Virale Wirkung, präliminär

In: Die vergessene Sympathie
Author:
Verena Olejniczak Lobsien
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Nicht nur Anfänge sind häufig schwer anzugeben, auch Enden sind oft uneindeutig, gerade wenn es längere Prozesse sind, die zuende gehen. Dieses Buch hat seinen Anfang vor einigen Jahren genommen, im Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt zu Transformationen der Antike.1 Es kommt zum Ende in der Corona-Pandemie, die, wie wir immer wieder hören, „noch nicht zuende“ ist, und die Arbeit an seinem Thema verlief zuletzt auch unter den von ihr gesetzten Bedingungen. Nun ist es nicht egal, wann sich etwas zuträgt, in welcher Zeit, in welchen Kontexten und unter welchen Umständen sich hermeneutische Prozesse abspielen und in Worte gefasst werden. Welcher Art die Abhängigkeiten und Beziehungen sind, die dabei eine Rolle spielen, sieht man meistens erst im nachhinein; dann allerdings aus einer Perspektive, die nicht mehr die ist, mit der man begonnen hatte. Die Pandemie jedenfalls, die unser Leben in den vergangenen zwei Jahren geprägt hat und weiterhin bestimmt, hat, das kann diese einleitende Reflexion auf meine Überlegungen zur literarischen Sympathie zeigen, überraschend viel mit dem Thema und der Frage zu tun, die mich so lange beschäftigt haben. Dies ist kein Buch über Corona oder Covid-19 – aber über einiges, das die Pandemie (erneut) ins Bewußtsein treten lässt, vieles, das sie begleitet, und manches, das ihre Ursache ist.

Die Pandemie betrifft uns, ausnahmslos, ob wir von der Krankheit betroffen sind oder nicht. Wir erleben unter Bedingungen der Globalisierung, was die Menschheit in vergleichbarer Weise wohl zuletzt während der Pest und anderer großer Seuchen in Mittelalter und Früher Neuzeit erlebt hat. Sie affiziert uns, ob wir das wissen oder nicht. Wir erleben, sehen, hören und erfahren Dinge, von fern und am eigenen Leibe, die unser Leben verändern und weiter verändern werden. Das merken wir, direkt oder indirekt. Die Pandemie ist ein Krankheitsgeschehen, aber auch ein anhaltendes Gefühlsereignis. Sie ist das nicht nur, weil sich an ihr und in ihr die Geister scheiden. Das Virus scheint nahezu apokalyptisch die Böcke von den Schafen, Gute und Böse, Helfer und Retter von Egoisten und Nutznießern, Kluge und Weise von Törichten und Dummen zu trennen. Nicht immer ist jedoch offenkundig, wen oder was wir vor uns haben; ebensowenig ist stets unmittelbar klar, in welche Richtung unser Fühlen oder Mitfühlen zu gehen hätte. Selbst- und Fremdbezug hängen zusammen, aber konfus.

Zur Zeit der Ausbreitung des Virus geht auch die Sympathie maskiert auf die Straße. Das Gebot des social distancing sorgt für Abstand zwischen verständigen Menschen. Wer guten Willens, zudem höflich ist und alle vor Ansteckung bewahren möchte, kann das während der Pandemie auch durch öffentliches Tragen einer Atemschutzmaske zeigen. Denn ein für unsere Augen unsichtbarer, über kleinste Partikel in der Atemluft übertragbarer Erreger gelangt vom einen zur anderen und löst bei vielen eine schwere, häufig tödlich verlaufende Infektion aus. Er wird, wenn er nicht durch starke Schutzmaßnahmen, ein wirksames Gegenmittel, Heilmittel oder einen Impfstoff daran gehindert oder in seiner Wirkung gelenkt wird, die Menschheit solange infizieren, bis alle oder die allermeisten darauf geantwortet haben, indem ihr Immunsystem Antikörper ausgebildet hat; mit oder ohne pharmazeutische Unterstützung. Solange es noch kein passendes Mittel und keine Heilung gibt, wird danach gesucht; sobald es Mittel oder Impfstoffe gibt, werden sie fortlaufend an die Mutationen des Virus angepasst werden müssen. Das geschieht auch, indem Alternativen erprobt oder, im compassionate use, Remedien eingesetzt werden, die eigentlich für andere Erkrankungen gedacht und zugelassen sind. In der Zwischenzeit passen wir uns auch an, ändern unser Sozialverhalten, streben nach Schutz und Abwehr – aus Furcht und Selbstsorge ebenso wie aus der Sorge um andere und für andere.

Nicht zuletzt sind wir dabei auch bewegt von Sympathie, erschrocken über Verlauf und schwere Folgen von Covid-19, geleitet von der vernünftigen Einsicht in die Ansteckungs-, Ausbreitungs- und Krankheitsmechanismen. Wir orientieren unsere Handlungen an dem Wissen über Beschaffenheit und Wirkung des Virus, das wir nach und nach gewinnen, und indem wir uns vorstellen, was geschehen würde, wenn wir ihm gestatteten, das ungehindert zu tun, was es naturgemäß tut: sich von einer Person zur anderen zu bewegen, in deren Organismus einzutreten, sich mit dessen Hilfe zu vermehren und dort ein potentiell tödliches Krankheitsgeschehen auszulösen. Um das zu verhindern, verhalten wir uns (wenigstens solange die Motivation durch diesen komplexen Affekt anhält), als gehörten wir zusammen: als seien auch wir ein kollektiver Organismus, der sich gegen etwas zur Wehr zu setzen sucht, das bereits in ihn eingedrungen ist. Wir suchen zu antizipieren, was uns widerfahren könnte; wir stellen uns vor, wie andere sich fühlen, fühlen so mit ihnen und für sie – Angst und Beklemmung, Gliederschmerz und Atemnot, Sorge, Kummer, Todesfurcht, Anspannung, Erregung und Panik, Leid, Verzweiflung und Trauer, Hoffnung und Genesungsfreude, Niedergeschlagenheit und Furcht vor bleibendem Schaden, Erschöpfung, Langeweile, Frustration, vielleicht auch Überdruss, Ungeduld, Verachtung, Ärger oder Aggression, gegen Ältere und Anfällige, deren besonderer Schutz die Einschränkung des eigenen Leben erforderlich zu machen scheint, oder gegenüber Ordnungskräften, die solche Schutzmaßnahmen durchsetzen sollen. Nicht selten sind diese starken Gefühle heillos gemischt, oftmals sind sie mehrstufig und aufeinander bezogen, immer haben sie eine irritierende Wechselseitigkeit, über die wir bisher nicht tagtäglich nachdenken mussten und mit der wir uns nicht gern befassen. Nicht nur das Mit-Fühlen, sondern schon die schiere Menge an Gefühlen, die einen selbst und andere betreffen und die wir an uns und anderen wahrnehmen, erfordert fortwährende Perspektivwechsel. Die aber sind auf schwierige Weise vermittelt, so verworren wie die Gefühle selbst. Zudem unterliegen sie dem Irrtum. Ich kann mich über das täuschen, was ich fühle; mehr oder weniger auch in dem irren, was andere fühlen. Denn ich fühle ja nicht tatsächlich, in vollem Umfang und in ganzer Intensität, was andere fühlen, sondern ich fühle das, von dem ich meine, annehme, mir vorstelle, dass andere es fühlen. Auch dieses gleichsam eingeklammerte Empfinden wird wiederum ganz unterschiedliche Gefühle in mir auslösen, etwa solche der Verstörung oder der Ohnmacht, der Erleichterung oder der Sorge, unter Umständen auch der Selbstzufriedenheit. Solche vielschichtigen Gefühle können uns spontan und manchmal unwillkürlich befallen, oder sie beschleichen uns nahezu unbemerkt. Sie breiten sich aus und können uns – sympathetisch – anstecken. Immer brauchen sie unsere Zustimmung, auch wenn wir das gern übersehen. Wir werden von ihnen berührt, suchen sie vielleicht noch abzuwehren oder lassen uns bereitwillig und widerstandslos von ihnen infizieren, als seien auch sie eine Art Krankheit. Schon daran, an den Kombinations-, Staffelungs- und Einbettungsmöglichkeiten der Gefühle, mehr noch an der Art und Weise, wie sie uns ankommen und wie wir auf sie antworten, zeigt sich: Die Corona-Pandemie ist auch ein Sympathiephänomen. Sie löst Sympathie aus, macht uns auf bestehende Sympathie aufmerksam, und sie nötigt uns, uns zur Sympathie zu verhalten. Sie ist geradezu ein Paradefall, an dem sich die Arten und Weisen, wie Sympathie erscheint, die Mechanismen ihrer Wirkung und die Fragen, die sie aufwirft, überdeutlich ablesen lassen – und das keineswegs nur im Zwischenmenschlichen. Denn Covid-19 ist eine Zoonose, eine Erkrankung des Lebendigen, die weit über den Horizont des bloß Menschlichen hinausweist.

Distanz, Mutualität, Wirkung

So kann in der Pandemie klar werden: Sympathie ist mehr als ein Gefühl. Als Gefühl ist sie außerordentlich komplex, schon weil sie sich auf andere und anderes richtet und zugleich auf das eigene Selbst. Außerdem involviert sie mehr als ein Gefühl, und sie ist weit mehr als Mitgefühl. Sympathie entspringt aus Einsicht und Wissen und bedarf der Imagination, sie ist begleitet von Bewusstsein, vernunftaffin und verschwistert mit Reflexivität, und sie führt zum Handeln. Sie wirft zudem gravierende ethische Fragen auf. ‚Natürlich‘ motiviert sie dazu, helfen und heilen zu wollen, aber sie bewegt auch zu Verhaltensänderungen, die wiederum gesellschaftliche und kulturelle Normen berühren. So gebietet es die vernünftige Einsicht in die Wirkungsweise des Coronavirus, den physischen Kontakt zu unseren Mitmenschen zu verringern und legt nahe, ihn, wo es geht, zu virtualisieren. Vernunftloses Mitfühlen führt bestenfalls zu Empathie, die uns zu entsprechenden Herzlichkeitsbezeugungen durch körperliche Nähe drängt. Weil wir wissen, dass das Virus für das bloße Auge unsichtbar ist und einige Zeit latent bleiben kann, dabei äußerst virulent, praktizieren wir soziale Distanz, bevor sich Krankheitssymptome zeigen. Wir tragen Atemschutzmasken, halten Abstand zu anderen, gerade wenn wir ihnen zugetan sind, und wir halten andere auf Abstand, weil wir nicht wollen, dass sie uns infizieren, oder dass sie sich an uns anstecken. Das tun wir, sofern wir verstanden haben, dass Wechselseitigkeit ebenfalls zur Sympathie gehört. Das schließt nicht aus, dass Sympathie auch einseitig und asymmetrisch sein kann (wenn etwa die Person, von der wir uns distanzieren, diesen Mechanismus und seine Gründe nicht versteht, diese nicht teilt oder nicht einsehen will).

Mag im Sozialen und Zwischenmenschlichen Mutualität ein Ideal sein, so bleibt fraglich, welcher Art sie sein soll, ob sie zur Norm erhoben werden kann bzw. in welchem Maß sie zu erwarten oder einzufordern wäre. Im Bereich des Humanen ist mit Vollkommenheit ohnehin nicht zu rechnen. Aber die Pandemie ist noch in anderer, fundamentaler Hinsicht ein Sympathie-Phänomen, das Fragen aufgibt und uns dabei einen viel geringeren Antwortspielraum lässt. Denn auch natürliche, physische, organische, biologische Prozesse scheinen sympathetisch, gleichwohl weit weniger kontingent zu verlaufen als soziale. Virale Wirkung, Ansteckung, jedenfalls die Übertragung des Coronavirus von einer Person auf die andere erscheint ohne effektive Abwehr kaum vermeidbar (Konzentration des mitgeteilten infektiösen Materials, Dichte, Unmittelbarkeit und Eintrittsmöglichkeit in den Organismus und dessen Rezeptivität vorausgesetzt). Die andere Person bekommt, was ich schon habe. Etwas – ein zwar unsichtbares, aber mit der entsprechenden Technik identifizierbares Ding von minimaler Materialität, eine Substanz – affiziert die andere Person, nachdem es mich affiziert hat und ähnlich, wie es mich affiziert hat. Dieses Ding ist eine organische Struktur, die etwas Lebendiges an sich hat. Es mag auch unter Virologen umstritten sein, ob Viren im strengen Sinn als Lebewesen zu bezeichnen sind; allemal ist das von unserem Verständnis von Leben abhängig. Dennoch sprechen wir intuitiv vom Coronavirus, als lebte es. Offenbar kann es in bestimmten Umgebungen ‚überleben‘. Es entfaltet seine Wirkungen eher im Feuchten (Tröpfchen, Aerosole) als im Trockenen, eher im Kühlen als im Warmen, und es scheint mit seinem Wirtsorganismus zu kommunizieren, mindestens zu interagieren. Es hat vielleicht keinen Stoffwechsel, aber es vermehrt sich. Es repliziert, nutzt parasitär die Möglichkeiten, die ihm sein Wirtsorganismus bietet, bewegt sich durch seine Vermittlung, mittels seiner Lebenssubstanz und durch die Materie, die auch sein Wirt zum Leben nutzt, und es verfügt wenn nicht über Selbstbewegung, so doch über Prozessualität. Dabei kann es sich verändern, es mutiert. Das Affizierende kann in den Organismen sein, zwischen denen es wandert, weil es gleichsam von derselben Art ist. Es partizipiert am organischen Leben. Die Folgen einer Affektion durch das Virus mögen unterschiedlich sein, weil es durch den aufnehmenden Organismus modifiziert werden kann oder dieser auf grundsätzlich ähnliche, aber im einzelnen wechselnde Weise darauf antwortet bzw. je anders mit ihm interagiert (etwa indem er rasch und in großer Zahl Antikörper produziert oder auch nicht). Aber Affizierendes und Affiziertes haben ausweislich und kraft dieser Interaktion beide, auf mal ähnliche, mal unterschiedliche Weise, Teil am Leben.

Nachweisbar und sichtbar zu machen ist das Coronavirus in seiner beeindruckend wehrhaften Stachelkugelgestalt mit den Verfahren der Naturwissenschaft; es ist ohne Zweifel ein Gegenstand der medizinischen, pharmazeutischen, immunologischen, virologischen Forschung. Auch seine Wirkungsweise bis in die Zellstrukturen hinein fällt in den Bereich dessen, was in der Antike übergreifend als ‚Physik‘ bezeichnet worden wäre, weil es im übergreifenden Sinn zur physis, Natur, gehört. Man kann also nicht nur von Sympathie sprechen wie von einem Virus, sondern auch vom Virus wie von Sympathie. Das ist möglich, weil diese Homologie eine Basis in der Wirklichkeit – in der Natur – hat. Das virale Geschehen in der Corona-Pandemie ist ein Prozess natürlicher Sympathie. Er vollzieht sich im Physischen; freilich bewusstlos, nach allem, was wir wissen. Gleichwohl erscheint das Virus wie ein Lebewesen und geradezu unheimlich lebendig. Auch wenn es anders als ein Bakterium und anders als der Organismus, der es aufnimmt, keinen Stoffwechsel hat, scheint es doch in bestimmten Milieus überleben und sich fortpflanzen zu können, scheinen ihm manche Umgebungen zuträglicher zu sein als andere, scheint es sie und sich selbst mit deren Hilfe verändern zu können, scheint es so oder anders zu operieren. Mag es auch kein Bewußtsein besitzen, so hat seine Effektivität doch etwas von Leben. Seine Art zu wirken besteht darin, anderes Lebendiges in Mitleidenschaft zu ziehen: Insofern ist sie sympathetisch, und man kann von ihr sympathologisch handeln.

Umgekehrt ähnelt die natürliche Sympathie ebenso wie die menschliche im Hinblick auf ihre Mutualität, die Art ihrer Wirklichkeit und ihrer Wirkung einem viralen Geschehen. Wir haben es, wenn wir von Sympathie handeln, auf jeden Fall mit mehr zu tun als nur mit dem Zwischenmenschlichen. Vielmehr geht es, wenn es um Menschliches geht, stets um Menschliches als Teil und Aspekt des Natürlichen. Die Corona-Pandemie macht eben auch das deutlich: dass physische und intersubjektive Sympathie zusammengehören und dass sie ebenso eng wie unklar verwandt sind. Wenn man beginnt, darüber nachzudenken, wie sie miteinander verschränkt sind, stößt man ziemlich bald auf einige schwierige grundsätzliche Fragen, die auch dieses Buch immer wieder stellen wird: Wie genau verhält sich menschliche zur natürlichen Sympathie? Was sagt man, wenn man sagt, die eine sei Teil der anderen? Wo spielt die Sympathie eigentlich? Gibt es sie schon immer? Sieht sie heute anders aus als früher? Wenn sie sich verändert: weshalb und wie? Welcher Art sind Wirkung und Wirklichkeit der natürlichen wie der sozialen Sympathie? Was sind die Medien des ‚Dazwischen‘? Lässt sich sagen, woraus Sympathie besteht?

Zeichen des Unverfügbaren

Rom, 27. März 2020, 18 Uhr: Papst Franziskus allein auf dem menschenleeren Petersplatz. Langsam, recht mühsam steigt er im strömenden Regen die flachen Stufen des Atriums zum Petersdom hinauf. Nach einer Ansprache über Mk 4, 35–41 („Der Sturm auf dem See“) vom Sagrato aus und nach einem kurzen Gottesdienst, bei dem auch der Hymnus „Adoro te devote“ des Thomas von Aquin gesungen wird, nach Gebeten im Portikus, unter den Kolonnaden und vor dem Pestkreuz, spendet er allein, schweigend aus der Vorhalle des Doms2 mit dem Allerheiligsten in der Monstranz der Stadt und dem Erdkreis den Segen. Zu sehen und zu hören ist diese Stunde voller Stille am Bildschirm; sie wird übertragen durch die elektronischen Medien; ihre digitale Aufzeichnung bleibt im Internet abrufbar.

Mitten in der Corona-Pandemie, in Italien wohl auf ihrem ersten Höhepunkt, an diesem Freitag in der Fastenzeit, ist das ein starkes Zeichen an die Welt, nicht nur an die römisch-katholische. Es kommuniziert durch eine Allegorie der Sympathie. Es teilt etwas mit, indem es sich zu einem komplexen Zeichen formiert, das von Sympathie – natürlicher und menschlicher, menschlicher als natürlicher – handelt und das Sympathie praktiziert. Das lässt sich an ihm ablesen, mit allen Paradoxien, die dazuzugehören scheinen: Die Distanz, die Bedingung der Sympathie ist, wird ebenso sinnfällig wie mitfühlendes und mitleidendes Berührtsein. In einer doppelten Ferne und durch sie – im Abstand zum Bereich des Göttlichen, im Vorraum des Heiligtums, und in der Distanz von anderen Menschen, im Alleinsein – vermitteln sich (liturgisch, symbolisch, sakramental, medial) Nähe und Gemeinschaft trotz anscheinender Isolation. Dass wir alle „eins sein“ sollen, wie in Joh 17,21 gefordert, ja dass wir nun erfahren können, dass wir bereits eins sind wie ein Organismus,3 in Krankheit und Gesundheit, wird in den Worten des Papstes ausgesprochen, und es teilt sich in der Art und Weise, wie es zu denken gegeben wird (in der Auslegung des Evangeliums, in der eucharistischen Andacht, in den Worten des Fronleichnamshymnus, im Mariengebet, das die Menschwerdung Christi meditiert), in diesem Zeichen zugleich verstehbar und spürbar mit. Dass dieser organismische Zusammenhang und die in ihm verborgene Einheit weit über die römisch-katholische Kirche hinausgreifen und eben urbi et orbi, nicht nur für die Stadt, sondern für den gesamten Erdkreis mit allen Lebewesen gelten, wird verdeutlicht in den Worten der Predigt, die eindringlich auf den Zusammenhang der durch die Seuche gestifteten Not mit der durch menschliches Handeln verursachten Zerstörung auf unserem „schwer kranken Planeten“ hinweisen.4 Denn auch diesen Zusammenhang, unser Eingebundensein in eine Natur, in der das Menschliche nur ein Teil ist, der sich gerade anschickt, alles zu verderben, haben wir vergessen: „Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden.“5

In einem solchen „Gebetsmoment“ zeigt sich auch, dass Sympathie mehr ist als Resonanz.6 Sie ist auch Praxis, Einsicht, Mitteilung, die ‚Kontakt‘ zu ganz Anderem zu eröffnen vermag, darin nicht bekräftigender Widerhall, sondern Antwort auf ein zuvor ergangenes Wort. Sympathie zeigt sich nicht nur maskiert, wie im uneindeutigen Zeichen des Atemschutzes, sie demaskiert auch und sie enthüllt. Sie macht offenbar, was der Fall ist; sie drängt zu vernünftigem Urteil, zu Entscheidung und Handeln. Sie verweist uns auf Unverfügbares, und sie befähigt zu Antworten in Situationen, in denen wir an Grenzen unserer Macht stoßen. Sympathie ist Responsivität,7 die uns Korrespondenz zeigt, über die wir nicht verfügen. Und das nicht nur angesichts eines viralen Geschehens, dessen Verborgenheit, Unberechenbarkeit und Unkontrollierbarkeit unheimlich anmuten und bei dem frühere Jahrhunderte nicht gezögert hätten, es dämonischen Wirkkräften zuzuschreiben. Generell liegen die Wirkungen, mit denen wir es zu tun haben, wenn wir von Sympathie handeln, nicht restlos in unserer Verfügung. Aber nicht alles, was global, viral und unverfügbar erscheint, beruht in Wahrheit auf Sympathie oder führt zu jener nichttotalitären („gesegneten“) Einheit, die Franziskus anspricht. Die gleichzeitig leere, lärmende und invasive Konnektivität des Internets ist etwa ein solches Simulakrum des Natürlichen. Auch hier lassen sich die Geister scheiden, und auch daran erinnert uns die Corona-Krise; zugleich daran, dass wir als Menschen nicht nur der natürlichen Welt unausweichlich sympathetisch verbunden sind, sondern auch (wie vermittelt, asymmetrisch, unwissend, unwillig auch immer) in Beziehung zu einem verborgenen, uns dennoch entgegenkommenden Göttlichen stehen – seelisch und leibhaftig. Wieder hätten sich frühere Epochen damit wohl leichter getan; der späten Moderne im säkularen Westen sind sowohl Sprache als auch die Selbstverständlichkeit des Gesprächs mit diesem Gegenüber („Gebet“) abhanden gekommen.

So fragt sich, wer von denen, an die es sich richtet, das Zeichen des Papstes noch zu lesen versteht. Aber um Zeichen, zeichenhafte Kommunikation, Signaturen des Unsichtbaren geht es allemal. Auch Sympathie, literarische zumal, hat ihre Semiotik, und sie ist Semiotik. Sie besitzt eine natürliche und zeichenhafte Dynamik, in der sich etwas zeigt und zugleich ist, was es meint. Sie antwortet, auch wenn ihre Antworten bis ins äußerste kontingent sind. Fragwürdig wird sie immer erst im Menschlichen. Sympathie vollzieht sich vermittelt; sie ist versammelt in Wirkungspotentialen, aufbewahrt in Strukturen, die Wirkungen entfalten und etwas zu bewirken vermögen. Sie hat ihre Symptome, und sie braucht Symbole, vielleicht auch Sakramente. In einem noch – oder wieder – zu entdeckenden Sinn ist sie allegorisch.

1

Genauer: Im Kontext des Sonderforschungsbereichs Transformationen der Antike an der Humboldt-Universität zu Berlin (2005–2016), dessen letzte Förderperiode des Teilprojekts A3 unter dem Titel „Sympathie. Zur Transformations- und Funktionsgeschichte des Mit-Fühlens zwischen 1600 und 1800“ stand. Der DFG, die dieses Projekt in allen seinen Phasen ermöglicht hat, aber vor allem der VolkswagenStiftung, die mir im Rahmen ihrer Initiative Opus Magnum im Wintersemester 2017/2018 und im Sommersemester 2018 ein Jahr Schreibzeit geschenkt hat, sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.

2

„Von diesen Kolonnaden aus, die Rom und die Welt umarmen […]“ (Vatican News, „Wortlaut: Papstpredigt beim Gebet in der Pandemie“, 5).

3

„[…] jene (gesegnete) gemeinsame Zugehörigkeit […], der wir uns nicht entziehen können“ (3).

4

Ibid.

5

Ibid.

6

Hartmut Rosas Konzept der Resonanz weist Affinitäten und eine Reihe von Überlappungen mit dem Begriff der Sympathie auf, wie er in diesem Buch verwendet und beschrieben wird; cf. Rosa, Resonanz 2016. „Resonanz“ ist ein sozialwissenschaftlicher Begriff von großer Tragweite, der im Ganzen aber im Bereich des (Zwischen-)Menschlichen bleibt. Resonanz umfasst einiges an sympathetischer „Weltbeziehung“, aber weder die natürliche Sympathie, noch vermag sie den sympathetischen Transzendenzbezug darzustellen (auch wenn sie ihn andeutet, cf. Rosa, Unverfügbarkeit 2019).

7

Mehr zur sympathetischen Responsivität im folgenden; zum Konzept: Bernhard Waldenfels, Antwortregister 1994.

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