Virginia Woolf und das Abenteuer der Moderne, dargestellt an Mrs Dalloway

In: Abenteuer in der Moderne
Author:
Tobias Döring
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Strand

Wer sich auf die Verkehrsmittel von London einlässt, kann viel erleben und erzählen.1 Zum Beispiel dies:

Suddenly Elizabeth stepped forward and most competently boarded the omnibus, in front of everybody. She took a seat on top. The impetuous creature – a pirate – started forward, sprang away; she had to hold the rail to steady herself, for a pirate it was, reckless, unscrupulous, bearing down ruthlessly, circumventing dangerously, boldly snatching a passenger, or ignoring a passenger, squeezing eel-like and arrogant in between, and then rushing insolently all sails spread up Whitehall. […] She was delighted to be free. The fresh air was so delicious. It had been so stuffy in the Army and Navy Stores. And now it was like riding, to be rushing up Whitehall; and to each movement of the omnibus the beautiful body in the fawn-coloured coat responded freely like a rider, like the figure-head of a ship, for the breeze slightly disarrayed her; the heat gave her cheeks the pallor of white painted wood; and her fine eyes, having no eyes to meet, gazed ahead, blank, bright, with the staring incredible innocence of sculpture.

[…] Oh, she would like to go a little farther. Another penny was it to the Strand? Here was another penny, then. She would go up to the Strand.2

London 1923, Mitte Juni, ein früher, ungewöhnlich warmer Sommertag. Im Bus fährt Elizabeth Dalloway, Tochter aus gutem Hause, ihr Vater ein gestandener Politiker der regierenden Konservativen, die Mutter eine ausgewiesene Gesellschaftsdame, auf deren Abendempfängen der Premierminister selbst verkehrt. Elizabeth aber ist siebzehn und macht Pläne fürs Leben: etwas mit Tieren am liebsten oder mit Kranken, Tierärztin also, das wäre das Richtige! Eine Frau ihrer Generation kann einfach alles werden, was sie will. Die Welt erwartet sie, und sie ist längst bereit.

Verkehrstechnisches Sinnbild dieser Zukunftsoffenheit ist ihr der Omnibus, ein mächtiges Vehikel, das ungestüm, verwegen, ja piratenhaft die Londoner Prachtstraßen durchbraust, dass ihr auf dem freien Oberdeck der Fahrtwind frisch entgegenweht – eine Wohltat nach der stickigen Enge im Kaufhaus, dem sie gerade entkommen ist, den Army and Navy Stores in Victoria Road, Sinnbild der großbürgerlichen Herkunft. Wohin sie fahren will, bedenkt sie erst, als sie der Schaffner nach dem Fahrgeld fragt: „Another penny was it to the Strand? Here was another penny, then. She would go up to the Strand.“ Der liminale Name dieser Straße, der tatsächlich ‚Strand‘ bedeutet – historisch führte sie am Flussufer entlang3 – ist Programm und setzt den Fluchtpunkt für die Aufbruchsphantasien der gesamten wild durchträumten Buspassage: „She would become a doctor, a farmer, possibly go into Parliament if she found it necessary, all because of the Strand.“4

Mrs Dalloway, erschienen 1925, ist als Abenteuerroman ebenso wenig geläufig wie Virginia Woolf als Abenteuerautorin bekannt sein dürfte. „The Strand“ aber – und der bestimmte Artikel gehört wirklich zum Straßennamen – ist Woolf-Lesern vertraut: Die erste Zeile des ersten Kapitels ihres ersten Romans, The Voyage Out (1915), erwähnt ihn gleich, da wir einem urbanen Paar begegnen, das auf dem Weg zu einem Transatlantikfrachter The Strand überquert.5 Inmitten der Großstadt, im Herz der imperialen Metropole, markiert The Strand eine versandete, doch weiterhin spürbare Schwellenlinie für Überschreitungsbewegungen ins Weite und legt eine Erinnerungsspur zu den Meeresabenteuern, denen diese Weltstadt ihre Weltbezüge verdankt. Auch 1923, fünf Jahre nach dem Weltkriegsende, das zugleich die Endphase des Empire einleitet, brechen derartige Erinnerungen unerwartet in den Großstadtalltag ein, wie in Elizabeths zitierter Piratenphantasie, deren klangvolle Rhetorik selbst wie ein Zitat, aus Treasure Island beispielsweise, wirkt.

Tatsächlich hat man Robert Louis Stevenson als prägenden Einfluss auf die Vorstellungswelten ausgemacht, wie Woolfs Romane sie entwerfen.6 Insbesondere To the Lighthouse (1927), heißt es, sei von Stevenson durchdrungen, der einer Familie schottischer Leuchtturmkonstrukteure entstammt – sein Großvater hatte einst Walter Scott zu einem selbstgebauten Leuchtturm auf die Hebriden mitgenommen, was diesen zu seinem Klassiker The Pirate inspiriert haben soll7 – und der sich emphatisch zu diesem Erbteil bekannte. Das wird man von Woolf nicht sagen können, auch wenn ihr Vater Stevenson sehr schätzte und ihm einen wichtigen Essay widmete.8 Gleichwohl ist auch Woolfs Erzählwerk reich an Reiserouten, seltsamen Zusammentreffen oder fernen Sehnsuchtsorten wie dem besagten Leuchtturm – ein erzählerisches Repertoire aus abenteuerlichen Elementen, wofür Juliet Dusinberre eine starke Inspirationsquelle entdeckt hat: Alice in Wonderland von Lewis Carroll. Denn dieser viktorianische Reisetext von 1865 war nicht nur für Woolf, sondern die gesamte Generation der Modernisten ein zentrales Buch der Kinderstube,9 mit dem sie gewissermaßen lesen, wenn nicht erzählen, gelernt haben mögen.

Festzuhalten bleibt auf jeden Fall, dass nicht nur etliche Romantitel von Woolf – The Voyage Out, To the Lighthouse, The Waves – ganz wie Abenteuer-Allusionen klingen, sondern dass sich auch in dem Bewusstseinsstrom ihrer urbanen Protagonisten immer wieder Auf- und Ausbruchsphantasien finden. Wenn schon eine Fahrt im innerstädtischen Nahverkehr von vielleicht drei Kilometern zu derart überschäumender Euphorie einer wahren Abenteuer-Imitatio verleitet – „all because of the Strand“ –, dann ist generell zu fragen, was das Abenteuer in die oder in der Moderne treibt. Dieser Frage soll mein Beitrag weiter nachgehen und somit wagen, Woolf doch einmal aus Abenteuersicht, also vom Schiffsdeck – oder vielleicht besser: Omnibusdeck – aus zu erkunden. Und wie bei jeder Reise gilt es dazu erst, den Ausgangspunkt des Unternehmens, den Heimathafen also, zu bestimmen.

Hafen

„Make it new“ – so formulierte Ezra Pound den Leitspruch der neuen kulturellen Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts.10 Was immer die ansonsten heterogenen Künstlertemperamente und Projekte unterscheiden mag, die unter der Flagge ‚Modernism‘ oder ‚Modern Movement‘ segeln, im Imperativ zu einem emphatisch Neuen finden sie sämtlich zusammen. Virginia Woolf hat ihrerseits kaum je eine Gelegenheit versäumt, diesen Anspruch zu bekräftigen und in Erzählprosa umzusetzen. Ihr Werk setzt einen starken Akzent auf das Jetzt, das Hier und Heute, Augenblickliche, „an incessant shower of innumerable atoms“, wie eine ihrer bekanntesten Formulierungen lautet; „and as they fall, as they shape themselves into the life of Monday or Tuesday, the accent falls differently from of old.“11 Unermüdlich stellt sie diese Differenz zum Alten aus. „We are sharply cut off from our predecessors“,12 schreibt sie an anderer Stelle und liefert einen Traditionalisten wie Mr Dalloway, dem es behagt, von Nachkommen der Angelsachsen aus dem 5. Jahrhundert regiert zu werden – „he liked being ruled by the descendants of Horsa; he liked continuity; and the sense of handing on the traditions of the past“13 –, unerbittlichem Spott aus. Folgerichtig nimmt sie ihren einzigen historischen Roman, die Biographie Orlando (1928), vornehmlich zum Anlass für ein kühnes Kontinuitätsexperiment über die Jahrhunderte und die Geschlechter und lässt den Geschichtsverlauf, den er erzählt, exakt mit dem realen Erscheinungsdatum des Romans in die Verlaufsgeschichte, der er angehört, einmünden; seine letzten Worte lauten: „Thursday, the eleventh of October, Nineteen hundred and Twenty Eight.“14 Gegenwärtiger kann Literatur nicht sein.

Im Zuge dieser Gegenwartsfixierung im doppelten Wortsinn – denn die Fixierung auf die Gegenwart folgt dem beständigen, vielleicht verzweifelten Bemühen um eine Fixierung des Gegenwärtigen – werden zugleich auch das Repertoire und Handlungsmuster der alten Abenteuertradition verabschiedet. Zielscheibe der Kritik ist vor allem das Konzept weltverändernder, weltgestaltender Handlungskraft, das Individuen mit Vollmachten, Erbschaften, Einkünften und Garderobe sowie Romane mit Plotmustern ausstattet, die unter den veränderten Prämissen der Zeit nicht mehr tragbar sind. In diesem Sinne erklärt Woolf in Modern Fiction (1919) die Erzählkonventionen oder eher ‑zwänge, denen ein Mr. Bennett unterliege, zum „unscrupulous tyrant who has him in thrall, to provide a plot, to provide comedy, tragedy, love interest, and an air of probability“,15 mithin alles Elemente, die Romane der Moderne abzuschütteln haben wie ein Sklave die Ketten. Was aber ist dann zu erzählen? Worauf sollen sich erzählerische Energien richten? „Monday or Tuesday“, das führt bestenfalls zu „Wednesday“ und „Thursday“: Wie lassen sich bei dieser Ausrichtung aufs Alltagsaugenblickliche, aufs Flüchtige und Unbestimmbare der fallenden Atome jemals Tiefenschichten des Vergangenen erschließen?

Dazu nimmt Woolf in Mr. Bennett and Mrs. Brown Stellung, einem Erzählmanifest, dessen Entstehung mit Mrs Dalloway zeitlich zusammenfällt. Womöglich wäre der Roman daher als eine Suchbewegung lesbar, um sich Antworten auf solche Fragen anzunähern. Aufschlussreich für unseren Zusammenhang ist jedenfalls, dass auch in diesem Manifest ein Verkehrsmittel den zentralen Reagenzraum bildet: nämlich der Zug bzw. das Zugabteil, in dem Woolf jener älteren Dame gegenübersitzt, die sie Mrs. Brown nennt und deren „overwhelming and peculiar impression“16 ihr den Anreiz zur Skizzierung einer modernistischen Romanpoetik bietet. Auch hier ist es also ein Mobilitätsvehikel, das unvermittelt sehr viel weitergehende Bedeutung transportiert – „I believe that all novels begin with an old lady in the corner opposite“17 –, weshalb wir gut beraten sind, die Verkehrsmittel bei Woolf tatsächlich ernst zu nehmen. Was aber hat die alte Dame namens Brown erlebt, bevor sie in den Zug stieg?

Was diese Frage anbelangt, also historische Zeitschichten, frühere Begegnungen oder Erfahrungen des Gegenwartspersonals, die zu biographischen Erinnerungen sedimentiert sind, so hat Woolf im Arbeitsprozess an Mrs Dalloway lange gerungen, eine erzählerische Strategie zu schaffen oder finden, die ihr diese Dimension erschließt, ohne die Figuren, wie in den Werken eines Mr. Bennett, deterministisch zu umstellen. Im Oktober 1923 gelingt ihr endlich der Durchbruch, wie ein berühmter Tagebucheintrag festhält:18 „It took me a year’s groping to discover what I call my tunnelling process, by which I tell the past by instalments, as I have need of it. This is my prime discovery so far;“19 und schon sechs Wochen vorher feiert sie diese Entdeckung:

how I dig out beautiful caves behind my characters; I think that gives exactly what I want; humanity, humour, depth. The idea is that the caves shall connect, & each comes to daylight at the present moment.20

Höhlen, unterirdische Verbindungen, dunkel verzweigte Passagen, die unvermittelt an die Oberfläche brechen und Verborgenes preisgeben: darin findet Woolf die Lösung, erzählerische Chronologie zugunsten einer „Gleichzeitigkeit im Erzählakt“21 zu überwinden, ein Bild, das Elfi Bettinger als „Bergbau-Metapher“22 bezeichnet. Es bezieht sich offenkundig auf die vielen Analepsen oder flashbacks, mit denen der Roman die Bewusstseinsprotokolle der diversen Londoner Spaziergänger, denen er im Laufe eines einzigen Tages folgt, durch Erinnerungsfragmente unterbricht und unterfüttert. Was mich jedoch vor allem interessiert, ist die bemerkenswerte Metaphorik, in der die Autorin ihren Konzeptions- und Schreibprozess selbst als Entdeckungsfahrt darstellt – „my prime discovery“ – und obendrein eine, auf der sie tastend sich voranbewegen muss – „groping“ –, da ihr das Ziel nur undeutlich vor Augen steht.

Bei aller Vehemenz also, mit der sie die Erzählzwänge des alten Abenteuers für die Gegenwartsliteratur zurückweist, erzählt Woolf ihrem Tagebuch von ihrer eigenen Arbeit just in einem solchen Muster und entwirft selbst einen Plot, der ihr die alte Rolle des Entdeckers neu bereitstellt und die erzählerischen Möglichkeiten, die sie als Autorin schafft und nutzt, in der Rhetorik klassischer Explorationen ausweist. Grund genug, auch die Romane, die dem Programm des Neuen folgen, nochmal mit Augenmerk aufs Alte zu betrachten.

Ausfahrt

Tatsächlich fällt es gar nicht schwer, in etlichen von Woolfs Romanen ein latentes Gegenprogramm zu ihrer manifesten Programmatik auszumachen, zumindest gegenstrebige Tendenzen zur proklamierten Plot- und Heldentumsverwerfung, die den Texten eine Ebene abenteuerlicher Traditionsreminiszenzen einzieht.23 Am deutlichsten, kaum überraschend, im Debütroman The Voyage Out, der anhand seiner Protagonistin Rachel Vinrace das metaphorische Erzählmuster „Leben als Reise“24 ausgestaltet und dazu konstitutiv auf Elemente, ja Zitate aus der alten Entdeckerliteratur zurückgreift, samt Flussfahrt in den Dschungel und der Topik eines jungfräulichen Landes. So führt die vierwöchige Passage über den Atlantik nicht allein nach Südamerika, sondern zugleich in entfernte Zeiten, zu den Träumen und Triumphen elisabethanischer Seehelden. Bei der Ankunft nämlich wird das gegenwärtige Ereignis prompt von Phantasien überwuchert, wie dieser Augenblick und diese Küste sich wohl damals dargestellt haben, als die ersten englischen Segler sie erreichten, „for the country was still a virgin land behind a veil“:25 die Neue Welt aus Sicht der Alten.

Der Erzähltext lässt sich hier erkennbar von Sir Walter Raleigh inspirieren, dem elisabethanischen Glücksritter und Intellektuellen, der seine Entdeckung von Guiana 1596 in die berühmte Formel fasste, „a country that hath yet her Maidenhead, never sacked, turned, nor wrought; […] the graves have not been opened for gold […], nor their Images pulled down out of their temples“26 (und dabei, bemerkenswerterweise, dem angeblich unberührten Land gleichwohl eine kulturelle Vergangenheit – denn woher sollten sonst die Gräber oder Tempel stammen? – zuschrieb). Für solche textuellen Anleihen nutzt Woolf eine sehr bekannte frühneuzeitliche Quelle,27 The Principal Navigations, Voyages and Discoveries of the English Nation, erstmals 1589 erschienen, anschließend oft erweitert und neu aufgelegt, eine vielbändige Sammlung einschlägiger Reise-, Entdeckungs- und Expeditionsberichte aus aller Welt, die ein Oxforder Gelehrter namens Richard Hakluyt einst zusammenstellte und herausbrachte, seither ungebrochen populär und seit dem späten 19. Jahrhundert, vor allem durch den konservativen Historiker James Anthony Froude, zu einem Nationalepos englischer Heldenhaftigkeit erhöht.

Zu den begeisterten Lesern dieser Sammlung zählten nicht nur viele kleine Jungs, die von großen Abenteuern träumen, sondern auch die junge Virginia Stephen, wie sie selbst bekennt: „I became enraptured […]. I used to read it & dream of those obscure adventures.“28 Und nicht nur als Teenager, sondern auch im weiteren Leben liest sie Hakluyt, viele tausend Seiten, immer wieder und schreibt nicht weniger als sechs Essays darüber.29 Als das Times Literary Supplement ihr 1918 eine Neuausgabe von Froudes English Seamen in the Sixteenth Century (zuerst 1895) zur Rezension schickt, jenes Buch also, das Hakluyts Seefahrer zu fahrenden Rittern umschreibt und nationalistisch zelebriert, nutzt sie die Gelegenheit, dagegen die Lebendigkeit der einfachen Seeleute herauszustellen, deren Schiffs- und Alltagsleben wir in dieser Sammlung kennenlernen.30 Wie also wirkt eine derart passionierte Lektüre, die man vielleicht nicht von vornherein bei Woolf vermutet hätte, auf ihre eigenen Erzählprojekte?

Am stärksten zweifelsohne auf Orlando,31 „her supreme adventure“,32 die biographische Fiktion also, die ihre Modellierung durch die „Tudor Voyages“,33 durch Ritterromanzen, Entdeckergeschichten, Heldenepen sowie Seefahrtsabenteuer am selbstverständlichsten und witzigsten ausstellt. Das beginnt damit, dass der Roman genau zu dem Zeitpunkt einsetzt, da Hakluyts Reisende tatsächlich reisten (noch nicht schrieben), und zeigt sich in vielen Details, beispielsweise in den muskovitischen Passagen des ersten Kapitels, die von den frühen Russlandberichten gesättigt sind. Auch viele spätere Passagen, wie das viktorianische fünfte Kapitel, nutzen die Nährlösung alter Reise- und Abenteuerphantasien und finden in Orlandos verwegenem Gatten namens Marmaduke Bonthrop Shelmerdine – „there was something romantic and chivalrous, passionate, melancholy, yet determined about him which went with the wild, dark-plumed name“34 – einen klaren Kristallisationspunkt: „his life was spent in the most desperate and splendid of adventures“,35 wie beispielsweise der beständigen Umsegelung von Kap Horn, die er zur Veranschaulichung gern mit Trockenlaub und Stöckchen auf dem Rasen daheim nachspielt.36

Interessant sind solche offen parodistischen Tendenzen nicht zuletzt, weil sie den parodistischen Zug aufnehmen und fortsetzen, der sich bereits in dem Renaissanceepos findet,37 das den ritterlichen Quellcode für Woolfs moderne Version bildet, wie gleich ihr Titel offenlegt: der Orlando Furioso von 1516, der ihrem Helden bzw. ihrer Heldin auch den Namen gibt. Das beziehungsreiche Spiel, das Woolf hier mit der noblen Genealogie ihrer Geliebten Vita Sackville-West, dem Gender der Hauptfigur, dem Genre der romance und speziell mit dem Ariost-Epos treibt, ist verschiedentlich schon untersucht worden.38 Daher genügen zwei Details. Erstens, dass dieses intertextuelle Abenteuernetz einen Ankerpunkt in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die der Roman einfängt, umspielt: In Knole House, dem Stammsitz der Familie Sackville, daher Vitas Geburtsort und Orlandos Zuhause, ist ein Raum mit Wandteppichen ausgestattet,39 die tatsächlich Szenen aus Orlando Furioso zeigen und selbstredend im Roman – gleich zu Beginn und dann einmal pro Kapitel40 – erwähnt werden. Das Teppichtextil, das schon Ariost, der seine Erzählfäden bekanntlich von Boiardo übernahm, zur Selbstdeutungsfigur seines Epentextes diente,41 gibt auch dem modernen Text die Schreibanleitung, um die Erzählwelt mit alten Ritterbildern auszustatten und deren Handlungs- wie Erscheinungsmuster fortzuweben: das Prätextil stellt die erforderlichen Abenteuerfäden zur Verfügung, sie brauchen nur noch neu verknüpft zu werden.

Zweitens aber, und dies ist meine eigene Vermutung, kann der Akt der Namens- sowie Titelgebung, Orlando, der eine zeitgenössische Person ostentativ mit einer episch-mythologischen Maske versieht, auch als Reverenz, sei sie emphatisch oder ironisch, an den größten modernistischen Roman gelesen werden, der für eben diesen Akt notorisch ist: Joyces Ulysses (1922), den Woolf, wie man weiß, mit besonderer Aufmerksamkeit las und in Modern Fiction selbst als Beispiel jener neuen, zeitgemäßen Romanpoetik anführt,42 der auch sie zustrebt. Allen voran ist Mrs Dalloway Ausdruck und Agent dieses Bestrebens und ist offenkundig unter dem Eindruck von Ulysses konzipiert.

Damit komme ich auf mein Zentralbeispiel zurück, den vorsätzlichen Großstadt- und Gegenwartsroman, in dem doch ein ganz anderer Wind weht, in dem sich keine alten Wandteppiche finden, keine Ritterreminiszenzen oder Kap Horn-Romanzen, der von Alltagszug durchlüftet und von Verkehrslärm durchzogen ist: an diesem Roman muss sich meine These, dass Woolfs Erzählkunst der Moderne weiterhin im Kraftfeld alter Abenteuer kreist, erst eigentlich bewähren. Bei Orlando und The Voyage Out steht das ernsthaft nicht in Frage, bei Mrs Dalloway durchaus, dem herausragenden Beispiel für Woolfs „ethics of the ordinary“,43 der erzählerischen Würdigung von zeitgenössischer Alltäglichkeit. Diese Agenda ist womöglich allein daraus schon ersichtlich, dass der Roman schlicht mit dem Titel Mrs Dalloway versehen ist, was die Titelfigur zwar der patriarchalen Namensgeberschaft des Ehegatten unterstellt, wie sie selbst in Bond Street räsoniert,44 nicht aber wie Joyces Mr Bloom einer antiken Deutungsdominanz unterwirft, denn der Titel lautet nicht etwa Penelope oder Ariadne oder dergleichen. „Down, down, into the midst of ordinary things“:45 hier ist viemehr der Gegenwartsalltag Programm.

Denken wir nur an die Wochentage, „Monday or Tuesday“, wie in Modern Fiction zelebriert; Monday or Tuesday ist ja ebenfalls der Titel einer Sammlung von acht Kurzgeschichten, die Woolf 1921 herausbringt. Und Wochentage sind es auch, die Clarissa Dalloway zum Ausdruck höchsten Lebensglücks gereichen: „that one day should follow another; Wednesday, Thursday, Friday, Saturday; that one should wake up in the morning; see the sky; walk in the park; […] it was enough.“46 Wem es genug ist, dass ein Tag dem andern folgt und dass man jeden Morgen aufwacht, den wird man schwerlich einen Abenteurer nennen wollen. Es muss damit zusammenhängen, dass Mrs Dalloway im Kern eine Geschichte über Fifty-Somethings ist, „a novel about the pain of aging“,47 dass ein Spaziergang durch den Park und ein paar Blumen bereits so beseligen, dass man seitenweise davon lesen mag. Denn natürlich sind sämtliche Geringfügigkeiten, die hier ausgebreitet werden, keinem trotzigen Beharren auf dem bloß Banalen geschuldet, sondern folgen dem emphatischen Bekenntnis zur Erleuchtungskraft des Prosaischen, den Epiphanien, die das erzählerische Weltprogramm einlösen. Genau darin sieht bekanntlich Erich Auerbach die Strategie aller modernen Wirklichkeitsdarstellung, die er an To the Lighthouse aufzeigt: dass sich das Vertrauen der Erzählung von äußeren Wendepunkten auf alltägliche Vorgänge verlagert,48 weshalb ein „ganz geringfügiges Ereignis“,49 wie die Länge eines braunen Strickstrumpfs auszumessen, zugleich das anders nicht mehr greifbare Gesamtmaß der Erzählwelt angibt.

In dieser Perspektive allerdings wird es für meine These schwer, vielleicht unmöglich, Abenteuermuster oder -energien im modernistischen Erzählen zu behaupten. Mrs Dalloway, darauf kann man sich ohne weiteres verständigen, wäre in dieser Perspektive geradezu der Antiabenteuerroman. Dennoch ist das nicht die einzige Perspektive und nicht die einzig mögliche Lesart des Romans; oftmals und oft unvermittelt öffnet er den Blick auf andere, abgründige Textschichten. Beispielsweise wenn an diesem warmen Sonnentag eine mediterrane Neulondonerin wie Rezia Smith plötzlich von der finsteren Vorzeit ihrer neuen Heimat heimgesucht wird – „the country reverts to its ancient shape, as the Romans saw it, lying cloudy, when they landed, and the hills had no names and rivers wound they know where – such was her darkness“,50 womit offenkundig Joseph Conrads Heart of Darkness (1899) in Woolfs Alltagsprosa einbricht, bis hin zum Ausruf „Horror! horror!“51, den schon Conrads Abenteurer im fernen Schreckenszentrum hören muss –, dann wird die sommerliche Stadt zu einer Echokammer, in der sich auch erschreckend dunkle, fremde Stimmen brechen. Das sollte uns zum Aufbruch ins erneute Lesen fordern.

Meer

Nicht erst auf ihrer Abendgesellschaft erscheint Clarissa Dalloway als „mermaid“;52 auch wenn sie den Londoner Verkehr betrachtet, überkommt sie immer das Gefühl „of being out, out, far out to sea and alone“.53 Ihre Tochter ist also bei weitem nicht die einzige, wie anfangs zitiert, die eine urbane Erfahrung in ihrer Vorstellung zu einer maritimen umschreibt. Die Meeresmetaphorik ist vielmehr allgegenwärtig, umspielt und umspült viele Details des erzählerischen Raums, der sich damit nicht nur auf die Realia der Londoner Großstadttopographie beziehen lässt, sondern zugleich metaphorische Bezüge zu einem konsistenten Bildfeld formt, für das der Titel The Waves schon ebenso zutreffend wäre wie für Woolfs späteren Roman (von 1931). So fasst Elfi Bettinger in ihrer Studie zu Woolfs Metaphorik den Befund zusammen: dass ‚Wasser‘ in allen Konfigurationen „den absolut privilegierten Bildspender“ in Mrs Dalloway darstellt54 und diesen London-Roman somit in einen maritimen Deutungshorizont einrückt, den der Text autoreflexiv ausweist. Wenn Clarissa nämlich ihre grundlegende Skepsis gern in ein Bild des Schiffbruchs fasst, das sie aus der Lektüre einschlägiger Autoren übernimmt – „they were fond of these nautical metaphors“55 –, dann „betont hier der Roman seine eigene Intertextualität“,56 die ihn durchweg mit solcherlei Lektüre und dem konventionellen Bildfeld ‚Leben als Seereise‘ verbindet, darunter auch mit Woolfs eigener früher Schiffserzählung The Voyage Out, denn immerhin war dieser Debütroman ja schon der Ort, um Clarissa Dalloway sowie ihren Gatten namentlich als Seefahrtpassagiere einzuführen. Auch wenn wir ihr zehn Jahre später als Großstadtgängerin wiederbegegnen, bewegt sie sich doch weiterhin „im Meer des Lebens“57 und damit in einem Erzählfeld, das aus der Tradition klassischer Seefahrtabenteuer à la Hakluyt längst vertraut ist. Welche Funktion kommt ihm nun im neuen Alltagskontext zu?

Wichtig scheint zunächst, die vielen Ankerpunkte im Realen anzuerkennen, die der Romantext auslegt – Straßen, Gebäude, Geschäfte, Kirchen, Plätze, Parks, alle auf dem Stadtplan Londons auffindbar58 –, als suche er, sich dezidiert in einer Alltagswirklichkeit zu orten, die seinen Leser*innen gut bekannt ist. Keine exotischen Küsten, keine fernen Inseln, auch keine Muskoviter oder Ritterteppiche, allein das hic et nunc der Metropole gibt ihm Material, das Gewohnte eben, wie die Abfolge der Wochentage. Erst auf diesem grauen Großstadtpflaster wird bedeutsam, wenn plötzlich doch die Phantasien wuchern.

Bei Peter Walsh beispielsweise, Clarissas einstigem Verehrer, den sie vor dreißig Jahren abwies, der daraufhin nach Indien zog, sich dort auf allerhand Affären einließ und jetzt nach London zurückkehrt, um einen Scheidungsanwalt aufzusuchen und nebenbei der Jugendliebe einen Besuch abzustatten. Wie viele der Romanfiguren streift er den ganzen Tag lang zumeist ziellos durch die Stadt und gibt sich doch seltsam berauscht, ja verjüngt, von all den Möglichkeiten, die sie zu eröffnen scheint: „he […] stood at the opening of endless avenues, down which if he chose he might wander. He had not felt so young for years.“59 So setzt er in den Straßen nicht nur imaginativ die Schiffspassage fort, die ihn am Vorabend zur fremd-vertrauten Heimat brachte; er starrt und geht auch hemmungslos einer schönen jungen Frau nach, die ihm zufällig begegnet, folgt ihr dreist bis vor die Haustür und fühlt sich dabei prächtig wie ein Freibeuter: „an adventurer, reckless, he thought, swift, daring indeed (landed as he was last night from India), a romantic buccaneer, careless of all these damned proprieties“.60 Die Szene spielt in Cockspur Street – tatsächlich auch ein ganz realer Ankerpunkt, d.h. realer Straßenname (mutmaßlich von The Cock Tavern herrührend61), doch fast schon zu signifikant, um wahr zu sein. Da braucht es kaum mehr noch das Taschenmesser, das Walsh den ganzen Tag in seiner Hosentasche auf- und zuklappt,62 um die Männlichkeitskrise zu markieren, die Woolf an dieser Figur vorführt und prominent im Rückgriff auf den Abenteuerfundus inszeniert, eine Art Parallelaktion zu Orlandos Gatten Shelmerdine. Bei Walsh indes dient diese Ausstellung abenteuerlicher Potenz- und Eroberungsrhetorik nicht nur zur Distanzgeste gegenüber einer dezent lächerlichen Freiergestalt, immerhin einer von drei zentralen Fokalisatoren des Romans, sondern dem modernen Erzähltext zugleich zur Distanznahme zu den lächerlichen alten Plotmustern, von denen er sich abstößt.

Wie aber ist Elizabeths Piratenphantasie auf ihrer Busfahrt zu The Strand zu bewerten, ins Unbekannte der Londoner City, und welche Rolle spielt sie im Romankontext? Damit zurück zur eingangs schon zitierten Szene,63 der Passage auf dem Oberdeck. Etliches daran ist doch bemerkenswert.

Elizabeth besteigt den Omnibus, wie ausdrücklich gesagt wird, „competently“ und als erste, was zumindest darauf deutet, dass auch Busfahren gekonnt sein will. Sofort gewinnt auch das Verkehrsmittel – „the impetuous creature“ – stark animistische, zugleich animalische Züge, metaphorisch zwischen Pferd und Schiff changierend, so dass Elizabeth sowohl als Reiterin wie auch als Seglerin figuriert, zuletzt auch noch als hölzern-weiße Gallionsfigur, d.h. in eigentümlicher Verbindung von Stillstellung und Vorwärtsdrang, Passivität und Aktivität, Erstarrung und Bewegung, Beherrschtsein und Beherrschen. Eigentümlich erscheint auch, dass Elizabeth sich einerseits im Kollektiv bewegt – schließlich fährt sie im vollen Omnibus –, andererseits doch eine singuläre Stellung einnimmt, denn während die britische Mittelklasse, wie es an anderer Stelle heißt,64 mit Schirm und Päckchen brav und seitwärts auf dem Oberdeck Platz nimmt, bildet sie klar eine Pionierfigur, ganz vorn, herausgehoben aus der Menge, exzeptionell, vorauseilend – „having no eyes to meet“ – und somit freigestellt. In jedem Fall befindet sich die junge Frau freudig erregt „on top“, nimmt die rhythmisch mitreißende Bewegung, die sie verspürt, am eignen Körper auf – „to each movement of the omnibus the beautiful body […] responded freely“ – und demonstriert somit die sexuelle Wortbedeutung von to ride, die das OED mit „to have sexual intercourse, esp. when positioned on top“65 definiert und bereits im mittelalterlichen Sprachgebrauch belegt. Zu dieser Metaphorik passt die explizite Formulierung „like some one penetrating“66 für Elizabeths anschließende Exploration, als sie den ungeplanten Ausflug in den unvertrauten Osten zu Fuß fortführt, ohne jedoch in die sonderbaren Gassen und verführerischen Seitenstraßen – „queer alleys, tempting by-streets,“67 die sie dort sieht, einzudringen (der homosexuelle Sinn von queer kommt laut OED genau zu jener Zeit in England auf). Stattdessen schaut sie nach der Uhr und geht nach Haus.

Auch wenn ihr Abenteuer also auf der Handlungsebene stockt, bevor es überhaupt richtig in Fahrt kommen konnte, ist es auf der Erzählebene prominent präsent, besonders in den sprachlichen Figuren, die den Rausch der Entdeckung in altvertraute sexuelle Tropen fassen, wie wir sie namentlich von Raleigh kennen – mit dem eklatanten Unterschied jedoch, dass sich die Geschlechterrollen umkehren: hier ist es eine Abenteurerin, die phantasiert und penetriert.

Wie aber ist ihre Abenteuerszene in den Roman eingebettet und ins Verhältnis zu der Alltagswelt gesetzt, „the patterns of ordinary experience,“68 die er ansonsten programmatisch ausbreitet? Was wäre darin wohl ihre Funktion? Solche Fragen sind entscheidend für die zentrale These, der ich nachgehe, doch die Erzählsignale, die sie klären helfen könnten, weisen in verschiedene Richtungen.

Einerseits gibt es Hinweise, die das Außerordentliche dieser Tochterfigur und ihrer Abenteuerfahrt sehr klar herausstellen. Elizabeth ist mit Abstand die jüngste der Protagonisten, genauso alt wie Orlando, als wir ihm zuerst begegnen, und bleibt eigentlich bloß Rand- oder Kontrastfigur. Ihr Fahrtziel liegt, wie ausdrücklich gesagt wird, außerhalb der üblichen Familienwege, „for no Dalloways came down the Strand daily“,69 wie übrigens die Tochter auch rein phänotypisch schon aus dem Familienmuster fällt: dunkelhaarig, mandeläugig, voll „Oriental mystery“,70 so dass die eigne Mutter spekuliert, ob in ihr wohl das Erbteil eines schiffbrüchigen Mongolen durchschlägt, mit dem sich vielleicht eine Ahnin vor hundert Jahren eingelassen haben mag71 – alles Erzählelemente, die Elizabeth und ihre Eskapade als exzeptionell kennzeichnen.

Andererseits finden sich Signale, die sie gerade gegenläufig in Kontinuität setzen. Dafür spricht nicht allein die suggestive Meeresmetaphorik, die alles durchzieht. Auch die Busfahrt auf dem Oberdeck erscheint im Nachhinein als Nachvollzug einer Leidenschaft, der früher ihre Mutter anhing. Aus einer der späteren Tunnelpassagen, d.h. einem erzählerischen flashback von Walsh, wissen wir, dass Clarissa selbst in jungen Jahren gleichfalls solche ausgelassenen Omnibustouren auf dem Oberdeck unternahm, „for they used to explore London and bring back bags full of treasures“72 – veritable Kaperfahrten, die man der reifen Mrs Dalloway womöglich kaum mehr zutraut. Ihr junger Geist jedoch lebt offenkundig in der Tochter fort. Denn von Clarissa stammt im Übrigen nicht nur die distanzierende Beobachtung der braven Mittelklassebriten, die sich auf dem Oberdeck in Reih und Glied mit Pelz und Schirm platzieren, was sie als Gipfel der Lächerlichkeit verachtet: „more ridiculous, more unlike anything there has ever been than one could conceive“.73 Von Clarissa erfahren wir zudem, dass sie mit ihrer Jugendfreundin Sally einst in eine „queer alley“ zumindest hineingeschaut haben muss, als sie sich leidenschaftlich küssten, ein Moment, der ihr die ganze Welt, wie es im vielsagenden Potentialis heißt, hätte verkehren können.74 Auch hier also erscheint Elizabeths Verkehr weniger wie eine Ausnahme, denn vielmehr als Verwirklichung von alltagsüberschreitenden Potenzen, denen ihre Mutter längst entsagt hat – oder sollte die Londoner Gesellschaftsdame wie Andersens bekannte Meerjungfrau doch weiterhin noch einer anderen, untergründigen Lebenswelt verbunden sein?

Was jedenfalls Elizabeths Piratenphantasie angeht, ist drittens zu vermerken – und dieser Bezug ist entscheidend –, dass es selbst dafür einen realen Ankerpunkt gibt. Das Schlüsselwort der gesamten wilden Passage, „a pirate“, lässt sich nämlich nicht nur maritim und metaphorisch lesen, sondern hat einen ganz konkreten Alltagssinn im Londoner Nahverkehr der frühen zwanziger Jahre.75 Als „pirate“ bezeichnete man damals unabhängige Busunternehmen, die auf vielfrequentierten Routen den eigentlichen Linienbussen Kundschaft raubten, indem sie Haltestellen, an denen viele Leute standen, eigenmächtig anfuhren und dabei schneller sein mussten als die offizielle Konkurrenz oder andere Piraten, weshalb sich Busfahrer oft regelrechte Wettrennen durch die Innenstadt lieferten, um bei der Jagd nach Passagieren möglichst fette Beute zu machen.76 Genau das fängt diese Erzählpassage ein – „for a pirate it was, reckless, unscrupulous, bearing down ruthlessly, circumventing dangerously, boldly snatching a passenger“ usw.77 –, die somit doch sehr anders funktioniert als die Freibeuterphantasie bei Peter Walsh und seinem Stalking. Hier korreliert der Gedankenstrom einer Figur mit einem Protokoll der täglichen Verkehrslage, weshalb die Piraterie nicht bloß einer Tagträumerei entspringt, sondern die Abenteuerlust einer zukunftshungrigen Londonerin mit der Abenteuerlichkeit des modernen Alltags in London zusammendenkt und zusammenbringt, wo schon das Überqueren einer Straße, wie bereits in E. M. Forsters Howards End (1910) bemerkt, wahrhaft Risikobereitschaft fordert.78 Was daher subjektiv und objektiv, was Ausdruck eher einer Phantasie und was Beschreibung einer Straßenszene, was metaphorisch oder buchstäblich zu nehmen ist, lässt sich bei diesem Abenteuer kaum mehr trennen. Elizabeth, in deren Namen schon das große Zeitalter der Weltentdeckungen nachklingt, scheint gleichermaßen singulär wie repräsentativ. Ohnehin liegt das entscheidende Moment voraus: bevor Elizabeth den Bus besteigt, in Victoria Street wartend, unentschlossen, wohin überhaupt es gehen soll, beseelt nur von dem Drang, noch nicht nach Haus zu müssen:

Buses swooped, settled, were off – garish caravans, glistening with red and yellow varnish. But which should she get on to? She had no preferences. Of course, she would not push her way. She inclined to be passive.79

Sich treiben oder gleiten lassen, ohne klare Vorstellung, keinen bestimmten Bus zu wollen und kein genaues Ziel zu haben, sondern abwarten und sehen, wohin der Verkehrsstrom führt und welcher Impuls kommt – „Suddenly Elizabeth stepped forward“80 –: das ist die Grunddisposition von Abenteurern, die einfach nur hinaus wollen, von Rittern, die dem Pferd die Zügel lassen, oder von Adoleszenten wie Jim Hawkins in Treasure Island, dessen entscheidende Initiationspassage damit beginnt, dass er sein kleines Boot der Strömung anvertraut.81 Erst diese passive Aktivität, das eigene Geschick einer höheren Instanz zu überlassen, die den Zufall arrangiert und sämtliche Umwege und scheinbar beiläufige Vorkommnisse einem großen Kursus einfügt, der irgendwann zum Ziel führt: diese Prädisposition macht Glücksritter vor allem aus, eben weil sie selbst das Ziel, das ihnen zugedacht ist, stets nur vage wissen und allenfalls im Nachhinein, d.h. rückblickend, als solches erkennen – ein halbbewusster Vorwärtsdrang, den man mit Woolfs zitierter Tagebuchpassage, in der sie die Entdeckung ihrer „Tunnel“ feiert, „groping“ nennen könnte. „Another penny was it to the Strand? Here was another penny, then. She would go up to the Strand.“82

Damit, so meine ich, ist zugleich das Erzählprinzip beschrieben, das den gesamten Roman vorwärts bringt (und übrigens auch seinem Entstehungsprozess entspricht, als Assemblage aus vorliegenden Short Stories und diversen anderen Einzelstücken83). Seine vielen unscheinbaren Straßenszenen, Alltagsimpressionen, Park- und Pflasterspaziergänge sowie Zufallstreffen ordnen sich im Nachhinein zu einer großen Choreographie, die alle Einzelgänger auf Kurs setzt oder, um die Teppichfigur aufzugreifen, alle Fäden in ein großes Muster einflicht, Werk einer arrangierenden Erzähl- bzw. Schicksalsautorität, die selber niemals sichtbar wird. Allenfalls ließe sich die mysteriöse Himmelsschrift des Flugzeugs, das seine Kreise über London zieht, ohne doch eine entzifferbare Mitteilung zu hinterlassen,84 als ein Erzählphantom auffassen, das jene überschauende und verknüpfende Macht zur Erscheinung bringt. Am Boden gibt indessen der Erzählmodus des stream of consciousness einer Kontingenzerfahrung Raum, die wohl die Regeln der Satzordnung ignorieren, kaum aber die Muster des überlegenen Arrangements leugnen kann85 und somit einer Schicksalsinstanz zuspricht, der auch Macht zur Ordnungsstiftung zukommt. Den unkalkulierbaren Momenten spontaner Erhellung – epiphanies – bleibt somit doch ein Providenzplot eingeschrieben, der die Alltagsprosa überformt. In einem Roman, der mit der Mitteilung beginnt, dass die Türen aus den Angeln86 und somit die herkömmlichen Schließ- und Ordnungsmuster außer Kraft sind, ergeben sich auf diese Weise folgerichtig ungewohnte Durch- und Ausblicke.

Was aber ergibt sich aus all dem für unsere zentrale Frage nach dem Abenteuer in der Moderne?

Untergrund

Ist also Virginia Woolf eine Abenteuerautorin und ist Mrs Dalloway ein Abenteuerroman? Die angemessene Antwort darauf lautet ‚nein und ja‘ – eine Ambiguität, die für das Werk dieser Autorin durchaus typisch87 und für Projekte wie Orlando programmatisch ist, denn hier spricht das Ambige bereits schon aus dem Namen, der, wie Rachel Bowlby zu bedenken gibt,88 die Worte or und and verbindet.

In diesem Sinn, so meine ich, kann auch eine Lektüre von Mrs Dalloway (ein Name übrigens, der mit away die Ferne anklingen lässt) Verbindungen freilegen, die ins emphatisch modernistische Erzählprojekt aus alten Traditionsbeständen führen und jetzt ein Erbteil geltend machen, das vielleicht nur ungern eingestanden wird, erst recht von einer Erzählerin, die Kontinuitätsbegehren in der Figur von Richard Dalloway, wie eingangs schon zitiert, verspottet. Doch mit der Einstülpung des maritimen Außenraums ins Innere der imperialen Metropole, tritt sie das Erbe an und holt es zugleich aus der männlichen Vererbungslinie heraus. Zwar kündigt sie den Pakt, den Abenteuerfiktion einst mit Raum- und Zeitdistanzen eingegangen ist, entschieden auf, wenn sie Piratenschiffe in The Strand, Kaperfahrten in Whitehall oder Freibeuterromanzen in Cockspur Street entdeckt; die Kontinuität zur Tradition jedoch bleibt unverkennbar.

Dass europäische Literatur seit der Sattelzeit um 1800 von sich grundsätzlich den Verzicht auf alles Abenteuerliche fordert, um ihre eigene Modernität auszurufen, ist eine forschungsleitende These des vorliegenden Bandes.89 Demgegenüber mag mein Beitrag zeigen, dass es durchaus produktiv sein kann, das Selbstverständnis der Moderne, wie es auch Woolf emphatisch formuliert, mit dem zu konfrontieren, was es uns gern vergessen machen will. Das ist nicht besserwisserisch gemeint. Im Gegenteil: meine Lektüre will einen Roman wie Mrs Dalloway weniger zum Objekt der Untersuchung machen, als vielmehr ausdrücklich versuchen, ihm bei den Beobachtungs- und Untersuchungsleistungen, wie er sie selbst vornimmt, zu folgen, da es mir evident erscheint, dass er schon seinerseits die alte Abenteuertradition gezielt beobachtet und für die Moderne reperspektiviert, das heißt: zurückholt und noch einmal anders liest. Dieser anderen Lesart sind wir ein Stück gefolgt, auch wenn ich nur, wie Auerbachs moderner Philologe, wenige Bruchstücke daraus eingehender betrachten konnte. In diesem Sinn noch eine weitere Betrachtung bzw. Überlegung.

Ende Juli 1925 – wenige Wochen zuvor ist Mrs Dalloway erschienen, Woolf arbeitet bereits an To the Lighthouse – notiert sie im Tagebuch, dass sie für ihre Erzählprojekte die Bezeichnung „Roman“ ablehnt und durch etwas Neues ersetzen will, am liebsten „Elegie“.90 Damit spricht sie ein Genre an, das man aus ganz anderen Zusammenhängen kennt, aus dichterischer Rückschau, Totenklage und Erinnerung, daher zugleich ein Genre, das eng mit Trauerritualen, Begräbnis- und Gedächtnispraktiken verbunden ist. Was Elegien generell an kultureller Arbeit leisten, hat Peter Sacks als einen Translationsprozess beschrieben, der den akuten, unsagbaren Schmerz in kulturell vermittelbare Formen überführt und ihn somit – im bewährten Mehrfachsinn des Wortes – aufhebt. Auf diese Art gewinnt physisch Verlorenes symbolische Repräsentanz und Persistenz und zwar gerade weil das eigentlich Symbolisierte mit der Zeit an affektiver Energie verliert, wenn nicht sogar schlicht in Vergessenheit gerät. So findet sich, um ein urbanes Beispiel aufzurufen, in der Londoner City eine gewaltige Steinsäule, die unter der generischen Bezeichnung „The Monument“ bekannt ist und von der schon Sigmund Freud erklärte,91 dass kein Londoner mehr Tränen über sie vergieße, wenngleich sie doch ein Mahnmal für die große Feuerkatastrophe ist, die 1666 die gesamte Stadt zerstörte. Der alte Trauerfallbezug ist längst verblasst, das steinerne Monument jedoch besteht und bleibt präsent und sei es nur im Namen des lokalen U-Bahnhofs. Was aber soll an einem Gegenwartsroman wie Mrs Dalloway elegisch sein?

Woolfs selbstgewähltes Genremuster weist in der Tat mit Nachdruck auf einen Aspekt, der insgesamt für diesen Roman prägend ist: die Präsenz der Toten, die am Rande der Erzählwelt kenntlich werden – von Clarissas Schwester Sylvia, an die sich Walsh flüchtig erinnert,92 bis zum traumatisierten Kriegsheimkehrer Septimus, „a drowned sailor on a rock“,93 der sich zum Ende umbringt. J. Hillis Miller hat sogar sämtliche Wiederholungselemente des Erzählvorgangs als eine Totenwiederkehr beschrieben – „narration is repetition as the raising of the dead“94 – und dazu das Lied, das eine Straßenmusikantin am Regent’s Park zum Besten gibt und das den Erzähltext nur in suggestiven Klangfetzen erreicht – „ee um fah um so / foo swee too eem oo“95 –, in ingeniöser Detektivarbeit als „Allerseelen“ von Richard Strauß identifiziert (op. 10, Nr. 8);96 die Schlüsselzeile daraus lautet: „Ein Tag im Jahr ist ja den Toten frei“. Also sollte uns die helle Junisonne nicht darüber wegtäuschen, dass dieses London, wo der Stundenschlag der Glocken wie ein Memento Mori klingt97 und wo die Titelfigur gleich zu Anfang alles Lebensglück des „here“ und „now“, das sie genießt,98 unter dem Vorzeichen des eigenen Endes sieht, auch eine jener Untotenstädte ist,99 wie sie die Zwischenkriegsmoderne so oft literarisch ausgestaltet hat.

Das ist deshalb von Belang, weil damit der Prozess der Untertunnelung und Höhlengrabung, den Woolf, wie zitiert, als die entscheidende Entdeckung ihres Schreibvorgangs betrachtet, eine tiefere Bedeutsamkeit erlangt. Die erzählerische Wirkung dieser Höhlen beschreibt Susan Dick als „tug of the past;“100 Miller sieht sie als ein kollektives Unbewusstes des Romans – „each person’s mind connects with all the other minds, in a vast cavern where all the tunnels end“101 – und deutet den Schluss auf Clarissas Party, wo sich die Besucher wie Wiedergänger ihres Lebens einfinden, als einen Totentanz.102 Doch auch ohne den Rekurs auf C. G. Jung’sche Archetypik oder die Macabre-Tradition lassen sich die narrativen Tunnel als ein Totenreich verstehen, das Woolfs Erzählprojekt grundiert, ein Hades, aus dem fortwährend die Geister in Form versunkener Erinnerungen der diversen Oberflächengänger aufsteigen, während andere wie Septimus zum Ende darin eingehen. Unter dem Strand das Reich der Toten, Grenzgebiet jedes Abenteuers und Randzone des Risikovorhabens, in welcher sich die Helden ihren Pfad durch die Bewährungslandschaft bahnen müssen.

Den Weg zu dieser Unterwelt von Mrs Dalloway weisen zwei Spuren, eine literarische und eine urbane. Für erstere ist noch einmal an Alice’s Adventures in Wonderland, so der Originaltitel, zu erinnern, weil deren Abenteuer, beginnend mit ihrer Passage durch einen Kaninchenbau, ja bekanntlich ebenfalls untergründig vor sich gehen. Was die zweite Spur angeht, lässt sich mutmaßlich auch hier ein spezifisches Realitätsmerkmal in Anschlag bringen, das den Großstadtalltag Londons prominent bestimmt: die Tunnel der Tube, d.h. der Untergrundbahn – ein Labyrinth aus Röhren, welche wie verborgene Leitlinien den urbanen Pflasterhelden untergründig ihre Wege weisen mögen. Denn wie sich an zahlreichen Beispielen zeigen lässt,103 ist die Londoner U-Bahn nicht lediglich Verkehrsmittel und Kennzeichen der Moderne, sondern immer auch ein Projektionsraum kultureller Ängste sowie Phantasien, von Tod und Sterblichkeit getrieben, selbst wenn die Fortschrittseuphorie des neuen Nahverkehrs gefeiert werden soll: „how they organise, roll out, smooth, dip in dyes, and drive tunnels blasting the rock. Lifts rise and fall; trains stop, trains start as regularly as the waves of the sea“:104 So berauscht sich in The Waves eine Figur am Bahnhof Picadilly Circus und feiert den Triumph der U-Bahn, als gelte es, Raleigh’sche Rhetorik in all ihrem Gewaltpotenzial für die Moderne wiederzubeleben.

Kaum weniger euphorisch, doch zugleich in verstörender Bedrohlichkeit lässt sich der Untergrund ins Bild bringen. So zeigt uns ein bekanntes Werbeposter, das Alfred Leete105 1927 unter dem Titel „The Lure of the Underground“ für London Transport anfertigt (Abb. 8.1), wie eine große Schar von Londoner Passanten sowie Passagieren vom U-Bahn-Eingang förmlich aufgesogen und unerbittlich in die Tiefe des urbanen Raums gezogen wird. Ob und in welcher Weise der mutmaßlich intendierte Werbezweck, Passagiere von den Straßen und den Bussen auf die effizientere U-Bahn umzuleiten, auf diese Weise zu erreichen war, mag offenbleiben. Relevant allein ist Leetes visuelle Umdeutung des Großstadtraums, dessen Gravitationszentrum er in den Untergrund verlegt – eine wahrhaft alptraumhafte Szenerie, die Susan Dicks Beschreibung von Woolfs narrativer Tunnelwirkung als „tug“ beim Wort zu nehmen und buchstäblich auszumalen scheint. An einer solchen Diagnostik der Moderne arbeitet auch Woolfs erzählerische Elegie. „Ein Tag im Jahr ist ja den Toten frei“: sofern die Straßensängerin vom Regent’s Park tatsächlich dieses Strauß-Lied darbietet, ist daher von Belang, dass sie es exakt an einem U-Bahn-Eingang singt.106

Abb. 8.1
Abb. 8.1

Alfred Leete, The Lure of the Underground, 1927 (© TfL from the London Transport Museum collection)

Auf diesem Untergrund, wenn man die so skizzierten Kontexte bedenkt, stellen sich die Abenteuerszenerien oder ‑phantasien, die Mrs Dalloway befragt und bietet, noch einmal anders dar. Allein schon, dass Elizabeth bei ihrer Oberdeckpassage so bleich und starr erscheint – „her cheeks the pallor of white painted wood“107 –, kommt einer Mortifikation gleich und rückt die jugendliche Abenteurerfigur antizipatorisch bereits in eine Reihe mit den Toten, die das Erzählfeld derart markant säumen. So zeigt sich, wie der Rausch des Abenteuers dem Sog des Untergrunds niemals entkommt, wie eng daher die Euphorie des Oberdecks mit der fatalen Dunkelheit der Tunnel in Verbindung bleibt und alle Ausbruchsphantasien am Rande eines Abgrunds balancieren: Der Risikoeinsatz fürs Abenteuer ist das Leben. Den Fluchtpunkt dieser Perspektive bildet die Figur von „old Miss Parry“, Clarissas Tante, eine Tote, die in Peter Walshs Erinnerung steinweiß und längst entrückt erscheint:

She belonged to a different age, but being so entire, so complete, would always stand up on the horizon, stone-white, eminent, like a lighthouse marking some past stage on this adventurous, long, long voyage, this interminable […], this interminable life.108

Nicht anders als ein Leuchtturm also figuriert die Tote hier am Horizont des Lebensmeers, ganz in Woolfs eingangs schon markierter maritimer Sehnsuchts- sowie Kennformel des alten Abenteuers, die titelgebend für den Folgeroman wird und die bereits für Mrs Dalloway, wie sich hier zeigt, den Alltagshorizont absteckt.

Wer wie Miss Parry in die Totenwelt gelangt ist, kann künftig nur in der Erinnerung der Nachwelt weiterleben. Dazu verfasst man Elegien, so das Argument von Sacks, und dazu muss der oder die Tote ins Symbolische gefasst werden, d.h. in Formen übersetzt, die den akuten Trauerschmerz aufheben und künftig dauernde Gedenkzeichen bereitstellen und zwar auch dann noch, wenn der eigentliche Grund dieses Gedenkens längst im Untergrund versunken ist. Nur das kulturelle Ordnungsmuster solcher rückwirkenden Sinnstiftungen überlebt: was bleibt, ist Elegie. Oder ist es Abenteuer?

Denn auch das Abenteuer lässt sich womöglich weniger als Kategorie des Erlebens denn als eine des Erzählens, mithin Ordnens, Deutens, Sinnschaffens und Überlieferns fassen. Wenn wir mit Mireille Schnyder das mittelalterliche Ritterabenteuer als einen Akt der „Imagination“ und „(Nach)erzählung“,109 der „Kontingenzbewältigung“ und „Sinngebung“,110 ja als „Produkt eines Erkenntnisprozesses und somit eine Gedankenfigur“111 verstehen, dann jedenfalls scheint doch ein solcher Akt dieselbe oder zumindest eng verwandte kulturelle Arbeit zu verrichten wie die Elegie, wenn es Verlusterfahrung durch literarische Formgebung zu bewältigen gilt. Beide, Elegie und Abenteuer, wären somit vornehmlich Entlastungsstrategien für den Schrecken unserer Sterblichkeit. In diesem Sinne lässt sich vielleicht sagen, dass Mrs Dalloway nicht nur, wie Miller meint, erzählerische Totenbeschwörung und eintägige Auferweckung unternimmt, sondern für die Moderne grund- und vorsätzliche Abenteuertrauerarbeit leistet, den Schrecken eines Weltkriegs bannend, der als Alltagsausbruch glorios begann und jetzt als Trauma nicht mehr enden kann – „all because of the Strand“.

1

Mein Dank gilt Kathrin Härtl sowie den weiteren Kolleginnen und Kollegen der Forschungsgruppe „Philologie des Abenteuers“, außerdem den Teilnehmenden der Tagung „Abenteuer in der Moderne“, die mir durch viele Kommentare Anregung zur Ausarbeitung meines Themas gegeben haben.

2

Virginia Woolf, Mrs Dalloway, hg. v. Stella McNichol, Einl. v. Elaine Showalter, Harmondsworth: Penguin 2000 [1925], S. 148 f.

3

Ben Weinreb u.a. (Hgg.), The London Encyclopedia, London: Macmillan 2008, S. 883.

4

Woolf, Mrs Dalloway, S. 150.

5

Virginia Woolf, The Voyage Out, hg. v. Lorna Sage, Oxford: Oxford University Press 2001 [1915], S. 3.

6

Juliet Dusinberre, Alice to the Lighthouse: Children’s Books and Radical Experiment in Art, Basingstoke: Macmillan 1999 [1987], S. 38 f.

7

Dusinberre, Alice to the Lighthouse, S. 38 f.

8

Dusinberre, Alice to the Lighthouse, S. 17.

9

Dusinberres eigentliches Interesse gilt allerdings eher den Sprachspielen, die Carroll unternimmt und damit schon für junge Leser den Zeichen- sowie Konventionscharakter von Kommunikation herausstellt, was die Avantgardisten später für künstlerische Verfremdungsstrategien nutzten: „Carroll becomes part of an aesthetic which involves not only Virginia Woolf’s insistence on words as the medium of writing in the same way that paint is the medium of the artist, but her insistence too on literary form as the creation of both space and pattern.“ (Alice to the Lighthouse, S. 4).

10

Gabrielle McIntire, Modernism, Memory, and Desire. T.S. Eliot and Virginia Woolf, Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 3.

11

Virginia Woolf, Collected Essays, 4 Bde., London: Hogarth Press 1966, hier Bd. 2, S. 106.

12

Woolf, Collected Essays, Bd. 2, S. 157.

13

Woolf, Mrs Dalloway, S. 128.

14

Virginia Woolf, Orlando: A Biography, hg. v. Michael H. Whitworth, Oxford: Oxford University Press 2005 [1928], S. 191.

15

Woolf, Collected Essays, Bd. 2, S. 106.

16

Woolf, Collected Essays, Bd. 1, S. 323.

17

Woolf, Collected Essays, Bd. 2, S. 324.

18

Vgl. Susan Dick, „The Tunnelling Process: Some Aspects of Virgina Woolf’s Use of Memory and the Past“, in: Virginia Woolf: New Critical Essays, hg. v. Patricia Clements u. Isobel Grundy, London: Vision Press 1983, S. 176–199.

19

Virginia Woolf, The Diary of Virginia Woolf, 5 Bde., hg. v. Anne Olivier Bell, m. H. v. Andrew McNeille, London: Hogarth Press 1977–1984, hier Bd. 2, S. 272.

20

Woolf, The Diary of Virginia Woolf, Bd. 2, S. 263.

21

Elfi Bettinger, Das umkämpfte Bild: Zur Metapher bei Virginia Woolf, Stuttgart: J. B. Metzler 1993, S. 132.

22

Bettinger, Das umkämpfte Bild, S. 133.

23

Abenteuer-Referenzen sind in Woolfs Werk verschiedentlich bemerkt und untersucht worden. 2005 widmete sich die International Woolf Conference in Portland, Oregon, dem Thema „The Art of Exploration“. Siehe dazu die von Seshagiri und Zimring 2007 herausgegebenen Beiträge: „Introduction: Virginia Woolf and the Art of Exploration“, in: Literature Compass 4.2 (2007), S. 470–472; Maria DiBattista stellt in ihrer Monographie Imagining Woolf (2008) ein ganzes Kapitel unter die Überschrift „The Adventurer“ und erklärt, „[f]or Woolf the threshold of adventure is always imminent“ (Imagining Virginia Woolf: An Experiment in Critical Biography, Princeton: Princeton University Press 2008, S. 154); in diesem Kontext bietet sie auch Argumente und interessante Zitate aus Alfred North Whiteheads philosophischer Studie Adventures of Ideas (Cambridge: Cambridge University Press 1933, S. 164 f).

24

Bettinger, Das umkämpfte Bild, S. 73.

25

Woolf, The Voyage Out, S. 96.

26

Walter Raleigh, Selected Writings, hg. v. Gerald Hammond, Harmondsworth: Penguin 1986, S. 120.

27

Alice Fox, Virginia Woolf and the Literature of the English Renaissance, Oxford: Clarendon 1990, S. 22.

28

Woolf, The Diary of Virginia Woolf, Bd. 3, S. 271.

29

Ian Blyth, „Orlando and the Tudor Voyages“, in: Locating Woolf. The Politics of Space and Place, hg. v. Anna Snaith u. Michael H. Whitworth, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2007, S. 183–196, hier S. 184. Hinzu kommen weitere einschlägige Essays zur literarischen Tradition englischer Seefahrt, wie z.B. „Sir Walter Raleigh“, „Robinson Crusoe“, „The Captain’s Deathbed“ über Frederick Marryat, „Joseph Conrad“ und „Mr. Conrad: A Conversation“.

30

Fox, Virginia Woolf and the Literature of the English Renaissance, S. 33.

31

Fox, Virginia Woolf and the Literature of the English Renaissance, S. 46.

32

DiBattista, Imagining Virginia Woolf, S. 157.

33

Blyth, „Orlando and the Tudor Voyages“.

34

Woolf, Orlando, S. 146.

35

Woolf, Orlando, S. 146.

36

Woolf, Orlando, S. 149.

37

Pauline Scott, „The modernist Orlando: Virginia Woolf’s refashioning of Ariosto’s Orlando Furioso“, in: Modern Retellings of Chivalric Texts, hg. v. Gloria Allaire, Aldershot: Ashgate 1999, S. 83–98, hier S. 87.

38

Z.B. in Scott, „The modernist Orlando“; Maureen M. Melita, „Gender identity and androgyny in Ludovico Ariosto’s Orlando Furioso and Virginia Woolf’s Orlando: A Biography“, in: Romance Notes 53.2 (2013), S. 123–133.

39

Louise DeSalvo, „A Note on the Tapestries in Knole House“, in: Virginia Woolf Miscellany 12 (1979), S. 3 f.

40

Scott, „The modernist Orlando“, S. 85.

41

Peter DeSa Wiggins, Figures in Ariosto’s Tapestry: Character and Design in the Orlando Furioso, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1985.

42

Woolf, Collected Essays, Bd. 2, S. 107.

43

Lorraine Sim, Virginia Woolf: The Patterns of Ordinary Experience, Burlington VT: Ashgate 2010, S. 175.

44

Woolf, Mrs Dalloway, S. 11.

45

Woolf, Mrs Dalloway, S. 139.

46

Woolf, Mrs Dalloway, S. 134.

47

Kate Flint, „Victorian Roots: The Sense of the Past in Mrs Dalloway and To the Lighthouse“, in: Virginia Woolf. New Casebook, hg. v. James Acheson, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2017, S. 46–59, hier S. 58.

48

Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen: Francke 1994 [1946], S. 509.

49

Auerbach, Mimesis, S. 491.

50

Woolf, Mrs Dalloway, S. 26.

51

Woolf, Mrs Dalloway, S. 29.

52

Woolf, Mrs Dalloway, S. 191.

53

Woolf, Mrs Dalloway, S. 9.

54

Bettinger, Das umkämpfte Bild, S. 139.

55

Woolf, Mrs Dalloway, S. 85.

56

Bettinger, Das umkämpfte Bild, S. 141.

57

Bettinger, Das umkämpfte Bild, S. 132.

58

Paul K. Saint-Amour, „Mrs Dalloway: of Clocks and Clouds“, in: A Companion to Virginia Woolf, hg. v. Jessica Berman, London: Wiley 2016, S. 79–84, hier S. 79.

59

Woolf, Mrs Dalloway, S. 57.

60

Woolf, Mrs Dalloway, S. 58.

61

Weinreb, The London Encyclopedia, S. 199.

62

Z.B. Woolf, Mrs Dalloway, S. 47, 172, 180.

63

Woolf, Mrs Dalloway, S. 148 f.

64

Woolf, Mrs Dalloway, S. 18.

65

„ride, v.“, OED Online, Oxford University Press. http://www.oed.com.emedien.ub.uni-muenchen.de/view/Entry/165652?rskey=Oa493L&result=6 (28.04.2019), 20a.

66

Woolf, Mrs Dalloway, S. 150.

67

Woolf, Mrs Dalloway, S. 151.

68

Sim, Virginia Woolf: The Patterns of Ordinary Experience.

69

Woolf, Mrs Dalloway, S. 151.

70

Woolf, Mrs Dalloway, S. 134.

71

Woolf, Mrs Dalloway, S. 134.

72

Woolf, Mrs Dalloway, S. 167.

73

Woolf, Mrs Dalloway, S. 18.

74

Woolf, Mrs Dalloway, S. 38.

75

Richard Dennis, Cities in Modernity: Representations and Productions of Metropolitan Space, 1840–1930, Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 127.

76

1923 sollen 159 solcher Piratenbusse in London unterwegs gewesen sein, bevor im Folgejahr eine gesetzliche Regelung getroffen wurde, der London Traffic Act von 1924, um solche Auswüchse eines radikalen Marktliberalismus bzw. Raubtierkapitalismus zu unterbinden und den gesamten Londoner Nahverkehr in einer Dachgesellschaft zusammenzuführen. „So Mrs Dalloway, published in 1925 and set in 1923, precisely captures this moment of competition on the city streets.“ Dennis, Cities in Modernity, S. 127.

77

Woolf, Mrs Dalloway, S. 148.

78

E.M. Forster, Howards End, London: Edward Arnold 1973 [1910], S. 106.

79

Woolf, Mrs Dalloway, S. 148.

80

Woolf, Mrs Dalloway, S. 148.

81

Robert Louis Stevenson, Treasure Island, hg. v. John Seelye, Harmondsworth: Penguin 1999 [1883], S. 122–125. Vgl. hierzu meinen Online-Essay „Ancient appetites: Stevensons Schatzinsel“ im Lektüre-Logbuch der DFG-Forschungsgruppe „Philologie des Abenteuers“. https://www.abenteuer.fak13.uni-muenchen.de/lektuere-logbuch/treasure-island/doering_ancient_appetites.pdf (28.04.2019).

82

Woolf, Mrs Dalloway, S. 149.

83

Zum Entstehungsprozess, den Woolf selbst im Rückblick kohärenter darzustellen pflegte, als er sich aus den Quellen rekonstruieren lässt, siehe z.B. den Bericht bei Julia Briggs, Virginia Woolf. An Inner Life, London: Allen Lane 2005, S. 138–145.

84

Woolf, Mrs Dalloway, S. 21 ff., 30 ff.

85

Vgl. Saint-Amour, „Mrs Dalloway: of Clocks and Clouds“, S. 84.

86

Woolf, Mrs Dalloway, S. 3.

87

Vgl. Molly Hite, Woolf’s Ambiguities. Tonal Modernism, Narrative Strategy, Feminist Precursors, Ithaca: Cornell University Press 2017.

88

Rachel Bowlby, Virginia Woolf: Feminist Destinations, Oxford: Basil Blackwell 1988, S. 50.

89

Wie auch des größeren Forschungsprojekts, „Philologie des Abenteuers“, aus dem er hervorgeht, vgl. Martin von Koppenfels, „Wissenschaftliches Programm der DFG-Forschungsgruppe Philologie des Abenteuers“. https://www.abenteuer.fak13.uni-muenchen.de/index.html (16.11.2019). Zur aufklärerischen Kritik am Abenteuer im Zuge der neuen Romanpoetik des 18. Jahrhunderts siehe auch den Beitrag von Oliver Grill in diesem Band.

90

Woolf, The Diary of Virginia Woolf, Bd. 3, S. 34; vgl. Daniel Bedggood, „Mrs Dalloway and To the Lighthouse: The Novel as Elegy“, in: Virginia Woolf. New Casebook, hg. v. James Acheson, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2017, S. 152–164.

91

Sigmund Freud, „Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen“, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud u.a., Frankfurt a.M.: Fischer TB 1999 [1909], Bd. 8, S. 1–60, hier S. 11.

92

Woolf, Mrs Dalloway, S. 85.

93

Woolf, Mrs Dalloway, S. 75.

94

J. Hillis Miller, Fiction and Repetition: Seven English Novels, Cambridge MA: Harvard University Press 1982, S. 178.

95

Woolf, Mrs Dalloway, S. 88 ff.

96

Miller, Fiction and Repetition, S. 189.

97

Woolf, Mrs Dalloway, S. 54.

98

Woolf, Mrs Dalloway, S. 9.

99

Vgl. Vera Kaulbarsch, Untotenstädte. Gespenster des Ersten Weltkriegs in der literarischen Moderne, München: Wilhelm Fink 2018.

100

Dick, „The Tunnelling Process“, S. 189.

101

Miller, Fiction and Repetition, S. 182 f.

102

Miller, Fiction and Repetition, S. 190.

103

Vgl. hierzu Tobias Döring, „Of Maps and Moles: Cultural Negotiations with the London Tube“, in: Anglia 120.1 (2002), S. 30–64; und Tobias Döring, London Underground: Poems and Prose about the Tube, Stuttgart: Reclam 2003.

104

Virginia Woolf, The Waves, hg. v. Kate Flint, Harmondsworth: Penguin 2000 [1931], S. 149.

105

Dieser Künstler und Grafiker ist vor allem bekannt durch sein Rekrutierungsposter für den Ersten Weltkrieg, „Your Country Needs You“, das im September 1914 auf der Titelseite einer Londoner Zeitschrift erstmals erschien und schnell zu einer unzählig oft kopierten und variierten Ikone der Moderne geworden ist.

106

Woolf, Mrs Dalloway, S. 88.

107

Woolf, Mrs Dalloway, S. 149.

108

Woolf, Mrs Dalloway, S. 178.

109

Mireille Schnyder, „Sieben Thesen zum Begriff der âventiure“, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hg. v. Gerd Dicke, Manfred Eikelmann u. Burkhard Hasebrink, Berlin: de Gruyter 2006, S. 369–375, hier S. 369.

110

Schnyder, „Sieben Thesen zum Begriff der âventiure“, S. 370.

111

Schnyder, „Sieben Thesen zum Begriff der âventiure“, S. 372.

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