichlichten, feinen, kränklichen Gefühle, Empfindungen und Erwartungen ernennen. Man muss es feinfühlig ‚par exellence‘ gestalten, empfindsam im ästhetischen und, wenn man so will, sogar symbolischen Sinne. Jenes Unklare, Unaussprechliche, nicht Greifbare, was die jetzige Literatur, sich den schreienden Bedürfnissen des modernen Geistes unterwerfend, zu äußern sucht, soll und wird mit großer Wahrscheinlichkeit im Ballett münden […].“ Brief von Val’ter Nuvel’ an Konstantin Somov vom 14. September 1897 (julianischer Kalender), ediert in: Julija Podkopaeva und Anastasija Svešnikova (Hg.): Konstantin Andreevič Somov. Pis’ma. Dnevniki. Suždenija sovremennikov, Moskau 1979, S. 457f.
Djagilev wurde zu einer Art Assistent des Intendanten der zaristischen Theater ernannt und unter anderem damit betraut, das Ežegodnik imperatorskich teatrov (Jahrbuch der kaiserlichen Theater) herauszugeben. Die von ihm betreute Ausgabe des Jahres 1900 beeindruckte den Zaren so sehr, dass Djagilev eine Einladung an den Hof bekam. Über den Cousin des Zaren – Großherzog Sergej Michajlovič Romanov – erhielt er daraufhin die Erlaubnis, die Produktion von Léo Délibes Ballett Sylvia zu leiten. Sowohl Benua als auch andere Mir Iskusstva-Kollegen beauftragte er daraufhin für Kostüme und Bühnenbild, obwohl die meisten von ihnen nicht am Kaiserlichen Theater angestellt waren. Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 539; zum Jahrbuch vgl. Ežegodnik imperatorskich teatrov. Izdanie Direkcii Imperatorskich Teatrov, Sankt Petersburg 1892–1915. Obwohl Sylvia nie realisiert wurde, vermutet Garafola darin einen Vorboten der späteren Gemeinschaftsproduktionen der Ballets Russes. Vgl. Garafola, Diaghilev’s Ballets Russes, S. X.
Beide Ballettpläne scheiterten an einem Eklat um Djagilev, bei dem Letzterer am Ende sogar aus den zaristischen Diensten entlassen wurde – sowohl Djagilevs Plan, Léo Delibes Sylvia gemeinsam mit Bakst, Benua, Serov und Nuvel’ am zaristischen Mariinskij-Theater in Sankt Petersburg zu inszenieren, als auch die 1903 geplante Uraufführung des Balletts Le Pavillon d’Armide, das Benua bereits um 1895 zur Musik von Aleksandr Čerepnin entworfen hatte. Vgl. unter anderem Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 539f.
Vgl. Schijen, Diaghilev, S. 171. Schijen verweist dabei auf den Tagebucheintrag des damaligen Intendanten der kaiserlichen Theater Vladimir Teljakovskij vom 10. November 1905 (julianischer Kalender): „[…] По слухам, в Петербурге образуется новое общество, балетно-критическое. Нанята квартира, где будут собираться балетные артисты, и печать для обсуждения различных вопросов, касающихся балета. Во главе этого общества называют Скальковкого, Светлова и Дягилева. В обществе этом будут обсуждать также успехи артистов и выражать им одобрение или порицание.“ „[…] Gerüchten zufolge entsteht in Sankt Petersburg eine neue, Ballett-kritische Gesellschaft. Es ist bereits eine Wohnung angemietet, wo sich Ballettkünstler und die Presse zur Erörterung verschiedener Fragen, das Ballett betreffend, versammeln werden. An der Spitze dieser Gesellschaft stehend, werden Skal’kovskij, Svetlov und Djagilev genannt. In jener Gesellschaft sollen auch Erfolge der Künstler besprochen werden und ihnen gegenüber Anerkennung oder Tadel geäußert werden können.“ Vladimir Arkad’evič Teljakovskij: Dnevniki direktora imperatorskich teatrov. 1903–1906, Moskau 2006, S. 560f., hier S. 560.
Djagilev, zit. in: Benois, Reminiscences, S. 266. Für eine Beschreibung der Entstehungs- und Aufführungsumstände von Pavillon d’Armide vgl. Tauskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 542–545.
Vgl. ebd., S. 555–574. „The original aim had been to create at last the definitive neonationalist ‚Gesamtkunstwerk‘.“ Ebd., S. 555.
Der Name Ballets Russes taucht zum ersten Mal in der Saison 1910 auf. Die erste Ballettsaison titelte zwar in Anlehnung an die erste Opernsaison (Saison Russe 1908) noch Saison Russe 1909, gilt heute aber als das ‚inoffizielle‘ Debüt der Ballets Russes. Vgl. Garafola, Diaghilev’s Ballets Russes, S. X.
Taruskin machte sich auf die Spurensuche nach den Erzählungen, die das L’Oiseau de feu-Szenario inspirierten. Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 555–574.
Aleksandr Benua: „Chudožestvennye pis’ma: Russkie spektakli v Pariže ‚Žar-ptica‘“, in: Reč’, 18. Juli 1910. Benua sah das Ideal schließlich erst mit Pétrouchka realisiert. Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 661f. Zu Pétrouchka schreibt er 1911 dann Folgendes: „I know of no work of art that flows in such an unbroken stream (or rather, in such broken cascades, gushers, and floods […].) The success of ‚Petrushka‘ as a ballet is all the more remarkable in that it proves that by balletic means one can convey dramatic situations and sensations that are absolutely impossible in drama or opera“, vgl. Aleksandr Benua, „Chudožestvennye pis’ma“, in: Reč’, 4. August 1911. Die englische Übersetzung findet sich bei Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 661.
Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 849–966. Stravinskij begann unabhängig von Djagilev und Benua am Sacre zu arbeiten. Vgl. ebd., S. 662f.
Vgl. hierzu den Titel des Balletts: Le Sacre du printemps. Tableaux de la Russie païenne en deux parties (Die Frühlingsweihe. Bilder aus dem heidnischen Russland in zwei Teilen).
Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 881. Vgl. hierzu auch Anm. 256.
Sowohl Stravinskij als auch Rerich beanspruchten den Ursprungsgedanken zum Sacre für sich. Die wohl bekannteste diesbezügliche Geschichte stammt vom Komponisten selbst und findet sich in dessen Autobiografie: „One day, when I was finishing the last pages of ‚L’Oiseau de feu‘ in St. Petersburg, I had a fleeting vision which came to me as a complete surprise, my mind at the moment being full of other things. I saw in imagination a solemn pagan rite: sage elders, seated in a circle, watched a young girl dance herself to death. They were sacrificing her to propitiate the god of spring.“ Igor Stravinsky: An Autobiography, London 1975, S. 31. Laut seinem Biografen Barnett Conlan reagierte Rerich Jahre später auf diese Angabe Stravinskijs folgendermaßen: „Не знаю когда и какие сны видел Стравинский, но на самом деле было так: в 1909 году Стравинский приехал ко мне с предложением совместно сочинить балет. Поразмыслив, я предложил ему два балета – один ‚Весна Священная‘, а другой ‚Шахматная игра‘. Либретто ‚Священной Весны‘ осталось за малыми сокращениями тем же самым, как оно появилось в 1913 году в Париже. В ‚Шахматной игре‘ предполагалось действие, происходящее на шахматной доске. Но тогда эта вторая идея была отложена.“ („Ich weiß nicht, welche Träume Stravinskij hatte und wann, aber in Wahrheit war es so: 1909 kam Stravinskij mit dem Vorschlag zu mir, gemeinsam ein Ballett zu erarbeiten. Nachdem ich darüber nachgedacht hatte, schlug ich ihm zwei Ballette vor – das erste war ‚Vesna Svjaščennaja‘ und das andere ‚Šachmatnaja Igra‘. Das Libretto des ‚Vesna Svjaščennaja‘ blieb – abgesehen von kleineren Kürzungen – genau so, wie es 1913 in Paris erschienen ist. Im ‚Šachmatnaja Igra‘ wurde eine Handlung konzipiert, die sich auf dem Schachbrett abspielt. Doch diese zweite Idee wurde dann verworfen.“) Nikolaj Rerich, zit. in: Pavel Fëdorovič Belikov und Valentina Pavlovna Knjazeva (Hg.): Rerich, Moskau 1972, S. 86. Da sich die Aussagen von Stravinskij und Rerich häufig widersprechen, kann nicht festgestellt werden, wer das Werk tatsächlich initiierte. Die beidseitige Beanspruchung deutet aber auf einen gemeinsamen Schaffensprozess hin. Vgl. hierzu Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 860–866; Joseph, Stravinsky’s Ballets, S. 78–84. Die Ballets-Russes-Mitarbeiter Benua und Sergej Grigor’ev unterstützten Rerichs Version: „The Original idea was probably Roerich’s; if in fact it came first to Stravinsky it must have been due to the influence of his painter friend.“ Benois, Reminiscences, S. 347; „This Ballet has first been thought of by the painter Roerich, who had worked out the scenario with Stravinsky.“ Serge L. Grigoriev: The Diaghilev Ballet. 1909–1929, London 1953, S. 79. In der Literatur wird deshalb teilweise auch Rerich als alleinverantwortlich für das Libretto genannt: „Der Schöpfer dieses Ballett-Librettos, der den Grundgedanken des Rituals aus seiner Kenntnis altslawischer Sagen und Bräuche entwickelt, ist der russische Ethnologe, Archäologe, Maler und Bühnenbildner Nicholas Roerich.“ Brandstetter, „Ritual als Szene und Diskurs“, S. 369.
Zu den literarischen und musikalischen Vorbildern, die Rerich und Stravinskij für das Szenario und Stravinskij für seine Komposition verwendet hat, vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 881–950.
Vgl. Taruskin, „Russian Folk Melodies in the Rite of Spring“; Morton, „Footnotes to Stravinsky Studies“; Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 891–923.
Für eine ausführliche Darstellung der Riten und Bräuche, die Rerich und Stravinskij als Vorbilder zur Handlung und Beschreibung des Balletts gebrauchten, vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 881–891. Zu den Chorovody vgl. unter anderem ebd., S. 866–923, insbesondere S. 867–869 sowie Vladimir Ja. Propp: „The Russian Folk Lyric“, in: Down Along the Mother Volga. An Anthology of Russian Folk Lyrics, hg. von Roberta Reeder, Philadelphia 1975, S. 1–73, hier S. 5–7.
Propp definiert die Chorovody folgendermaßen: „Unlike […] songs that are performed only vocally [khorovods] are accompanied by various body movements […] or by dancing to the rhythm of the melody. […] They may perform different movements with their hands (clapping) and with their feet (stamping); with their whole body; all this in time to the song […].“ Propp, „The Russian Folk Lyric“, S. 14f.
Aufgrund der Prämisse der Gleichberechtigung der Kunstsparten liegt es nahe, dass neben Rerich und Stravinskij auch Nižinskij in seiner Choreografie auf Volkstanzmaterial zurückgegriffen hat. Auf diese Frage geht Taruskin in seiner umfangreichen Monografie nicht ein. In der tanzwissenschaftlichen Forschungsliteratur zum Sacre variieren diesbezügliche Angaben. Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse von Hodson und Archer werden vor allem Rerichs Zeichnungen und Erzählungen für Nižinskijs archaisiert anmutenden Bewegungskanon im Sacre verantwortlich gemacht. Vgl. unter anderem Garafola, Diaghilev’s Ballets Russes, S. 67f. Beim Vergleichen von Nižinskijs choreografischer Arbeit mit Stravinskijs Kompositionsverfahren gehen die Meinungen auseinander. Garafola äußert sich diesbezüglich folgendermaßen: „In Nijinsky’s hands, ethnography became the raw material of a grand modernist design. Like Stravinsky, he raided folk material, then absorbed this into a succession of subversives signs.“ Ebd., S. 68. Claudia Jeschke äußert sich dagegen so: „Anders als in Strawinskys Kompositionsverfahren […] sind in Nijinskys Konzept, außer auf die kurzen pantomimischen Szenen, keine Rückgriffe auf bereits Vorhandenes zu beobachten.“ Claudia Jeschke: „Russische Bildwelten in Bewegung. Bewegungstexte“, in: Schwäne und Feuervögel, hg. von Jeschke und Haitzinger, S. 58–89, hier S. 76f. Ob Nižinskij, angelehnt an Stravinskijs Arbeitsweise, ebenfalls auf Volkstanzmaterial zurückgegriffen hat, bleibt also unbeantwortet. Es ist aber schon allein aufgrund der Prämisse der Gleichberechtigung der Kunstsparten sehr wahrscheinlich.
Vgl. Kapitel II.
Benua, „Beseda o balete“, S. 95–122; Vsevolod Mejerchol’d: „Teatr (K istorii i technike)“, in: Teatr. Kniga o novom teatre, hg. von Lunačarskij u.a., S. 123–176; Anatolij Lunačarskij: „Socializm i iskusstvo“, in: ebd., S. 7–40, insbesondere der Abschnitt Teatr buduščego, S. 27–30; Fëdor Sologub: „Teatr odnoj voli“, in: ebd., S. 177–198; Valerij Brjusov: „Realizm i uslovnost’ na scene“, in: ebd., S. 243–259; Andrej Belyj: „Teatr i sovremennaja drama“, in: ebd., S. 261–289.
Vgl. Balme, Das Theater von Morgen, S. 11.
Zur Theaterreformdiskussion um 1900 als gesamteuropäischem Phänomen sowie zu weiteren zentralen Forderungen der Bewegung vgl. Balme, Das Theater von Morgen, S. 9–29. Manfred Brauneck weist darauf hin, dass der Begriff des ‚Regisseurs‘ im Kontext der frühen Reformkonzepte ein sehr weit gefasster war und dass damit nie der traditionelle ‚Wortregisseur‘ gemeint war, sondern vielmehr der ‚Inszenierer‘, „der gleichermaßen Maler, Architekt, Choreograf oder technischer, filmischer Experimentator sein konnte […], nie aber der Literat [oder] der Dramatiker“. Vgl. Manfred Brauneck: Europas Theater. 2500 Jahre Geschichte. Eine Einführung, Hamburg 2012, S. 372.
Vgl. Balme, Das Theater von Morgen, S. 11f.
Benuas Text wird in den meisten einschlägigen Stravinskij-, Djagilev- oder Ballets- Russes-Studien nicht erwähnt. Innerhalb der Musikwissenschaft griff ihn – wie zu Anfang des Kapitels erwähnt – erstmals Taruskin auf und beschrieb, inwiefern in den Worten des Künstlers das ästhetische Mir Iskusstva-Ideal erkennbar sei. Zwar nennt Taruskin den Titel der Sammelpublikation, in der der Essay 1908 erschienen ist, und macht darauf aufmerksam, dass darin vor allem dem russischen Symbolismus zuzuordnende Künstler und Theaterschaffende veröffentlichten; auf den Kontext der Theaterreformbewegung verweist er allerdings nicht. Vgl. Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 535–542. John E. Malmstad geht kurz auf den Text im Kontext der Ballets Russes ein, verweist aber ebenfalls nicht auf die Theaterreform. Vgl. John E. Malmstad: „Birds of a Feather. The Ballets Russes and the Legacy of Symbolism“, in: Stanford Slavic Studies 29/39 (2005), S. 553–579. Scheijen zitiert eine Passage aus Benuas Schrift in seiner Djagilev-Biografie, geht aber auch nicht auf den Reformkontext ein. Vgl. Scheijen, Diaghilev, S. 170.
Vgl. Benua, „Beseda o balete“, S. 97f.
Benua, „Beseda o balete“, S. 95. Zum Gebrauch des Gesamtkunstwerkbegriffs im Kontext der Theaterreform vgl. Anm. 162. Zu Benuas Gebrauch dieses Begriffs im Kontext der Ballets Russes vgl. Anm. 159.
Benua, „Beseda o balete“, S. 95. „Das Theater der Zukunft“ oder „Das Theater von Morgen“, das Benua im oben zitierten Abschnitt auf Russisch (Teatr buduščego) nennt, gilt als eines der populärsten Schlagworte jener Reformschriften und Manifeste, die um 1900 zunächst in Deutschland, dann aber in ganz Europa bis nach Russland entstanden. Vgl. Balme, Das Theater von Morgen, S. 11.
Zur Situation des Balletts in Russland zur Jahrhundertwende vgl. unter anderem Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 535f.; Scholl, From Petipa to Balanchine, S. 14–17. Aleksandr Benua äußert sich zur Situation des Balletts Ende des 19. Jahrhunderts in Russland in seinen Erinnerungen folgendermaßen: „[…] ballet […] was considered unworthy of the attention of serious people. […] I was too young to take in all this, but I felt that ballet was appreciated in a lesser degree than opera or drama, and that grown-ups talked about it in the same vein as when they spoke of the circus or the operette.“ Benois, Reminiscences, S. 47f.
Besagter Ausschnitt der Besprechung findet sich in Anm. 159.
Vgl. Kapitel II.
Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, S. 488. Taruskin beschreibt in der Folge den Einfluss Savva Mamontovs auf das Gesamtkunstwerksideal der Ballets Russes.
Ebd., Bd. 1, S. 489.
Vgl. Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 106. Haldey postuliert, in der französischen Presse seien die Produktionen der Ballets Russes als wahre Gesamtkunstwerke im Sinne Wagners gepriesen worden. Zur Stützung ihrer These gibt sie Rezensionen von Prince Pieter Lieven und Benua an, in denen beide vom Gesamtkunstwerk der Ballets Russes sprechen. Vgl. Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 106. Die Auffassungen von Taruskin und Haldey werden auch von anderen Wissenschaftlern geteilt. So erwähnt beispielsweise Juliet Koss in ihrer 2010 erschienenen Studie Modernism after Wagner die Ballets Russes und ihr Gesamtkunstwerk mit keinem Wort. Vgl. Juliet Koss: Modernism after Wagner, Minneapolis 2010.
Vgl. Annegret Fauser und Manuela Schwartz: „Einleitung“, in: Von Wagner zum Wagnérisme. Musik. Literatur. Kunst. Politik, hg. von Dies., Leipzig 1999, S. 9–34, hier S. 11.
Vgl. ebd., S. 11.
Bereits in den Opern E.T.A. Hoffmanns oder der frühromantischen Universalpoesie Friedrich Schlegels findet sich der Gedanke von durch die Musik inspirierter Synthese verschiedener Kunstformen. Ein erster schriftlicher Beleg taucht 1827 auf: in der Ästhetik oder Lehre von der Weltanschauung und Kunst des spätromantischen Philosophen Karl Friedrich Eusebius Trahndorff. Vgl. Dieter Borchmeyer: Art. ‚Gesamtkunstwerk‘, in: MGG 2, Sachteil: Bd. 3, Kassel u.a. 1994, Sp. 1282–1289, hier Sp. 1283f. Zur Ideenherkunft des Gesamtkunstwerks vgl. außerdem Matthias Brzoska: Die Idee des Gesamtkunstwerks in der Musiknovellistik der Julimonarchie (Thurnauer Schriften zum Musiktheater, Bd. 14), Laaber 1995 oder die Ausführungen zum Gesamtkunstwerk von Koss, Modernism After Wagner, S. xi–xxix. Vgl. auch Jack M. Stein: Richard Wagner and the Synthesis of the Arts, Detroit 1960; Robert Tallant Laudon: Sources of the Wagnerian Synthesis. A Study of the Franco-German Tradition in 19th-Century Opera, München und Salzburg 1979. Wagner selbst verwendete den Ausdruck erstmals 1849. Vgl. Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft, Leipzig 1850. Rückblickend spielte die Gesamtkunstwerksidee in Wagners Schriften eine weitaus geringere Rolle, als dies vonseiten der Rezeption dargelegt wurde. Vgl. Borchmeyer, Art. ‚Gesamtkunstwerk‘, Sp. 1283f. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts findet sich der Terminus in zahlreichen Enzyklopädien und Handbüchern und wurde damals fast ausschließlich auf Wagner zurückgeführt. Vgl. ebd.
Vgl. Rosamund Bartlett: Wagner and Russia, Cambridge 1995, S. 9–56; Vasilyev, Wiener Moderne, S. 119f.; Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 107.
Bartlett, Wagner and Russia, S. 67. Wenn auch mit einigen Ungenauigkeiten findet sich ein Überblick über Wagners Einfluss auf das russische Silberne Zeitalter bei Bernice Glatzer Rosenthal: „Wagner and Wagnerian Ideas in Russia“, in: Wagnerism in European Culture and Politics, hg. von David Clay Large und William Weber in Zusammenarbeit mit Anne Dzamba Sessa, Ithaca und London 1984, S. 198–245.
Garafola verbindet Djagilevs Gesamtkunstwerksideal unter anderem auch mit Konstantin Stanislavskij: „Diaghilev viewed theatrical unity in rather more prosaic terms than the Wagnerians: That instead of ascribring its achievement to some quasi-mystical Gesamtkunstwerk, he saw it as the work of a ‚producer-autocrat‘, as Stanislavsky referred to himself in recalling his directorial practice of the 1890s and early 1900s.“ Garafola, Diaghilev’s Ballets Russes, S. 159.
Vgl. hierzu Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 8f. sowie Anm. 154.
Vgl. Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 9. Die russischsprachigen Arbeiten, die bis dato erschienen waren, würden Mamontov ebenfalls zu einseitig darstellen. Vgl. ebd., S. 8f.
Vgl. ebd., S. 10. Zur Kritik Haldeys am von Taruskin geprägten Begriff des „neonationalism“ siehe auch Anm. 154.
Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 5 sowie 130–207. Zum Moskovskij Chudožestvennyj teatr vgl. zudem Anm. 192.
Das Schauspielensemble des Meininger Hoftheaters wird seit seinem spektakulären Gastspielerfolg in Berlin 1874 gemeinhin als die ‚Meininger‘ bezeichnet. Vgl. hierzu Alfred Erck und Volker Kern: „Die Meininger Prinzipien“, in: Die Meininger kommen! Hoftheater und Hofkapelle zwischen 1874 und 1914 unterwegs in Deutschland und Europa, hg. von Volker Kern, Meiningen 1999, S. 79–86, hier S. 79. Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen, der Inspirator des Schauspielensembles, fungierte gleichsam als Regisseur, Dramaturg und Ausstattungsleiter des Hoftheaters und gilt als Begründer des modernen Regietheaters. Vgl. Alfred Erck und Volker Kern: „Die ‚Meininger‘ in Europa“, in: ebd., S. 7–33, hier S. 7. Zu den Ähnlichkeiten von Mamontov-Oper und -Inszenierungen sowie den Aspekten, bei denen Haldey einen direkten Einfluss der Meininger-Ästhetik auf Savva Mamontovs Opernproduktionen vermutet, vgl. Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 171–202. Dass sich Mamontov mit dem Konzept des Regietheaters zu befassen begann, führt Haldey vor allem auf den Einfluss der Meininger zurück. Vgl. ebd., S. 192f.
Zu den Gastspielen des Meininger Hoftheaters in Russland vgl. Erck und Kern, „Die ‚Meininger‘ in Europa“, S. 29–33.
Vgl. Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 172.
Vgl. unter anderem John Osborne: The Meiningen Court Theatre. 1866–1890, Cambridge 1988, S. 171f.; Erck und Kern, „Die ‚Meininger‘ in Europa“, S. 32. Zu den Meininger- Prinzipien der Schauspielkunst, die den Wesenskern der Neuerungen ihrer Inszenierungen bildeten, vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen von Erck und Kern, „Die Meininger Prinzipien“, S. 79–86.
Vgl. Haldey, Mamontov’s Private Opera, S. 195–202.
Vgl. Uta Grund: Zwischen den Künsten. Edward Gordon Craig und das Bildertheater um 1900, Berlin 2002, S. 11–21. Zur Literarisierung des Theaters seit der Aufklärung vgl. Ruedi Graf: Das Theater im Literaturstaat. Literarisches Theater auf dem Weg zur Bildungsmacht, Tübingen 1992; Erika Fischer-Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen und Basel 1993, S. 88–98.
Robert Kohlrausch: „Theater und Malerei“, in: Hannoverscher Courier, 1. März 1906, zit. in: Grund, Zwischen den Künsten, S. 21.
Vgl. ebd., S. 12.
Vgl. Zickgraf, „Des Zauberkünstlers Marionetten“, S. 252f.