Hat Igor’ Stravinskij mit dem Choreodrama Le Sacre du printemps tatsächlich sein ‚Theater der Zukunft‘ verwirklicht, in dem er – mit Nižinskij als Relais – sowohl Tänzer als auch Publikum in rauschhafte Bewegung versetzte?
Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage muss Stravinskijs Brief an Andrej Rimskij-Korsakov vom 24. September/7. Oktober 1911 sein. Diesen verfasste er nämlich, kurz nachdem er seine Arbeit am späteren Sacre wiederaufgenommen hatte. In dem Brief fordert er seinen Freund dazu auf, Georg Fuchs’ Der Tanz zu lesen und ermutigt ihn implizit dazu, Fuchs’ dringlicher Aufforderung Folge zu leisten, „neue [künstlerische] Formen“ zu schaffen. Die Spur führt also direkt ins Herz der ‚Theaterreform um 1900‘, einer paneuropäischen Bewegung, die in jenen Schriften und Theaterarbeiten Niederschlag findet, die Ende des 19. Jahrhunderts zunächst in Deutschland, um die Jahrhundertwende dann vermehrt in ganz Europa sowie Russland entstanden, allesamt zum Ziel hatten, das Theaterwesen zu reformieren, und als deren führender deutscher Theoretiker Georg Fuchs gilt. Mit ebendieser Reformbewegung hatte sich Aleksandr Benua, Ballets-Russes-Mitglied der ersten Stunde, schon 1908 beschäftigt. Derselbe Benua hatte damals auch im für Russland maßgeblichen Reformtheatersammelband Teatr. Kniga o novom teatre seinen Essay „Beseda o balete“ veröffentlicht. Und mit ebenjenem Benua hatte Stravinskij ab 1910 intensiv am Ballett Pétrouchka zusammengearbeitet.
Es gibt aber noch weitere Spuren, die von Stravinskij zur Theaterreform führen. So vermerkt zum Beispiel Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch Folgendes: Stravinskij habe Edward Gordon Craig mindestens einmal persönlich getroffen, zwischen seinen und dessen Bestrebungen eine „Art von Verwandtschaft“ empfunden und sogar einer Zusammenarbeit mit ihm offen gegenübergestanden. Kesslers Aufzeichnungen ist ferner zu entnehmen, dass sich auch Sergej Djagilev und Vaclav Nižinskij, die ja an der Realisierung des Sacre maßgeblich beteiligt waren, ab 1911 mit theaterreformatorischem Gedankengut auseinandersetzten und dass sie mit Craig sogar dessen Theorien diskutierten. Auch mit Fuchs lassen sich Djagilev und Nižinskij zusammenbringen: 1912 besuchten die beiden die Bildungsanstalt Hellerau, die der Musikpädagoge Émile Jaques-Dalcroze zwei Jahre zuvor eröffnet hatte. Über jenen Ort kursierte das Gerücht, Dalcroze hätte sich hierfür von Frank Wedekinds unvollendeter Erzählung Mine-Haha. Oder die körperliche Erziehung junger Mädchen beeinflussen lassen – einem Text, den Fuchs in seinem Tanz ausführlich zitiert. Als letzte Spur vom Sacre zu den Reformern erweist sich das Théâtre des Champs-Élysées, in dem das Choreodrama 1913 ja uraufgeführt wurde. Dessen Baupläne von 1911 verweisen auf eine Bühnengestaltung, wie Fuchs sie theoretisch formuliert hatte und wie sie in München (Künstlertheater) und Weimar (Hoftheater) 1908 verwirklicht worden war. Henry van de Velde, der für diese (allerdings nie realisierten) Pariser Pläne verantwortliche Architekt, bewegte sich nachweislich im Umfeld der Reformer.
In Anbetracht der Tatsache, dass die Ballets-Russes-Mitglieder – allen voran Benua, Stravinskij, Djagilev und Nižinskij – nicht nur mit Protagonisten besagter Theaterreform verkehrten, sondern auch deren Texte und Theorien rezipierten und leidenschaftlich diskutierten, muss davon ausgegangen werden, dass jene Bewegung die Werke der Kompanie nachvollziehbar beeinflusst hat. Und tatsächlich: Gleicht man die zwischen 1910 und 1913 entstandenen Ballette – insbesondere den Sacre – mit den Ideen von Craig und Fuchs ab, ergeben sich erstaunliche Parallelen. Stravinskij muss spätestens durch die enge Zusammenarbeit mit Benua an Pétrouchka auf die Theaterreform aufmerksam geworden sein. Der von ihm und Benua für das Ballett so zentral erachtete Aspekt des Magischen und die damit zusammenhängende Kontrolle des Zauberkünstlers über die animierten Marionetten geht mit großer Wahrscheinlichkeit auf die russische Rezeption deutscher Reformschriften zurück, zu denen auch deutsche Übersetzungen der Craig-Schriften gehören. Denn der namensgebende Protagonist des Balletts – die Marionette Pétrouchka, die mit den meisten Gefühlen ausgestattet ist und (deshalb) stark unter der absoluten Macht und Kontrolle des Zauberkünstlers leidet – kann als indirekte Kritik an Craigs Forderung verstanden werden, den Schauspieler durch eine (Über-)Marionette zu ersetzen, um derart als Regisseur die absolute Kontrolle über das Bühnengeschehen zu erhalten. Craigs Über-Marionetten-Idee war (frühestens ab 1905/06 und) spätestens ab 1908 in jenen theateraffinen Kreisen Russlands diskutiert worden, denen Benua angehörte.
Dann, noch vor dem 2./15. Juli 1911, muss Stravinskij Fuchs’ Tanz gelesen und sich für dessen Forderungen begeistert haben. Fuchs zielte mittelfristig auf eine gesteigerte Körperlichkeit der Gesellschaft und langfristig auf eine Erneuerung der (deutschen) Kultur. Als Vermittlungsinstanz hierfür hatte er eine „Schaubühne modernen Stils“ auserkoren: Auf ihr sollte die „selbständig schöpferische“ Frau in einer neuen Form tanzen, um so zum Vorbild für die künftige Kultur zu werden. Und so fordert er mit „formaler Zeugungskraft“ begabte Individuen dazu auf, die von ihm gewünschten „neuen Tanzformen“ zu entwickeln. Sie sollten völlig frei von Vorbildern sein, und ihre Bewegungen sollten sich aus dem unbewussten Inneren heraus entwickeln sowie gleichzeitig die Rhythmen der Musik widerspiegeln. Der Rausch(zustand), wie er sich im neuen Tanz (der Frau) auf der neu gestalteten Schaubühne manifestieren würde, sollte dann auf das Publikum übertragen werden, um so in einem alle Anwesenden umfassenden Gemeinschaftsrausch zu münden. Vieles spricht dafür, dass es die Fuchs-Lektüre war, durch die Stravinskij sich im Juli 1911 bemüßigt fühlte, die Arbeit am bereits 1910 gemeinsam mit Nikolaj Rerich skizzierten Ballett Das große Opfer wiederaufzunehmen und sich für den daraus hervorgehenden Sacre vorzunehmen, die vom deutschen Reformer geforderten „neuen (Tanz-)Formen“ zu verwirklichen. Denn wesentliche Umentscheidungen, die Stravinskij in jenem Sommer das Werk betreffend getroffen hatte, lassen sich problemlos aus dem Tanz herleiten – so etwa seine plötzliche Abneigung gegenüber Michail Fokin und die daraus resultierende Ernennung Nižinskijs zum neuen Choreografen, die in Musik und Tanz bis zur Unkenntlichkeit reichende Manipulation der folkloristischen Vorbilder, das berühmte Fagottsolo zu Beginn der Introduction, die für die Danse de la terre beschriebene Tanzekstase am Ende des ersten Bildes oder der Höhe- und Schlusspunkt des Balletts: der Tanz der (Jung-)Frau. Des Weiteren deutet Nižinskijs Herangehensweise an die Choreografie darauf hin, dass zusätzlich der von Craig herrührende Aspekt der Kontrolle beim Sacre eine Rolle spielt: Nižinskij sprach sich zwar dagegen aus, seine Tänzer durch leblose Marionetten zu ersetzen; aber er wollte die ihm zur Verfügung stehenden (lebendigen) Tänzer durch seine choreografischen Anweisungen dergestalt bearbeiten, dass sie ihm willenlos – und damit wie fremdgeleitete Marionetten – gehorchten. Komponist und Choreograf gedachten also, im Werk drei Reformforderungen umzusetzen: (1.) die Kontrolle der Bewegungen (durch die Rhythmen der Musik); (2.) das Schaffen neuer (Tanz-)Formen ohne Vorbilder, die sich im Zustand der Hypnose entwickeln und die von der Musik ausgehenden Rhythmen widerspiegeln sollten; und (3.) das Integrieren des (Theater‑)Publikums ins Bühnengeschehen – mittels eines Gemeinschaftsrauschs.
Diese drei Punkte manifestieren sich nicht zuletzt auch in der Musik selbst: Schon eine stichprobenartige Analyse zeigt, dass das von Anfang an präsente und im Gesamtverlauf sich steigernde Verzahnen und Gegeneinanderausspielen von irregulären und regulären Strukturen im Sacre den abschließenden Gemeinschaftsrausch von Tänzern und Publikum begünstigt, da der Zuhörer bzw. Zuschauer spätestens am Ende der Danse sacrale nicht mehr in der Lage ist, zu entscheiden, was wirklich Fixpunkt ist und was sich (nur) um diesen bewegt. Auch in den Rezensionen der ersten Sacre-Aufführungen können Kontrolle, Hypnose und Gemeinschaftsrausch ausgemacht werden. Hinzu kommt, dass sowohl französische als auch russische Kritiker – wenngleich mit umgekehrtem Vorzeichen – den Sacre als qualitativen Sprung in der Ästhetik der Ballets Russes wahrgenommen hatten: die einen eher negativ, die anderen vermehrt positiv. Und es fällt auf, dass einige Rezensenten den Sacre bzw. die auf der Bühne ausgeführten Bewegungen als mechanisch beschrieben hatten – ein weiterer Punkt, der darauf hindeutet, wie sehr sich Stravinskij und Nižinkij die Ideen der Reformer einverleibt hatten: Durch die von Craig angeregte Kontrolle der Musik sind die von Fuchs inspirierten unbewusst agierenden Subjekte in ihren Gesten nicht mehr von fremdgeleiteten (und unbelebten) Automaten zu unterscheiden. Und so erklärt schließlich Stravinskijs (von der Theaterreform inspirierte) Beschäftigung mit Tänzern, die Bewegungsautomaten gleichen, auch seine Faszination für Musikautomaten bzw. seine langjährige Beschäftigung mit dem Pianola. Tatsächlich griffen die Ballets Russes mit dem Sacre also einer mechanistischen Ästhetik vor, die in Musik, Kunst und Theater merklich erst in den 1920er-Jahren in Erscheinung treten sollte – so etwa in den Theaterexperimenten der sowjetischen Avantgarde, in den insbesondere unter Oskar Schlemmer entstandenen Theaterarbeiten am Bauhaus, in den vielfältigen Arbeiten der Novembergruppe oder in (teils dazugehörigen) Kompositionen von George Antheil, Aleksandr Mosolov, Paul Hindemith oder Hans-Heinz Stuckenschmidt.707
Fest steht: Der Sacre kann ohne die Theaterreform nicht vollständig verstanden werden. Nicht nur hatten sich Stravinskij und Nižinkij hierfür dezidiert mit einigen ihrer zentralen Forderungen auseinandergesetzt; auch die oft beschworene radikale Modernität des Werks muss zwingend auf sie zurückgeführt werden. Und so stellt sich freilich die Frage, in welchem Maße dies auch für weitere Ballets-Russes- oder Stravinskij-Werke gilt. Eine befriedigende Antwort darauf müsste selbstverständlich Erkenntnisse aus Musik-, Tanz- und Theaterwissenschaft sowie anderen benachbarten Disziplinen gleichberechtigt berücksichtigen – genauso wie jede zukünftige Auseinandersetzung mit dem Sacre so interdisziplinär wie möglich sein muss, um sein ursprüngliches Wesen (noch) umgreifender zu erfassen.
Offen bleibt bei alledem, was dies für die (Aufführungs-)Praxis bedeutet: Ist nun jeder konzertant aufgeführte Sacre zweifelhaft, weil der Tanz auf der Bühne fehlt? Oder korrumpiert eine Sacre-Choreografie, bei der die Musik vom Band erklingt, das Gesamtkunstwerksideal von 1913?
Möglicherweise stehen solcherlei Fragen aber gar nicht zur Debatte, berücksichtigt man einen Hinweis des Kunsthistorikers Neil MacGregor. In seiner populären History of the World in 100 Objects beschreibt er die javanische Schattenspielfigur Bhima.708 Derartige Figuren hatte Gordon Craig gesammelt und studiert,709 und höchstwahrscheinlich war er mit dem javanischen Schattentheater sogar schon vertraut, als er 1905/06 seine Über-Marionette erdachte.710 MacGregor erzählt, dass bei Aufführungen die Schatten der etwa 70 Zentimeter großen Marionetten mithilfe einer Lichtquelle auf ein weißes Tuch geworfen worden seien und der Puppenspieler dann sowohl Puppen hätte bewegen als auch das dazu aufspielende Gamelanorchester hätte dirigieren müssen. Als Zeugen für diese anspruchsvolle Aufgabe zitiert er den javanischen Musiker und Gamelanexperten Sumarsam:
You need to control the puppets themselves, sometimes two, three or sometimes up to six puppets at one time, and the puppet master will have to know when to give a signal to the musicians to play. […] He will have to use his arms and legs […]. It’s fun to do it, but also a fairly challenging task. The stories can be updated, but the structure of the plot is always the same.711
Es mag zu weit gehen, Stravinskij mit einem solchen Puppenspieler zu vergleichen – trotz der Tatsache, dass Craig als Mittelsmann nach Java zur Verfügung stünde. Jedoch gerade die heutige Sacre-Aufführungspraxis betreffend, scheint ein Zusammendenken jener zwei Welten gar nicht allzu abwegig. Denn, wie Sumarsam ganz richtig formuliert, the stories can be updated – ob nun konzertant, als Performance oder gar als Ballett. Aber der plot, die Struktur des Stücks – und damit Stravinskijs (auf den körperlich erfahrbaren Gemeinschaftsrausch abzielende) Partitur –, bleibt unverändert bestehen.
Stellt man den Sacre in den Kontext der Theaterreform um 1900, scheinen – zumindest auf den ersten Blick – einige Parallelen zu anderen Theaterproduktionen der Zeit sichtbar zu werden. Obwohl es durchaus vielversprechend wäre, sie alle näher zu untersuchen, konzentriert sich diese Arbeit auf das Aufzeigen der Verbindungslinien zwischen Ballets Russes und Theaterreform, um eine solide Basis für weiterführende Untersuchungen zu gewährleisten. Der zeitgleich stattfindende Futurismus, insbesondere in seiner russischen Ausprägung als Kubo-Futurismus soll an dieser Stelle dennoch nicht unerwähnt bleiben. Diese Bewegung war, wie Wolfgang Mende treffend formuliert, „von einem Lebenserneuerungsimpuls getragen, der auf die Entfesselung ungebändigter Kreativität und Intuition zielte“ und fand ihren Höhepunkt 1913 mit der Uraufführung der Oper Pobeda nad solncem (Der Sieg über die Sonne) in Sankt Petersburg. Vgl. Wolfgang Mende: Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur, Köln, Weimar und Wien 2009, S. 42–59. Die Oper sollte „den Sieg über die klassische Kunst veranschaulichen“. Thematisiert wurde u.a. der ‚Kraftmensch der Zukunft‘, der sich in der technischen Welt sein eigenes Energiezentrum erschaffen hat und deshalb die Sonne – das alte Energiezentrum – vom Himmel reißt. Vgl. Brauneck, Die Welt als Bühne, Bd. 4, Stuttgart 2003, S. 771–782.
Vgl. Neil MacGregor: A History of the World in 100 Objects, London 2011, S. 539–544, vor allem S. 539f.
Vgl. Taxidou, The Mask, S. 150–154.
Dies mutmaßt Matthew Isaac Cohen: Performing Otherness. Java and Bali on International Stages. 1905–1952, New York 2010, S. 41. Von Craigs Faszination an (diesen und anderen) Marionetten zeugen unter anderem die Dorothy Nevile Lees Papers Relating to Edward Gordon Craig and The Mask, MS Thr 423, Harvard Theatre Collection, Houghton Library, Harvard University.
Zitiert nach MacGregor, A History of the World in 100 Objects, S. 540f.