Einleitung

In: Das Mittelmeer
Author:
Jutta Georg
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Im ersten Buch von Aristoteles’ Metaphysik wird Thales von Milet (um 600 v. Chr.) eine folgenreiche These zugeschrieben: Das Wasser ist der Ursprung von allem, alles entsteht aus dem Wasser, aus einer endlosen Bewegung. Zudem muss mit dem Wasser das Feuchte assoziiert werden. „Von den ersten Philosophen hielten die meisten nur die stoffartigen Prinzipien für die Prinzipien aller Dinge […] Thales, der Urheber solcher Philosophie, sieht das Wasser als das Prinzip an, weshalb er auch erklärte, daß die Erde auf dem Wasser sei“.1

Die antike Naturphilosophie zeichnet mit dem Wasser ein Element aus, das für Unbegrenztheit, endlose Bewegung, für das Feuchte, Fruchtbare, aber auch für Untiefen und Gefahren steht. Aus philosophischer Perspektive wird mit dem Wasser die archē fundiert und Thales in der Philosophiegeschichte zum ersten Philosophen. Nicht nur Aristoteles, Hegel – „Die Philosophie beginnt in der griechischen Welt“,2 das schreibt er in Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie – und Nietzsche übernehmen diese Wertung, auch Hans Blumenberg würdigt ihn ausdrücklich. „Es gehört eine unglaubliche Freiheit und Kühnheit dazu, zum ersten Mal die ganze und bunte Welt als eine nur formal verschiedene Entwicklung eines Grundstoffes aufzufassen.“3 Schadewaldt weist darauf hin, dass mit Thales’ Satz Neues ausgedrückt wurde, weil nicht mehr der „Okeanos der Ursprung [ist, J.G], sondern das Wasser, nicht der göttlich-mythologische Weltenstrom, sondern schon hier ist offenbar eine Reduktion erfolgt einer göttlichen Gestalt auf das Wasser […] Aber es ist doch das Wasser anstelle der göttlichen Gestalt,“ das selbstverständlich nicht allein mit seiner chemischen Bestimmung kongruent ist.4

In Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen lesen wir: „Die griechische Philosophie scheint mit einem ungereimtem Einfalle zu beginnen, mit dem Satze, daß das Wasser der Ursprung und der Mutterschoß aller Dinge sei“. Eine Bestätigung von Thales’ Diktum findet sich jedoch in: „Von alten und neuen Tafeln“. Nietzsche schreibt: „Alles ist im Meere“5 und bestätigt damit den ersten physiologos, der womöglich von der Küste des antiken Miletos aus seinen Blick aufs Wasser richtete und folgerte, alles kommt aus dem Wasser. Ist es das grundlegende Prinzip, so sind damit theoretische Implikationen verbunden: Der Einheitsgedanke in der Vielfalt der Dinge, die Veränderung eines beharrenden Substrats, die Dialektik von Wesen und Erscheinung, denn auch gegenüber Feuer, Luft, Erde, Stein etc. sei das Wasser das Erste und das Elementare.

Mit dieser archē beginnt die griechische Philosophie und damit wird der Mittelmeerraum als eine physische Realität zur geistig-kulturellen Wiege Europas. Mythische Erklärungen der Homerischen Epen über Welt und Leben scheinen überwunden, wiewohl ihr Erbe in gewisser Weise im Mediterranen – dem Raum für Imaginationen, die in der Literatur und in den Künsten gleichsam ihr Gedächtnis haben – bewahrt wird.6 Es ist nicht allein der fruchtbare Lebensraum des mittelmeerischen Südens, des Lichts, des Windes, ein zartes Klima für Kunst und Musik – für einen spezifischen und speziellen Rhythmus des Lebens und womöglich für ein unverwechselbares Lebensgefühl. Es ist zudem das mediterrane Fluidum für Fantasien, Sehnsüchte, Hoffnungen, Erwartungen, allesamt mit dem Meer verbunden – oder aus ihm entstanden, die für ein mediterranes Lebensgefühl relevant sind.

Projektionen und Vorstellungen generieren unsere Wahrnehmung des Meeres mit, die womöglich in der ahnenden Bewusstheit seiner kaum zu überschätzenden physischen und phantasmatischen, seiner essenziellen Kraft fundieren.

Das stimmige Bild eines schwebenden, mediterranen Existierens, gewonnen aus einer Freiheit über den Wellen, findet sich neben anderem in Nietzsches Metaphorik des Meeres, mit Freiheit und einem freien Denken verwoben, mit einem Bild der Zukunft, der Allegorie des Grenzenlosen, Unendlichen, aber auch der Vision eines postmoralischen Lebens und Erkennens und damit eine für das, was Nietzsche zuweilen als Befreiung ansieht. Im Sommer 1883 notiert er: „Ich liebe das Brausen des schlechten Rufs: wie das Schiff den Widerspruch der Welle gern hört, durch den sein Kiel sich bricht. Leichter ist mir mein Weg, wenn um mich der Widerstand schäumt.“ Das ist selbstverständlich kontraintuitiv, unterstreicht aber das Schwere dieser von Hindernissen gesäumten Fahrt, die mit einer gefährlichen Fahrt über das Meer metaphorisiert wird.

Mit der Meer-Metapher, alliiert mit „Mittag“, „Morgenröthe“, offenem „Horizont“, dem Süden, Musik, mit Heiterkeit und Zärtlichkeit hat Nietzsche ein Alleinstellungsmerkmal in der Philosophiegeschichte. Das Meer dient ihm zudem vielfältig als Folie der Kritik und Fluchtpunkt seiner Forderungen nach einer und unserer grundlegenden Transformation=Selbstüberwindung. Überaus sprechend ist hierfür eine Stelle aus „Die sieben Siegel.“ „Wenn jene suchende Lust in mir ist, die nach Unentdecktem die Segel treibt, eine Seefahrer‐Lust in meiner Lust ist: Wenn je mein Frohlocken rief: ‚die Küste schwand, – nun fiel mir die letzte Kette ab –“ Um sich aus den Ketten – und das werden religiöse, moralische, trieb- und leibfeindliche und damit lebensfeindliche sein, zu befreien, muss man sich als Abenteurer, freier Geist und Zukunftsphilosoph einem Existieren öffnen, das mit dem Mediterranen im Einklang stünde. Eine bewegte, schwebende und darüber und damit eine grundlegend offene Existenz – „ich werfe die Angel über mein Haupt, weit hinaus in das Meer der Zukunft“.7 Der Angler zielt auf das Meer der Zukunft, einer postmoralischen, in einem offenen Horizont mit bejahenden Perspektiven. Ein „‚offnes Meer‘“ – und um das geht es Nietzsche hinsichtlich Leben und Erkennen, ist jedoch erst nach Gottes Tod verfügbar. Dann erst könnte unser Horizont frei werden.8

Die außerordentliche Bedeutung des Meeres in Nietzsches metaphorischem Philosophieren wird insbesondere in der Fröhlichen Wissenschaft mit einer trans- oder postreligiösen Vision bebildert und dabei der gefährliche Weg hin zum erstrebten Zukünftigen. Das mediterrane Denken – unterwegs zu „Morgenröthen“ des Erkennens – würde einer gefahrenreichen Meerfahrt, einem (Lebens)Kampf mit Tiefen und Untiefen gleichen, denn im „Im Horizont des Unendlichen“ kann es kein Zurück zum Land mehr geben. Ist die letzte Brücke nach der „grossen Loslösung“ vom scheinbar festen Grund der Erde aber abgebrochen, können die freien Geister die neue Philosophie als eine ungewisse Fahrt im offenen Meer, in seinen Tiefen und Untiefen begreifen und auch bewältigen. Davon ist Nietzsche überzeugt.

Wir Luft-Schifffahrer des Geistes“ fragen gleichwohl: „Wollen wir denn über das Meer? Wohin reisst uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gibt als irgend eine Lust […] dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind?“9 Die Sonnen der Menschheit, mit denen das Meer nie befrachtet war, und so darf man folgern, auch nicht sein könnte, sind die des Glaubens und der Moral. Wiewohl sie diese mit ihrer Fahrt hinter sich lassen können, ist die Frage nach dem Wohin überaus berechtigt, weil sie ins Bilderlos-Ungewisse aufbrechen müssen. Es ist eine schlechterdings notwendige Frage, stellt ihr Aufbruch sie doch in eine unermessliche Gefahr, die ihnen bewusst sein sollte, deren Bewältigung aber vollkommen offen ist und an der sie scheitern können. Als „Luft-Schifffahrer“ können sie nur schwebend existieren, über den Wellen, ohne festen Boden. Wie könnte ein solches Existieren aussehen, wie sollte es zu leben sein? Nur mit ihm, wenn man Nietzsche folgt, wäre der Untergang der „Sonnen der Menschheit“ zu vollziehen und zu feiern.

Im Nachlass von 1885/86 spricht er über eine Dialektik zwischen dem Festland und dem Meer sowie dem Wunsch, es zu befahren.

Aber dieser Boden selbst hat uns die Kraft angezüchtet, die uns hinaus treibt in die Ferne, in’s Abenteuer, […] in’s Uferlose, Unerprobte, Unentdeckte hinausgestossen werden, – es bleibt uns keine Wahl, wir müssen Eroberer sein, nachdem wir kein Land mehr haben, wo wir heimisch sind, wo wir ‚erhalten‘ möchten. Nein, das wißt ihr besser, meine Freunde!10

Diese Dialektik entsteht, weil der Boden des Festlandes keine Heimat mehr gewährt. Deshalb veranlasst er quasi selbst die Abstoßung und der Aufbruch ins Uferlose wird unausweichlich.

Die Relation Meer-Land denkt Nietzsche antipodisch; die „Entstehung des Festlandes“ sei die größte Zumutung für die „lebendigen Geschöpfe“ gewesen, ehedem, als „das Leben im Meere“ verloren ging. Das zeigt, welche Verluste mit dieser Abkehr, die man mit Blumenberg eine „Epochenschwelle“ nennen könnte, einhergingen. Könnten sie über eine Rückeroberung einer mediterranen Existenz kompensiert werden?

Im Mediterranen ist ein religiöses, moralisches oder sinnenfeindliches Geschöpf kaum vorstellbar, vielmehr müsste ein sinnenbejahendes hier beheimatet sein. Nietzsche expliziert, um Erden- und Festlandsbewohner zu werden, mussten die Menschen „ihren Leib und ihre Sitten umkehren und umstülpen und in Allem etwas Anderes thun als sie es bis dahin geübt waren […] ich bin gleich Jedermann als Landthier geboren und – und nun muß ich trotzdem ein Meer-Thier sein!“11 Für Carl Schmitt wäre das unmöglich; der Mensch sei ein „Landtreter“.

Wie kein anderes ist Camus‘ Denken vom Mittelmeer befruchtet, und es hat sich seiner Kultur verschrieben. Insbesondere in Hochzeit des Lichts, Heimkehr nach Tipasa und in Der Fremde. Mit ihm kann man es als ein mittelmeerisches Denken verstehen, womit es zum Vorbild für philosophische Reflexionen über das Mediterrane wird. Camus subjektiviert diese spezielle Liebe zum Mediterranen als ein reziprokes Naturband, wobei das menschliche Subjekt allein in der Negation auftritt. Das brüderliche Lächeln dieser Liebe könnte ein Identitäten auflösendes sein, gewonnen aus einem mediterranen Existieren, das den anderen durch den Bezug zum Meer je schon einbezogen hat. „Ich hatte immer das Gefühl auf hohem Meer zu leben, bedroht, im Herzen eines königlichen Glückes.“

Unsere Verleugnung, Abkehr, Verdrängung, sträfliche Instrumentalisierung von Natur hat ihr Status, Raum, Bedeutung und Geltung entzogen. Camus folgert: Wir sind nur noch die „abtrünnigen Söhne“ der Griechen. „Freiwillig amputierte man der Welt das, was ihre Dauer bewirkt: die Natur, das Meer, die Hügel, die Beschaulichkeit der Abende.“12 Die Folgen dieser Amputation drohen uns heute zu überrollen; die Erde könnte unfruchtbar werden, verwüsten, und wir verlören unseren Lebensraum.

Es muss betont werden, dass es bei Nietzsche und bei Camus um eine Vision, der zuweilen auch Mythisches inhäriert, der griechischen Antike geht. Es ist hier nicht von Interesse deren Triftigkeit zu überprüfen. Bei beiden werden mit ihr Imaginationen verbunden, die kreiert oder konstruiert sind. Dann können sie die enorme Funktion erfüllen und den herausgehobenen Status einnehmen, der für ihr Denken vielfältig essentiell ist.

Der homerischen Sage zufolge, war Odysseus nach überstandenen Abenteuern und gemeisterten Gefahren – nach Jahren der Irrfahrt – in seine Heimat Ithaka zurückgekehrt. In der Odyssee liest sich das so: „Vom Schiff mit guten Ruderbänken kletterten sie aufs Festland, // trugen zuerst Odysseus aus dem bauchigen Schiff // und legten ihn samt dem Leintuch und der schwimmenden Decke // dort in den Sand, vom Schlaf überwältigt, wie er war.“13 In der Dialektik der Aufklärung wird er der listige genannt. „Der listige Einzelgänger ist schon der homo oeconomicus, dem einmal alle Vernünftigen gleichen. […] Dem Zufall des Wellengangs ausgeliefert, hilflos isoliert, diktiert ihnen ihre Isoliertheit die rücksichtslose Verfolgung des atomistischen Interesses.“14 Dieser freilich sollte nicht in Camus’ Ithaka zurückkehren, denn es wäre nicht seine Heimat.

Wie aber können philosophische Reflexionen – und zu betonen ist, dass sie sich vorrangig auf Metaphorisches beziehen, das Mediterrane erfassen, und was könnten sie damit initiieren? Es wäre zu belegen, dass diese bedrohte und partiell verlorene Kultur gegenüber der Versagungsmoral des Nordens ein selbstbestimmteres Leben verspricht, wiewohl man sich dazu auf eine ungesicherte und unsichere Fahrt am Kompass eines erneuerten, aufklärenden Denkens begeben muss. Dabei würden das Mittelmeer und seine Kultur des Mediterranen als Kreatoren eines postmoralischen Daseinsvollzugs rehabilitiert, womit sich die Entfremdungen nördlicher Existenzen – wie Nietzsche und Camus es sehen – in einem Prozess der Auflösung befinden sollten.

Die (er)schaffende Dimension mediterraner Existenz-, Denk- und Erkenntniskultur steht im Fokus der Reflexionen, im Wissen, wie schwer sie zu erfassen sind, aber im Pathos dessen, was wir Essenzielles durch sie gewinnen und zurückgewinnen könnten. Dazu gehört, das Meer als unsere Lehrmeisterin für ein Einheitsgefühl mit der Natur zu begreifen. „Im grossen Schweigen“ erklärt Nietzsche poetisch, der Mensch müsse sein degeneriertes Menschsein aufgeben, das lebensfeindliche, des religiös-moralischen Nordens. Für den mediterranen Süden ist aber nicht weniger gefordert, als unser gewohntes Menschsein aufzugeben, und niemand kann versprechen, dass ein davon entferntes, gar ein ihm gegenüber transformiertes, überhaupt gelingen könnte.

Gegen die moralische Kälte des Nordens – als Allegorie einer sinnenfeindlichen Zivilisation – setzt Nietzsche den „Süden“. Zu betonen ist, dass es weder bei Nietzsche noch im Folgenden um eine soziologische oder ökonomische Relation zwischen Norden und Süden geht. Es scheint, als seien Süden und Norden auf unterschiedlichen Kontinenten situiert. In der Metapher Süden zeigt sich seine Parteilichkeit für eine bedingungslose Liebe zum Leben – entlang dem Amor fati zu leben, das Schicksal zu bejahen und zu lieben. Dieser Süden soll zudem unsere Wünsche, Hoffnungen, Fantasien und Sehnsüchte symbolisieren und verkörpern – und damit den Kanon des Post-Moralischen – nicht zuletzt poetisch decodiert über seine Wärme und Lichtfülle. Nietzsches Forderung, „den Süden in sich wieder entdecken und einen hellen glänzenden geheimißvollen Himmel des Südens über sich aufspannen“, unterstreicht zudem, dass wir ihn – obwohl verdeckt, überlagert, verdrängt – noch in uns tragen. Er müsste über schmerzhafte Prozeduren des Loslassens sich entbergen und wird damit zum Symbol eines Daseins, das unter der Überschrift eines Jenseits vom Glauben und von Gut und Böse firmiert, wie auch das Mediterrane.

Aus seiner Frontstellung gegen den Norden, die eine Abkehr ist, folgert er in der Fröhlichen Wissenschaft: „es hätte überhaupt keine Verchristlichung Europa’s gegeben, wenn nicht die Cultur der alten Welt des Südens allmählich durch eine übermässige Hinzumischung von germanischem Barbarenblut barbarisirt und ihres Cultur-Uebergewichtes verlustig gegangen wäre“.15 Diese vorchristliche, verlorene Kultur müsste im Mediterranen fragmentarisch noch beheimatet sein und sollte womöglich in einem diesbezüglichen Denken revitalisiert werden. Selbst wenn das nach einer Idealisierung des Südens/Mediterranen klingt und ein Wiedergewinn ungewiss scheint, sollte das geprüft werden. Dabei werden wir sehen, dass Nietzsches geadelter Süden Begünstigungen des Meeres und seines wärmenden Klimas umfasst, aber auch enorme Herausforderungen, womöglich Überforderungen, durch ein gleichsam schwebendes Existieren mit seiner Diskontinuität. All das unterstreicht die existenzielle Gefahr dieses Aufbruchs ins Ungewisse, der sich Utopischem nicht verweigern kann, nicht allein deshalb, weil es die Grenzen des Erkennens verschiebt und dabei erweitert, sondern weil es diesem Projekt inhäriert. Darin muss nichts Abschreckendes liegen. Es ist nur redlich, die Gefahren zu benennen, um erst danach die positiven Erträge in den Blick zu nehmen, auch wenn ein Abwägen schwer wird.

Trotz all dieser Hinweise und Erwägungen steht die Antwort auf die entscheidende Frage, was charakterisiert eine mediterrane Existenz und was macht sie damit einer nördlichen überlegen, weiterhin aus. Ihre Beantwortung ist ein relevantes Thema der Studie. Ebenso wichtig ist die erkenntnistheoretische Dignität der Terme/Topoi/Allegorien/Metaphern und Symbole – über die eine solche Existenz zu erfassen wäre. Daran muss sich die Antwort auf die Frage, warum sich ein mediterranes Existieren zum Vorbild nehmen, anschließen. Das bedeutet keineswegs, dass wir ans Meer ziehen und als Küstenbewohner leben müssen, sondern vielmehr einen theoretisch überzeugenden Nachweis der Überlegenheit dieses Existierens vorzulegen, aus dem ein transformierender Input für uns „Landthiere“, „Landtreter“ gewonnen werden kann. Im Kontext dieses Nachweisens werden die notwendigen Loslösungen aufgezeigt, die wir vollziehen müssen und die auf uns einwirken. Ihr signifikanter Input sollte eine sinnliche Bejahung des Lebens sein und in diese münden. Dazu ist eine maßvolle Abkehr vom Abstrakten, vom Analytischen und Deduzierbaren nötig – zumindest so weit, dass philosophische Reflexionen des Mediterranen als eigenständige sichtbar werden und bestehen können.

Mit der These, alles Leben beginne im Wasser, wird das Landtier Mensch mit einem ihm prima facie fremden, bedrohlichen Element verbunden. Später eignet er sich das Meer über die Schifffahrt partiell an. Mit Heraklit, der die ewige Bewegung und damit die ewige Verwandlung und Veränderung fokussiert, panta rhei, wird nicht zuletzt das Meer zum Medium. Nietzsche:

Lauter als Anaximander rief Heraklit es aus: ‚Ich sehe nichts als Werden. Laßt euch nicht täuschen! In eurem kurzen Blick liegt es, nicht im Wesen der Dinge, wenn ihr irgendwo festes Land im Meere des Werdens und Vergehens zu sehen glaubt.‘ Ihr gebraucht Namen der Dinge, als ob sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Mal steigt, ist nicht derselbe als beim ersten Male.

In Goethes Worten: „Gleich mit jedem Regengusse // Ändert sich dem holden Tal, // Ach, und in demselben Flusse // schwimmst du nicht zum zweitenmal“16 ; alles ist in Bewegung.

Um ein methodisches Instrumentarium des mediterranen Denkens zu benennen, behaupte ich, das Meer zeigt sich unserer Wahrnehmung als ein erhabenes in Anbetracht des scheinbar Unendlichen, wiewohl es sich um eine endliche Realität handelt. Ihre Endlichkeit ist für unsere Wahrnehmung jedoch nachrangig, womit sich das durchs Unendliche/Grenzenlose ausgelöste Gefühl der Erhabenheit beim Anblick des Meeres erhält. Bei der Semantik des Erhabenen muss auf Kants Kritik der Urteilskraft reflektiert werden. In Differenz zum Geschmacksurteil über das Schöne, das laut Kant auf die interesselose Betrachtung des Gegenstandes zielt, ist es beim Erhabenen die Unform/Formlosigkeit eines Unbegrenzten, das die Frage aufwirft, wie es wahrgenommen werden kann? „Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist. […] Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft“ – und das unsere Wahrnehmung zwangsläufig übersteigt.17 Dieses Übersteigen generiere das Gefühl und die Wahrnehmung der Erhabenheit und übersteige damit unsere Einbildungskraft.

Wiewohl und gerade weil unsere Wahrnehmung gegenüber dem Schrankenlosen/Unbegrenzten, Unendlichen, scheinbar Formlosen, der scheinbar reinen Seinsfülle – dem apeiron des Anaximander, der auch davon überzeugt war, dass alles aus dem Wasser entstanden ist – versagt, müssen sich philosophische Reflexionen des Mediterranen dieser Herausforderung stellen. Dabei sollten sie sich – womöglich im Geist einer durch es erneuerten Aufklärung, die mehr sein muss als eine Kritik an der europäischen –, auf etwas beziehen, das mit der Würde des antiken, wissenden und souveränen Menschen verbunden ist. Er ist der Bewohner von Camus‘ Ithaka und nicht der dionysische Künstler Nietzsches, aber auch ein Schaffender, der aus den genannten Einflüssen des Mediterranen schöpft, sie ausschöpft. Dem Stofflichen und seinen diversen Spiegelungen der Vergegenständlichung verpflichtet, will sagen, sie nicht zu instrumentalisieren, sollte diese souveräne Würde gegen Dekadenz und Nihilismus stehen – und selbstverständlich den monotheistischen Versprechungen keinen Glauben mehr entgegenbringen.

Die der antiken abgeschaute Würde, generiert durch mediterrane Natur und ihrer Kultur – „Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung“18 – sollte ein Denken anleiten, das schwer korrumpierbar ist – weder durch ökonomische Inanspruchnahme, durch Nützlichkeitserwägungen noch durch Anpassung an vorgegebene Standards. Instrumentalisierungen insbesondere von Natur, wären hier undenkbar. Das Fließende dieses Denkens kann weder auf Begriffe noch Kategorien vertrauen; es operiert im Metaphorischen und vor allem in Bildern und öffnet diese Medien dem philosophischen Diskurs, schließt Widersprüche ein und fürchtet keine Aporien. Es begrüßt Übergänge und Transformationen und hätte die Kraft, sich ohne Aussicht auf einen stabilen Grund und Boden, gleichsam schwimmend, zu formieren und dabei ein Existieren zu unterstützen, das um seine Fragilität weiß und reflektierend alles auszuschließen sucht, das sich an ihr vergehen könnte.

In der Fröhlichen Wissenschaft ruft Nietzsche gleichsam hinter dem Fernrohr des großen Entdeckers Columbus: „Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe ihr Philosophen!“ Diese Aufforderung, hinter der sich Kritik verbirgt, und die einer Forderung gleichkommt, zeigt neben der Identifikation mit dem Entdecker des neuen Kontinents, Columbus, das Votum für ein neues Philosophieren, ein gefahrenreiches und abenteuerbejahendes. „Dem Schiffe gleichend, welches mit seinem weissen Segel wie ein ungeheurer Schmetterling über das dunkle Meer hinausläuft! Ja! Ueber das Dasein hinauslaufen! Das ist es! Das wäre es!“19

Die Existenz der zukünftigen Philosophen sollte über die Beschränkungen des Daseins hinauslaufen können, ein leichtes sein, hierfür steht der Schmetterling über dem dunklen Meer; eine fragile Kreatur über einem Abgrund. Die Farbe indiziert die unabwendbare Gefahr und Gefährdung. Sie symbolisiert die Untiefen des Meeres und damit auch die des Philosophierens. Das erinnert an Herders „Alles gibt hier dem Gedanken Flügel und Bewegung und weiten Luftkreis!“ Dann stellt sich die Frage: „Wo ist das feste Land, auf dem ich so feste stand? Philosoph der Natur, das sollte dein Standpunkt sein, mit dem Jünglinge, den du unterrichtest! Stelle dich mit aufs weite Meer.“20

Mit den vielfältigen Perspektiven des Mediterranen wären andere, zumindest deutlich veränderte Einstellungen zu entdecken, auch in uns, verbunden mit einem offenen Willen, in ihnen nicht aneignend heimisch zu werden. „Als das Tier seinen Kopf aus dem Wasser hob – so beschreibt Michelet den Biber – und den Menschen sah, wagt er nicht einmal zu fliehen, ‚sondern brach nur in Tränen aus.‘“21

Eine Einteilung und Unterteilung der Thematik wird mit der Rekonstruktion von Wasser und Meer in den Mythen beginnen, woran sich die biblische Metaphorik des Meeres anschließt.22 Eine Reflexion des mediterranen Existierens mit dem Bezugspunkt und Initiator Mittelmeer kann sich auf die griechische und römische Antike sowie auf Nietzsche, Camus u. a. und auf Schriftsteller, Dichter, Lyriker und Komponisten beziehen, deren artifizielle Überlegungen für die Philosophie sehr befruchtend sind. Diese Befunde fließen in Abgrenzung von Existenzweisen ein, die dem „Landthiere“ und „Landtreter“ anhand der christlichen Moral und in ihrem Umgang mit der Natur so selbstverständlich sind – und damit leider auch für uns. In „‚Schuld‘, ‚schlechtes Gewissen‘, Verwandtes“ behauptet Nietzsche, es sei uns nicht anders „als es den Wasserthieren ergangen sein muss, als sie gezwungen wurden, entweder Landthiere zu werden oder zu Grunde zu gehen“.23 Zu erkennen wäre, inwieweit diese Moral nicht nur eine Instrumentalisierung von Natur legitimiert, sondern den Umgang mit unserer präfiguriert hat und auf ihn abstrahlt. Dabei ist u. a. auf Nietzsches Allegorie der Kälte des „Nordens“ bei der Formierung des Christentums, insbesondere der Reformation und der Moral zu reflektieren, denen er seine Metaphorik der Wärme des Südens – ‚den Süden in uns wieder entdecken‘ –, entgegensetzt.

Zudem wird die Dignität von Camus’ These einer „Absurdität“ menschlichen Lebens, wie es sich vorrangig in einem städtischen Dasein zeigt, dem er ein mittelmeerisches Existieren im Einklang mit Natur entgegensetzt, zu prüfen sein. Dazu gehört die Beantwortung der Frage, ob eine mittelmeerische Existenz der Absurdität ein Stück weit zu entkommen vermag, wiewohl auch sie davon nicht wirklich befreit sein kann.

Berücksichtigt werden weiter die symbolischen Relationen zwischen dem Meer und dem Mutter-Imago. C.G. Jung begreift das Imago als ein unbewusstes Vorstellungsbild, wobei das Mutter-Imago, etwa in Symbole der Wandlung, mit dem Meer verbunden wird; der mütterlich-umhüllende Aspekt des Meeres koinzidiere mit dem Mutter-Imago. Ein tiefenpsychologisches Verständnis entberge es in Träumen, wo es häufig als Meer oder als ein tiefes Gewässer imaginiert werde. Inwieweit, ist zu fragen, eröffnen sich dem Mutter-Imago des Unbewussten – wie über das Meer – ein Gefühl der Erhabenheit als dem Unbegrenzten, Formlosen, Erschütternden und Transzendierenden, Nicht-Fasslichen und dabei so Wirkmächtigen?

Basierend auf den gewonnenen Erkenntnissen wird die Bedeutung philosophischer Reflexionen des Mediterranen, nun erweitert um die Dimension des Unbewussten, inkarniert im Mutter-Imago für eine Umstellung des Existierens analysiert. Dabei geht es in keiner Weise um die Frage, ob ein fließendes Existieren im endlos-bewegten Werden des ersten Elements für uns möglich sein kann. Es scheint evident, dass dem nicht so ist. Gleichwohl könnte für eine vom Glauben befreite Lebensbejahung, die, wie ich es sehe, den dringend erforderlichen Einstellungswandel gegenüber der Natur nachhaltig befördern würde, eine Einbindung des Mediterranen/Südens – mit den vorgestellten umfangreichen Konnotationen – sinnvoll sein, soweit das eben möglich ist. Es wird also diskutiert und abgewogen werden müssen, ob eine Wiederentdeckung und folglich eine Wiederaufrichtung des Südens und damit dessen Rehabilitation uns einen achtenden Umgang mit der Natur ermöglichen kann, von dem vor allem wir profitieren würden.

1

„eine Annahme, die er wahrscheinlich deshalb faßte, weil er sah, daß die Nahrung aller Dinge feucht ist und das Warme selbst aus dem Feuchten entsteht“. Aristoteles 2005, 44f. – „daß hier entscheidend Neues vorliegt, in doppelter Hinsicht. Einmal ist eben nicht der Okeanos der Ursprung, sondern das Wasser, nicht der göttlich-mythische Weltenstrom, sondern schon hier ist offenbar eine Reduktion erfolgt einer solchen göttlichen Gestalt auf das Wasser. […] es ist doch das Wasser anstelle der göttlichen Gestalt“. Schadewaldt 1978, 226f. – „Wenn Thales sagt ‚Alles ist Wasser‘, so zuckt der Mensch empor aus dem wurmartigen Betasten und Herumkriechen der einzelnen Wissenschaften, er ahnt die letzte Lösung der Dinge und überwindet, durch diese Ahnung, die gemeine Befangenheit der niederen Erkenntnißgrade. […] So schaute Thales die Einheit des Seienden: und wie er sich mittheilen wollte, redete er vom Wasser!“ – „Die dürftigen und ungeordneten Beobachtungen empirischer Art, die Thales über das Vorkommen und die Verwandlungen des Wassers oder, genauer, des Feuchten, gemacht hatte, hätten am wenigsten eine solche ungeheure Verallgemeinerung erlaubt oder gar angerathen; das, was zu dieser trieb, war ein metaphysischer Glaubenssatz, der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat, und dem wir bei allen Philosophien, sammt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen: der Satz ‚Alles ist Eins‘.“ PHG, KSA 1, 817; 813.

2

Hegel 1971, Band 18, 117. „Der Thaletische Satz, daß das Wasser das Absolute oder, wie die Alten sagten, das Prinzip sei, ist philosophisch; die Philosophie beginnt damit, weil es damit zum Bewußtsein kommt, daß Eins das Wesen, das Wahrhafte, das allein Anundfürsichseiende ist.“ Ebd., 203.

3

„Dies ist ein Verdienst, das keiner zum zweiten Mal in dem Maasse haben kann.“ Blumenberg 1987, 131. – In Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen listet Nietzsche drei Gründe seiner Würdigung für Thales und damit für den Beginn der griechischen Philosophie auf: „erstens weil der Satz etwas vom Ursprung der Dinge aussagt und zweitens, weil er dies ohne Bild und Fabelei thut; und endlich drittens, weil in ihm wenngleich nur im Zustand der Verpuppung der Gedanke enthalten ist: alles ist eins. Der erstgenannte Grund läßt Thales noch in der Gemeinschaft mit Religiösen und Abergläubischen, der zweite aber nimmt ihn aus dieser Gesellschaft heraus und zeigt uns ihn als Naturforscher, aber vermöge des dritten Grundes gilt Thales als der erste griechische Philosoph.“ PHG, KSA 1, 813.

4

„Das ist das eine, weswegen Thales mit Recht von Aristoteles als der Beginner dieser Art denkerischen Suchens bezeichnet wird. […] daß Thales anscheinend im Zusammenhang mit diesem Satz auf Tatsachen verwiesen hatte. […] daß die Nahrung feucht ist, daß aus dieser die Wärme hervorgeht und man dadurch auch zum Leben kommt; und schließlich, weil die Natur des Samens in allen Formen, pflanzlichen wie tierischen, feucht sei, das Feuchte sich also auch von daher als Element des Lebens erweise.“ Schadewaldt 1978, 227.

5

PHG, KSA 1, 813; Za, KSA 4, 267. – Agrippa von Nettesheim schreibt, dass alles im Wasser begründet sei, darin liege, es beherberge, die Samenkraft von allem sei. „Sein Nutzen und Gebrauch ist unendlich mannigfaltig und alle Dinge hängen von seiner Macht ab, indem es die Kraft der Erzeugung, der Ernährung und des Wachstums besitzt.“ Von Nettesheim 1924, 59f.

6

„Am Epos, dem geschichtsphilosophischen Widerspiel zum Roman, treten schließlich die romanähnlichen Züge hervor, und der ehrwürdige Kosmos der sinnerfüllten homerischen Welt offenbart sich als Leistung der ordnenden Vernunft, die den Mythos zerstört gerade vermöge der rationalen Ordnung, in der sie ihn spiegelt. […] Nietzsche hat wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt. Er hat ihr zwiespältiges Verhältnis zur Herrschaft formuliert.“ GS 3, 61f. – „Daß wir wieder Homer empfinden, betrachte ich als den größten Sieg über das Christenthum und christliche Culturen: daß wir die christliche Verzärtelung, Verhäßlichung, Verdüsterung, Vergeistigung satt haben.“ NL 1884, 25[293]; KSA 11, 86.

7

NL 1883, 13[3]; KSA 10, 453; Za, KSA 4, 290; NL 1883, 15[17]; KSA 10, 483.

8

FW, KSA 3, 574. – Die Moral gehört zum Festen, zum Leben auf dem Festland. „Oh meine Brüder, ist jetzt nicht Alles im Flusse? Sind nicht alle Geländer und Stege in’s Wasser gefallen? Wer hielte sich noch an ‚Gut‘ und ‚Böse‘?“ Za, KSA 4, 252.

9

M, KSA 3, 331. – „Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserm Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Schaaren viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden, wohin wir strebten, und wo Alles noch Meer, Meer, Meer ist!“ Ebd.

10

„Wir wissen das ‚wohin‘? noch nicht, zu dem wir getrieben werden, nachdem wir uns dergestalt von unsrem alten Boden abgelöst haben.“ NL 1885/86, 2[207]; KSA 12, 168. – „Wir müssen eines Zieles halber viele Schmerzen zu ertragen wissen; ja Schmerzen aufsuchen und freiwillig erwählen, wenn das Ziel solche Mühsal nöthig hat. Haben wir denn einen Bund mit dem Schicksal gemacht, daß unser Schiff keinen Schiffbruch leidet? Unsere Reise durch keine Wüste führe?“ NL 1880/81, 9[2]; KSA 9, 409. – „Eine boshafte Seligkeit dünkte mich’s oft, auf den höchsten Masten, gleich einer Flamme sitzen: ein kleines Licht zwar, aber doch ein großer Trost für verschlagene Schiffer und Schiffbrüchige.“ NL 1883, 23[5]; KSA 10, 638.

11

NL 1885, 36[2]; KSA 11, 549f. – „Das Meer nimmt ab, der Mensch das feste Land nimmt immer zu – aber weil er nur sieht, daß sich Alles verändert, so glaubt und fühlt er umgekehrt und meint, seine Unfestigkeit sei im Wachsen und er werde schließlich dem Meere nicht mehr Widerstand leisten können. – Die Langsamkeit der Vorgänge in der Geschichte des Menschen ist nicht dem menschlichen Zeitgefühl angemessen – und die Feinheit und Kleinheit alles Wachsens spottet der menschlichen Sehkraft.“ NL 1881, 15[41]; KSA 9, 648f.

12

Camus 2000, Heimkehr, 112; 84. – „Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe! Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehn haben, die wir von da aus hinabgesehn haben? Sind wir nicht eben darin – Griechen? Anbeter der Formen, der Töne der Worte? Eben darum – Künstler?“ FW KSA 3, 352. – „Das Meer, welches das Leben auf diesem Erdball begann, wäre noch immer seine wohltätige Amme, wüßte der Mensch nur die in ihm herrschende Ordnung zu respektieren.“ Michelet 2006, 241. – D.H. Lawrence „Sie sagen, das Meer sei ohne Liebe und daß im Meer keine Liebe leben kann […] Doch aus dem Meer empor // Springen die Delphine rund um das Schiff des // Dionysos // dessen Meer purpurne Weinreben umwinden […] das Meer schenkt sich in Liebe dem Dionysos // in den Sprüngen dieser kleinen glückseligen Wale.“ Zitiert nach Wüstner 2005, 51.

13

„Dann brachte sie die Kostbarkeiten heraus, die ihm die erhabenen Phaiaken // vor seiner Heimfahrt gegeben hatten, dank dem Wirken der großherzigen Athene. // Das nun legten sie alles zusammen an den Stamm des Ölbaums, // fern vom Weg, dass kein vorbeiziehender Mensch, // bevor Odysseus erwachte, hinging und stahl. Sie aber fuhren wieder heim.“ Homer: Odyssee, 13. Gesang 116-125. – „Die Irrfahrt von Troja nach Ithaka ist der Weg des leibhaft gegenüber der Naturgewalt unendlich schwachen und im Selbstbewußtsein erst sich bildenden Selbst durch die Mythen. Die Vorwelt ist in den Raum säkularisiert, den er durchmißt, die alten Dämonen bevölkern den fernen Rand und die Inseln des zivilisierten Mittelmeers, zurückgescheucht in Felsgestalt und Höhle, woraus sie einmal im Schauder der Urzeit entsprangen.“ GS 3, 64.

14

GS 3, 80. – „Das Organ des Selbst, Abenteuer zu bestehen, sich wegzuwerfen, um sich zu behalten, ist die List. Der Seefahrer Odysseus übervorteilt die Naturgottheiten wie einmal der zivilisierte Reisende die Wilden, denen er bunte Glasperlen für Elfenbein bietet.“ Ebd., 66. – Zustimmend hierzu Blumenberg: „List muß vor dem Hintergrund der rohen Grausamkeit schon als Stufe der Verfeinerung der Mittel gesehen werden. Das gilt noch für Odysseus als dem Listenreichen, wenn er es mit den Ungeheuern wie dem Poseidon-Abkömmling Polyphen zu tun hat.“ Blumenberg 1979, 131. – „Odysseus darf bei Kalypso zwischen der Unsterblichkeit und der Erde wählen. Er wählt die Erde und mit ihr den Tod.“ Camus 2000, Heimkehr, 86. Bei Camus ist Odysseus aufrecht bis in den Tod und nicht der Listenreiche.

15

NL 1885, 41[7]; KSA 11, 682; FW, KSA 3, 493f. – „Dass Luther’s Reformation im Norden gelang, ist ein Zeichen dafür, dass der Norden gegen den Süden Europa’s zurückgeblieben war und noch ziemlich einartige und einfarbige Bedürfnisse kannte […] Je allgemeiner und unbedingter ein Einzelner oder der Gedanke eines Einzelnen wirken kann, um so gleichartiger und um so niedriger muss die Masse sein, auf die da gewirkt wird; während Gegenbestrebungen innere Gegenbedürfnisse verrathen“. Ebd.

16

„Ihr gebraucht Namen der Dinge, als ob sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Mal steigt, ist nicht derselbe als beim ersten Mal.“ PHG, KSA 1, 823. – „‚Das Werden schaue ich an, ruft er, und niemand hat so aufmerksam diesem ewigen Wellenschlage und Rhythmus der Dinge zugesehen.“ Ebd., 822; Goethe 1990, Band 1, 247. – „Aber nicht nur Hegel und Nietzsche schlossen sich dem Denken des steten Fließens an. Goethe übernahm heraklitische Gedanken in seiner Philosophie der Natur und auch in seiner Lyrik; in seinem Gedicht Dauer im Wechsel wird Heraklit fast wörtlich zitiert. […] Hatten Thales und besonders Anaximander die physische Verbindung des Menschen mit dem Wasser behauptet, so zeigt sich bei Heraklit und seinen Nachfolgern auch eine geistige Verbindung. Um die bewegte Wirklichkeit zu begreifen, benutzt man gedankliche Werkzeuge Bilder und Vorstellungen, die sich ans Wasser anlehnen.“ Scholtz 2017, 32f.

17

Kant 1977, X, 169; 172.

18

GM, KSA 5, 357.

19

FW, KSA 3, 530; 424. – „Das Schiff, dieser Schwan der See, der in behenden und runden Bewegungen die Wellenebene durchschneidet oder Kreise in ihr zieht, ist ein Werkzeug, dessen Erfindung ebenso die Kühnheit des Menschen als seinem Verstande die größte Ehre macht.“ Hegel 1971, Band 12, 119. – „Aber sobald die äußere ‚Gefährlichkeit‘ der Existenz zurückgeht, entsteht eine Lust an der Unsicherheit, Unbegrenztheit der Horizont-Linien. Das Glück der großen Entdecker im Streben nach Gewißheit könnte sich jetzt in das Glück verwandeln, überall die Ungewißheit und das Wagniß nachzuweisen. Ebenso ist die Ängstlichkeit des früheren Daseins der Grund, weshalb die Philosophen so sehr die Erhaltung (des ego oder der Gattung) betonen und als Princip fassen: während thatsächlich wir fortwährend Lotterie spielen gegen dies Princip.“ NL 1884, 26[280]; KSA 11, 223f.

20

Herder 1997, Band IX/2, 16.

21

Michelet 2006, 13.

22

„– Der ‚frohen Botschaft‘ folgte auf dem Fuss die allerschlimmste: die des Paulus. In Paulus verkörpert sich der Gegensatz-Typus zum ‚frohen Botschafter‘, das Genie im Hass, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen Logik des Hasses. Was hat dieser Dysangelist Alles dem Hasse zum Opfer gebracht!“ AC, KSA 6, 215f.

23

GM, KSA 5, 322. – „Es ist schon merkwürdig, daß man gleich zu Beginn der Philosophie den Beginn allen Lebens im Meer vermutete und so zu einer Überzeugung gelangte, die viel später durch hoch entwickelte Wissenschaften erhärtet werden sollte. Dadurch hat das Landtier Mensch eine gedankliche Brücke zu einem ihm fremden Element gebaut.“ Scholtz 2017, 25.

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Das Mittelmeer

Philosophische Reflexionen über das Mediterrane

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