Ohne eine gewisse Beständigkeit des Milieus wäre das Leben unmöglich. Ohne gewisse Ähnlichkeiten die Erkenntnis ebenfalls. Sie verlangt, dass die Dinge nicht unendlich variiert und auch nicht unendlich statisch sind.1
Paul Valéry
Im Folgenden soll ein kurzer Durchgang durch epistemologische Denkbilder ,des‘ Künstlers bzw. für das Künstlerische dazu beitragen, das Anthologische Schreiben der hier behandelten Autoren auf deren Nachleben in der deutschen Ästhetiktheorie bei Adorno und Blumenberg hin zu betrachten. Die hier versammelten Positionsnahmen, Überlegungen und Figurationen stehen in der Nachfolge Nietzsches und leiten insbesondere von Hofmannsthals ästhetischem Konzept der Literarischen Person als bestimmter geistiger Form, Individualität und Generation in der Traditionsschrift ineinander zu verschränken (vgl. Kap. 3.7), zu einem Schreiben mit und in ,Begriffspersonen‘2 über, wie es das Paradigma des Anthologischen Schreibens bei Benjamin ausbildet (vgl. bes. Kap. 5.6). Die epistemologische Funktion des Personendenkmals als repräsentierter Siegergeschichte wird in diesem Durchgang auf eine andere, offene ästhetische Form befragt, die in der Fortentwicklung ästhetischer Debatten zunehmend als produktive Unter-/Unbestimmtheit der Tradition gefasst werden konnte – und in diesem Gedanken bis in die jüngsten Debatten um die Restitution kulturellen Raubguts durch den Kolonialimperialismus verlängert werden kann.3
Am Denkmal ist das Moment konstitutiver Traditionssetzung sichtbar, weshalb es für Autoren, die im Anthologischen Schreiben den Diskurs um (literarisches) ,Erbe‘ bestimmen wollten, zu einem interessanten Objekt werden konnte. Erinnerungs- und Wahrnehmungskonstellationen als traditionskonstituierende Erfahrungsmomente werden dabei gegen eine Vorstellung von gleichsam selbstidentisch überlieferbarer Tradition als Repräsentation, wie sie paradigmatisch das Personendenkmal vorstellt, in Stellung gebracht.
Die dabei durchschrittenen Sinnbilder und Metaphoriken bewegen sich in der Spur von Paul Valérys materialästhetischer Reflexion: wie „dem äußeren Bild eines Texts ein Sinn und eine Wirkung gegeben werden kann, die denen [den inneren Bildern, F.S.] des Texts gleichkommen.“4 Der genuine Materialästhetiker Valéry hat dem Paradox der Literatur schlechthin, dass sich Literatur nur in Bildern zeigt, welche nur in der Sprache Sinn machen,5 in seinen ästhetischen Dialogen L’âme et la Danse und Eupalinos Ausdruck gegeben. „Der Geist der im Dialog miteinander Sprechenden und Denkenden materialisiert sich in den Körpern ihrer Wörter als immaterieller Wortsinn.“6 Für diese création par principes séparés bilden die ,actes de construire‘ des seine Schöpfungen musikalisch komponierenden Meisterarchitekten die Form. Demgegenüber steht die „Hydra der Schulästhetik“, wie sie Benjamin aufruft, „mit ihren sieben Köpfen: Schöpfertum, Einfühlung, Zeitentbundenheit, Nachschöpfung, Miterleben, Illusion und Kunstgenuss“.7 Die in den folgenden Unterkapiteln eingeführten ästhetischen Figurationen reagieren in unterschiedlicher Art und Weise kritisch auf diese Repräsentationslogik und sind deshalb produktiv zu machen für ein Anthologisches Schreiben, das sich in Distanz dazu setzt.
Bei Hofmannsthal wie bei Musil, bei Borchardt wie bei Valéry und Benjamin findet sich eine gleichermaßen affektiv unterlegte Ablehnung der steinernen Personendenkmäler, die im 19. Jahrhundert augenfällig den öffentlichen Raum der Städte einzunehmen beginnen. Hofmannsthal verknüpft seine „unerträglichen“ Gefühle diesen Denkmälern gegenüber mit einer Sprachmetapher: Sie seien „steingewordene Phrasen einer halbvergangenen Ära“, die an jeder Ecke herumstünden und dadurch dazu beitrügen, diejenigen in Vergessenheit zu bringen, denen sie gesetzt sind.8 Das physisch vorhandene Personendenkmal wird von Hofmannsthal den Vergegenständlichungstendenzen in der Sprache angenähert. Die Form des Erinnerns sei in der steingewordenen Phrase ebenso verkannt wie in der sprachlichen Phrase. Nicht die Ablehnung eines erinnerungswürdigen Monuments steht für Hofmannsthal dabei im Mittelpunkt, vielmehr die Modelle, in denen dieses repräsentiert wird.
Auf derselben Ebene, aber von einem ,interaktiv‘ vorgestellten räumlichen Bewusstsein her argumentierend, macht sich Musil über die Denkmalkultur lustig.9
[A]ber der Beruf der meisten gewöhnlichen Denkmale ist es wohl, ein Gedenken erst zu erzeugen, oder die Aufmerksamkeit zu fesseln und den Gefühlen eine fromme Richtung zu geben, weil man annimmt, dass es dessen einigermaßen bedarf; und diesen ihren Hauptberuf verfehlen Denkmäler fast immer. Sie verscheuchen geradezu das, was sie anziehen sollten. Man kann nicht sagen, wir bemerkten sie nicht; man müsste sagen, sie entmerken uns, sie entziehen sich unseren Sinnen: es ist eine durchaus positive, zur Tätlichkeit neigende Eigenschaft von ihnen!10
Musils Neologismus weist im zweideutigen Bezug des Pronomens als Personal- oder objektbezügliches Reflexivpronomen auf, dass die Denkmäler paradoxerweise nicht nur das Vergessen provozieren (wie auch in Hofmannsthals ,Phrase‘), sondern auch die Wahrnehmung (als Form des Erinnerns) in den sie umgebenden urbanen Raum ausstreuen: indem sie uns uns selbst vergessen – und in den sinnlichen Geboten und Angeboten der Stadt wiederfinden – lassen. Hier deutet sich das Paradigma des Flaneurs an, das sich in vielen Essays der Epoche beobachten lässt.
Rudolf Borchardt nähert sich Denkmälern in der Haltung des präapokalyptischen Reporters. „Unsere heiligen Städte werden vielleicht schon nicht mehr unsere Söhne, gewiss nicht mehr unsere Enkel sehen. Kann sein, ich gehe durch Worms als sein letzter Beschreiber, wie Strabo durch Korinth. Ein Grund mehr Rechenschaft zu geben“.11 Ebenso wie in seiner Schilderung des toskanischen Volterra dreißig Jahre später weist Borchardt der Sprache einen Grund für das Spiel der Ähnlichkeiten zu, die sich über Jahrhunderte erstrecken und in die Zukunft verlängern können. Dieser Beliebigkeit setzt er die Kraft des Beobachters entgegen, der in der Imagination eines quasi soldatischen Flaneurs die Zerstörung des Alten durch die Katastrophe des Neuen noch einmal, gewissermaßen in einer letzten überscharfen Belichtung, festzuhalten vermag.
Kulturelle oder natürliche Denkmäler, seien es Statuen, Landschaften oder Städte, erhalten in diesen unüberhörbar kulturkritischen Diagnosen einen (Verfalls-)Wert und wirken entsprechend auf die Beobachterinnen und Beobachter zurück, die sich gerade in dieser Diagnose eines größeren Zusammenhangs versichern – bei Hofmannsthal des unecht Gewordenen, bei Musil des paradox die Wahrnehmung Steuernden bzw. Zerstreuenden, bei Borchardt des unrettbar Verfallenen. Benjamin schließlich bringt das Denkmal halbbewusst in seinem imperialen Zusammenhang zur Kenntnis. Der pharaonische Obelisk auf der Pariser Place de la Concorde „im Mittelpunkt des größten aller Plätze“ lasse nicht „einen von Zehntausenden, die hier vorübergehen, aufmerken; nicht einer von Zehntausenden, die innehalten, kann die Inschrift lesen. […] So löst ein jeder Ruhm Versprochenes ein“: Unsterblichkeit wird mit Nutz- und Wirkungslosigkeit, ja Unlesbarkeit – oder politisch gewendet: Unerlöstheit und gespenstischem Fortwirken – gleichgesetzt.12
„Wer das Gesellschaftliche anders als symbolisch nimmt, geht fehl.“13 Der kurze Durchgang durch ästhetische Positionsnahmen gegenüber dem Denkmal zeigt insbesondere eines: seine Eignung zum kulturkritischen Symbol urbaner Wahrnehmungsform. Subjekt- und sprachtheoretisch bildet Nietzsche für diese Positionen wirkungsmächtige Funktionsbilder aus, die im nächsten Abschnitt betrachtet werden.
4.1 Energie der Auflösung und neue Wahrnehmung (Nietzsche, Benjamin)
We live, as it were, upon the front edge of an advancing wave-crest, and our sense of a determinate direction in falling forward is all we cover of the future of our path.
William James
In diesen Projektionen des Denkmals verankert sich allmählich ein materialästhetisches Denken; die Repräsentationswerte des Denkmals werden abgelehnt, um in den actes de construire für eine – als potenziell grenzenlos vorgestellte – Schaffenskraft in Erfahrungsmomenten zu plädieren. Anthologisches Schreiben, das Nähe bzw. Distanz der/zur Überlieferung zu einem produktiven poetologischen Ansatzpunkt macht, nutzt nicht nur die metaphorische Energie, sondern besonders die damit verbundenen Wahrnehmungs- und Erfahrungsmotive. In Aphorismus 310 Wille und Welle in Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft heben sich solche Tendenzen der Umsetzung blinder transformativer Lebenskräfte in transfigurierende Schaffensprozesse deutlich heraus. Daran können formästhetische Tendenzen festgemacht werden, die in der Nachfolge Nietzsches wirkungsmächtig geworden sind. Rekursionen zwischen Schaffenden und Publikum allegorisieren im geschichtslosen, gleichzeitig mit subjektartigen Zügen ausgestatteten Naturbild der Welle.
Wie gierig kommt diese Welle heran, als ob es Etwas zu erreichen gälte! Wie kriecht sie mit furchterregender Hast in die innersten Winkel des felsigen Geklüftes hinein! Es scheint, sie will Jemandem zuvorkommen; es scheint, dass dort Etwas versteckt ist, das Werth, hohen Werth hat. […] So leben die Wellen, – so leben wir, die Wollenden! – mehr sage ich nicht. […] Wie werde ich euch verrathen! Denn – hört es wohl! – ich kenne euch und euer Geheimniss, ich kenne euer Geschlecht! Ihr und ich, wir sind ja aus einem Geschlecht! – Ihr und ich, wir haben ja Ein Geheimniss!14
Das bekräftigte ,eine Geheimniss‘ von Wille bzw. den Wollenden und der Welle zeigt sich zunächst über die enge Verwandtschaft des Wortmaterials in minimaler phonologischer Differenz. Diese evoziert durch ihre titelgebende Stellung Äquivalenz auch hinsichtlich der Semantik. Die Wollenden und die Wellen haben nicht nur ein geteiltes Geheimnis, das verborgen bleiben soll, sondern sind auch aus demselben Geschlecht. Als Wesen existieren beide in der Sprache, in der sie aneinander anlehnen. Wie die Wollenden die Wellen ihres Willens als Tendenz zur sprachlichen Gestaltung der Welt erkennen, aufspüren und verwirklichen, so brechen die Meereswellen mit unterschiedlichen Tempi, mit Schaum und Gischt als tendenziell amorphe Sprachmacht über die Wollenden, kriechen in die innersten Winkel und ziehen sich wieder daraus zurück. Das ,eigentliche‘ Geheimnis mit hohem Wert ist das Verwandt-Sein in der Sprache, die im Bild nicht nur aktive individuelle Kräfte und blinde Naturkräfte umfasst, sondern beide in einen Dialog zu verstricken sucht. Das sprechende Ich, das den Wellen anthropomorphisierende Züge zuschreibt und gleichzeitig versucht, deren natürliches ewiges Bewegungsgesetz zu benennen, scheitert daran, den Willen der Wellen, ihr Geheimnis, aufzudecken. Der Versuch, einen Dialog und damit eine vielleicht glückende ,Kommunikation‘ zu etablieren, scheitert an der ausgestellten Rhetorizität der Sprachstruktur (an der Emphase, den Imperativen, den rhetorischen Fragen, der gehäuften Verwendung von Gedankenstrichen als graphematischen Signalen der Auslassung). Das Geheimnis ,als solches‘, das Text-Ich und Welle teilen, ist dabei durchaus zu benennen: Es ist die Konzeption der Sprache als Struktur in der Sausurre’schen langue, die unaufhörlich „Jemandem zuvorkommen [will]“, „unendliches weißes Gezottel und Gischt darüber weg[-wirft].“15 Gestaltende Transfiguration entspricht der künstlerischen Virtuosität in der Umlegung des Prinzips der langue als parole – wobei der eigentliche Akt, der nur die Leere des Geheimnisses bezeugen kann, den rhetorischen Überschuss, das Transfigurierende, die Sprachwelle selbst (als Schwelle zur Sprache), wieder fortpflanzt.16
So gestaltet sich in dieser kleinen allegorischen Formästhetik Nietzsches der Umschlag zwischen den (strukturalen) Transformations- und den (formprozessierenden) Transfigurationskräften der Sprache, als langue und parole, als notwendige Wende und als permanentes Aufheben des Abbruchs. „Wie gierig kommt diese Welle heran, als ob es Etwas zu erreichen gälte!“ So ,leben‘ sie, Wille und Welle, in und durch die selbstreferenzielle Struktur der Sprache, deren „Geheimniss“ in einer allegorischen Wertsetzung, einer Ökonomie von „Ebbe und Fluth“,17 liegt. Die naturgeschichtliche Affekttopik produziert ,absolute Metaphern‘ im Sinn Blumenbergs,18 deren hyberbolische rhetorische Ökonomie eine künstlerische Persona geradezu herausfordern, die diese noch zu beherrschen weiß. Diese ,gierige‘ Nähe von Kunstwollen und Sprachmacht gipfelt in der Konzeption des souveränen Künstlers als des zarathustrischen Übermenschen, als eines „durch den Himmel durchgewachsne[n] historische[n] Mensch[en]“19 – und öffnet den Weg für eine Foucault’sche Genealogie des Verschwindens eben genau dieser Subjektfunktion in den anonymen historischen Aprioris der Diskurse von Evolution, Macht, Leben.
Walter Benjamin hat, gerade in einem sprachanalytischen Blick auf Nietzsche, Ansätze eines handlungstypologischen Modells entwickelt, um das Überlieferungsgeschehen im emphatischen Sinn bewertbar zu halten; er bezieht sich dabei ähnlich wie Nietzsche auf die produktive Kraft von Strukturen sprachlicher Gleichnisse. So sieht Benjamin den freigesetzten, durch kulturell tradierte Formen ungeschützten Dilettantismus in ästhetischen Belangen dem Tanz zugeordnet. Es ist der Dilettant, den die Fantasie aus der eigentlichen und echten Rezeptivität an der Seite der schlechthin geistigen Erscheinungsweise des Kunstwerks zu sinnlichen Spontaneitäten verführt – der, vom bloßen Wort entzündet, den Willen brandig fortschwelen lässt.20 Die Entgrenzung des historischen Menschen von einer gesetzmäßig eingefassten metaphysischen Vorstellungswelt – Lukács’ „transzendentale Obdachlosigkeit“21 – versinnlicht sich für Benjamin im Tanz als freigestellter Erfahrung – „how can we know the dancer from the dance?“ (William Butler Yeats). In diesem erfährt „der Dilettant […] lernend seine Spontaneität.“22 Benjamin erweitert den Gedanken begriffsfigürlich um die klinische Diagnose des Schizophrenen, bei dem Sprache und Physis sich am nächsten kommen, die Sprache physisch wird in der Durchbrechung des Banns, der Sinn der Wörter sich nicht an der Außenseite der Textstruktur eines sinnförmigen Geistes, sondern im symbolisch-bildlichen der Fantasie inkorporiert und gleichzeitig entgrenzt. – „Kein heiler Wille ohne die genaue bildliche Vorstellung. Keine Vorstellung ohne Innervation.“23
Die Welle als infinitesimal grenzauflösende Struktur fraktaler Selbstähnlichkeit bietet Benjamin ein überzeugendes Funktionsbild für die von ihm als natürlich konzipierte, grenzauflösende Fantasie emphatischer Erfahrung – „Gabe, im unendlich Kleinen zu interpolieren.“24 Um die Schizophrenie als Urgeschichte entstaltender Affektarbeit in der kapitalistischen Lebenswelt dialektisch und kollektivisch zu begreifen, bemüht Benjamin auch an anderer Stelle das Bild des Meeres, der Tiefsee:
Die Urzeit – im Bilde zu reden: die Tiefsee – der Sprache, das ist das Medium, in das sie beide, der Dichter und der Kranke, herabtauchen. Der Lyriker tut es in der Taucherglocke der Kunstform, verantwortlich und auf Zeit, der Kranke nackt und bloß, so dass er bei den Schätzen da unten, die er zu heben nicht imstande ist, verbleibt.25
Der Lyriker, der (philologische) Schüler, der in der Tradition der Schriftkultur navigiert, „lernt produzierend“, weil er durch die Erfahrung des Lehrers semiologisch geschult ist.
Als Epochenfigur scheint Nietzsche für Benjamin der repräsentative Grenzfall für die Gefahren und Verlockungen einer bürgerlichen Bildungskultur im Zerfall.26 Deren Repräsentanten haben sich, wie Benjamin in seiner Anthologie Deutsche Menschen in den 1930er Jahren schreiben wird – wobei der Bezug auf die NS-Machtergreifung anklingen mag –, „freiwillig aus dem Deutschland der Gründerzeit verbannt“ (vgl. zu Deutsche Menschen, Kap. 2.2).27 Entlang der „unsinnlichen Ähnlichkeit“28 von Tanz und Sprache wird das Bewusstsein einer Krise der klassischen Ästhetik, die sich im 19. Jahrhundert im Denkmalkultus selbst die Luft abgeschnitten hatte, auf die Spitze getrieben. In einer Genealogie der damit aufgerufenen taktilen Dimension der Träumenden und der ,Geisteskranken‘ wird letzteren zugeschrieben, in ihrem Sprechen und Schreiben eine Reise durch das Innere des Körpers zu unternehmen – auf der Reise ihre ,eigene‘ Geografie zu erkunden. Der damit ,unverborgene‘ Wahnsinn in Schrift und Sprache – im Verkennen der getrennten historisch-strukturellen von der performativ-,künstlerisch‘ formprozessierenden Dimension der Sprache – ist dabei „umso erschreckender“,29 als daran die tiefgreifenden Transformationen greifbar werden, die Benjamin später in einem umfassenden Sinn als Zerstörung der Intelligenz in seiner mit Marx amalgamierten These eines Geschichtsbruchs bzw. einer Urgeschichte im 19. Jahrhundert entwickeln wird.
In diesem an Nietzsche gewonnenen Bruchstück einer entgrenzten übersprunghaften Subjektivität schärft sich das gedächtnistheoretische Gegenkonzept des Eingedenkens, eines zentralen Begriffs von Benjamins Gedächtniskonzeption.30 Dieses tritt als erneutes Distanzgebot auf den Plan.
Was wir Kunst nannten, beginnt erst zwei Meter vom Körper entfernt. […] Der Traum eröffnet nicht mehr in eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes Teil.31
Endlose Rekursion des Künstler-Ichs und endlose Rekursion des Menschheitssubjekts: wohl nicht zuletzt deshalb enden sowohl Benjamins Buch Einbahnstraße (1928) als auch die Anthologie Deutsche Menschen (1936) mit auf Nietzsche gesetzten Signalen, ohne diesen „geheimen Stichwortgeber“32 klar und deutlich aufzugreifen. Was in der lebensweltlichen Wiederkehr der ,großen Krankheit‘ am Künstler selbst wiederauftritt und die diagnostizierten Krankheiten der Kultur subjektiv überschlägt, an dem kann die sich erstmals ,als Menschheit begreifende Spezies‘ bei Benjamin in Fahrten ins Innere der Zeit ,gesunden‘, wie es im ausleitenden Prosastück der Einbahnstraße heißt:33 Die Metaphorik verdichtet frühsozialistische, marxistische und Anleihen der Kosmiker um Klages. Die Passage scheint geradezu spiegelbildlich auf die Person Nietzsches zuzuführen, ohne dass dieser in den Vexierbildern sichtbar wird.
Die Energie dieser metaphorischen Verdichtungen und Umbesetzungen allegorischer Ökonomie des Erinnerns führt von der Kritik am Denkmal auf die damit verbundenen Wahrnehmungsformen zunächst des künstlerischen Subjekts, und, in einem zweiten Schritt, auf dessen Produktionsweisen. Diese Schritte werden im Folgenden an einem Modell Valérys, nämlich an dessen Idee von Sokrates, und der Kritik und Weiterführung bei Benjamin und Blumenberg exemplarisch nachgezeichnet.
4.2 Sokratische „Erektion des Wissens“ und Fortschrittskritik (Valéry, Benjamin)
Das rhetorisch gewordene Ich in Form unbedenklichster vielfacher „Wendungen“,34 wie es in Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft gefeiert wird, ist als epochales Krankheitssymptom diagnostiziert – nicht mehr (ausschließlich) im statisch-repräsentativen Außen der historistischen Denkmäler (die auch Nietzsche scharf aufs Korn genommen hatte), sondern in der feinnervigen Produktivkraft des postmetaphysisch grenzenlos gewordenen ,historischen‘ Subjekts selbst.
In L’âme et la Danse und Eupalinos, den 1921 verfassten Künstler-Dialogen Paul Valérys, findet Benjamin ein anderes, ihn entzückendes Modell für die Diagnose und gleichzeitig reflexive Befragung der ästhetischen und anthropologischen Krise. Valéry siedelt die ironischen Totengespräche seiner Dialoge im gleichen Bildfeld wie Nietzsche und Benjamin an: jenem von Tanz und Meer. Der Tanz wird bei Valéry zur intensivsten ästhetischen Selbstverwirklichung des schöpferischen Menschen. In L’âme et la Danse wird das Produktivwerden menschlicher Reflexivität bis an den Rand der physischen Erschöpfung des Sinns vorgeführt: Die intensive Anschauung der drei Gesprächspartner Sokrates, Erystimachos und Phaidros konfiguriert die gewissermaßen ultimativen – äußersten und letzten – Wendungen der Tänzerin als Gedanken vorführendes Wortkunstwerk, in denen sie am Ende des Dialogs im Bann der Fantasie zwischen Leben und Tod ihr erstes und zugleich letztes Wort aushaucht und danach zusammenbricht. Die Tanzkunst wird „zum Paradigma jeglicher Kunst, die die Möglichkeiten der ästhetischen Selbstverwirklichung des menschlichen Körpers auszuschöpfen versucht“35 und zugleich diesen an oder über die Grenze der physischen und psychischen Erschöpfung treibt.
Der zweite Dialog, Eupalinos, verhandelt im Gespräch zwischen Sokrates und Phaidros, durch dessen Rede die Gedanken des Architekten Eupalinos wiedergegeben sind, ein übergreifendes Problem der klassisch-romantischen Ästhetik und der verschiedenen Kunstgattungen zwischen Produktion und Rezeption – wobei Malerei und Dichtung als bildsame von der Architektur und der Musik (mit deren unsinnlicher Verkörperung der Idee) unterschieden und in weitreichenden Reflexionen besprochen werden. Die Ode des – bloß immateriell, in seinen Gedanken und in der Vermittlung von Phaidros vorhandenen – Eupalinos führt in dessen absolute Vergeistigung: „Du bist von uns der einzige Gegenstand, der sich mit dem Weltall (Sphärenmusik) vergleichen lässt.“36 Wie bei Nietzsche scheint es die Willenskraft, die „noch das Unteilbare teil[t] und dass ich mäßige und unterbreche die Geburt meiner Ideen.“37 In der Mitte des Dialogs erwähnt Sokrates, dass ihm in der Jugend am Strand durch Zufall das „zweideutigste Ding der Welt“38 in die Hände geraten sei. Sein Erzählen dieses Jugenderlebnisses wird nun seinerseits von Phaidros an die Oberfläche geholt, der Sokrates’ Abschweifen auf Welle und Meer, Schaum und Gischt immer wieder auf die Frage nach dem Ding lenkt – und damit die vom kanonischen Sokrates verwendete Strategie des Fragens gleichsam übernimmt und gegen diesen wendet. Dieses Ding, weder natürlicher Herkunft noch ganz künstlich, zwingt ihn zur Entscheidung, ob er die Erkenntnissuche fortan künstlerisch-bildnerisch umsetzt oder weiterhin reflexiv-philosophisch. Schließlich wirft er das Ding zurück ins Meer und geht landeinwärts davon, das Meer mit dem Schlund der Geschichte gleichsetzend: „Die Jahrhunderte kosten nichts; wer über sie verfügt, verwandelt, was er will, in was immer.“39 Dem Meer als physiognomisch undeutbarem Tableau wohnen in dieser anthropologischen Allegorie Staunen und Vergessen gleichermaßen inne:
L’Histoire est le produit le plus dangereux que la chimie de l’intellect ait élaborée. Ses propriétés sont bien connues. Il fait rêver, il enivre les peuples, leur engendre de faux souvenirs, exagère leurs réflexes, entretient leurs plaies, les tourmente dans leur repos, les conduit au délire des grandeurs ou à celui de la persécution, et rend les nations amères, superbes, insupportables et vaines.40
Paul Valérys Kunstideal ist, in der Nachfolge seines Lehrers Mallarmé, das absolute Werk – es beinhaltet so viele Ideen, wie es Zeichen hat.41 Dagegen kostet der Blick in den Schlund der Geschichte nichts und verursacht nur ubiquitäre Verwirrung über die endlose Zahl an unübersichtlichen, nicht sinnfällig zu machenden bruchstückhaften Fakten – eine kulturkonservative Volte gegen die theoretische Grundlage des Historismus in der Kontingenz. Die Dialoge werden, auf den ersten Blick ganz dem antiken Vorbild entsprechend, durch Sokrates’ beredtes Staunen vorangetrieben, dem immer neue Reflexionsschlaufen folgen. Valérys Modell beruht auf einer Prüfung, die die entscheidenden Fragen aussetzt. Die Entscheidung für die künstlerische oder die philosophische Existenz – für Plato die klassische Frage in Bezug auf die Lenkung des Staats und die eigentliche Eingliederung ins Gemeinwesen – wird dadurch offengehalten. Wenn Sokrates den Blick vom Meer abwendet, nimmt er die durch den undefinierbaren Gegenstand aufgeworfenen Fragen mit.
Gernot Böhme hat die anthropologische Innovation des ,Typs Sokrates‘ noch einmal geschärft.42 Sokrates ist derjenige, der in der Form der Frage das Wissen und das Nichtwissen erhellt. Die Praxis der Prüfung in den platonischen Dialogen unterstellt, dass derjenige, der etwas weiß, auch sagen können muss, was er weiß. Diese Unterstellung hat einen frappierenden Effekt: Sokrates hat zwar inhaltlich nichts zur Wissenschaft beigetragen, ist durch diese Forderung aber zu einem der Begründer der Wissenschaft geworden. Das sokratische Fragen als eine Methode der Erzeugung dieser ,Weisheit‘ erhellt einen Was-Gehalt, also auch, via negativa, das Nichtwissen, und zeigt auf, dass beide im Ich stecken. ,Ich bin mir als Nichtwissender meiner selbst bewusst’: So formt sich ein sokratisches Persönlichkeitsbild. In Bezug auf die Methode heißt das: Sokrates fasst das Scheitern keineswegs als ein Scheitern der Methode auf, sondern als ein Scheitern der Personen. Durch ihr Scheitern offenbaren die Gesprächspartner, dass sie nicht eigentlich tapfer, besonnen usw. sind. Aber das eigentümliche Beziehen von Wissen auf eine ,Form‘ – hier: was Tapferkeit ist – zeigt auch, dass das erforderte Wissen gar kein Wissen eines Was-Seins ist. Sokrates’ Wissen ist das Wissen eines Nichtwissens. Wie der produzierende Schüler in Benjamins früher Reflexion über den Dilettantismus in der Sprache arbeitet und deshalb nicht in eine unbegrenzte Rezeptivität verfällt, die dem sinnlichen Dilettanten eignet, ist der Reflex des Einspruchs und das Wandern landeinwärts, ohne den Gegenstand mitzuführen, ohne aber doch die Fragen vergessen zu können, die Kehrseite jener physiognomisch operierenden Geistigkeit, bei der die Jahrhunderte, der Blick darauf, nichts kosten, weil sie an Idealbildern orientiert sind – welcher (post-)metaphysischen Natur (,Gott‘, ,historische Persönlichkeit‘, ,Kontingenz‘, ,Unbewusstes‘, …) diese auch immer sein mögen.
„Der ,sokratische‘ Valéry nähert sich in dieser extremen Steigerung einer konstruktiven Ideenwelt, die einzig aus dem Ich schöpft, Nietzsche an.“ Ebenso wie diesem eignet ein Gegenentwurf zum ,Klassizismus‘, wie ihn Benjamin Mitte der 1920er Jahre im Werk Goethes so fasst: „nichts ist kennzeichnender für den Klassizismus als dieses Streben in dem gleichen Satz das Symbol zu erfassen und zu relativieren.“43 Weder wird das ,zweideutigste‘ Ding erfasst, seine Zweideutigkeit wird nicht aufgelöst – noch relativiert: Die Fragen der Entscheidung, die es ans Subjekt heranträgt, bleiben als Wissen um das Nicht-Wissen präsent und begleiten Sokrates (wie schwierig es ihm auch ist, darüber zu sprechen). Valéry wendet also die Sokrates zugeschriebene Erkenntnismethode der fragenden Maieutik, seine Hebammenkunst, ironisch auf diesen selbst zurück: Das Ding wird in seiner Undurchdringlichkeit ernstgenommen, bewirkt es doch die Richtungsänderung und Abwendung vom Schlund des Meeres. Zugleich kommt es einer heroischen Entscheidung gleich, das Ding wegzuwerfen, es nicht zu bearbeiten. Ein tapferer Held und ein gewahrtes Geheimnis entbinden das Erhabene der Szene.
Benjamins Valéryrezeption bringt ein Element ein, das den damit aufgerufenen (und in der Aufklärungsästhetik positiv besetzten) Diskurs des Erhabenen um seine Kehrseite erweitert.
Wie nahe rührt nicht die vorzügliche Ableitung des Klassischen aus dem Gedanken einer „königlichen Techne“, welche das Griechentum „nach dem Modell der spezialisierten kunstmäßigen Leistung“, der Techne überhaupt, sich gebildet habe, an das Tiefste, was Valéry über die Klassik zu sagen hat. […] Heute hat über Klassik kaum einer mehr zu sagen als der Verfasser des „Eupalinos“.44
Klassizität wird hier als Parallelführung des Königlichen – als des qua sozialer Funktion unbeurteilbar Gewordenen – und des Spezialistentums – als funktionaler, von personaler Bestimmung abgekoppelter Kategorie – geführt. Letztere muss sich auf Exaktheit, Nachvollziehbarkeit, Rationalität und Methode verpflichten lassen. Der Typ Sokrates zeigt auf, dass die Exaktheit der Methode als Kehrseite das Scheitern oder Verschwinden der (Form der) Person in sich trägt: Der an Nietzsche vorgeführte Wahn der Durchsteigerung des historischen, ,obdachlos‘ gewordenen Menschen in den leer gewordenen Himmel. Lukács’ Feststellung, wonach viele Autoren Henri Bergsons Idee der durée vor diesem Hintergrund zu einer konstitutiven Kraft ihres Schreibens machen, bot in den 1920er Jahren auch in Deutschland einen interessanten Resonanzboden für ästhetische Positionsnahmen.45
Weil mit und gegen Valéry keine Frage gestellt werden kann, auf die das Kunstwerk die letzte Antwort zu geben vermöchte, führt dieses Subjektmodell direkt in die Selbstbefragung, die Benjamin problemgeschichtlich in der Dialektik von Souveränität und Kreatürlichkeit der Trauerspiel-Figuren herausgearbeitet hat. Hier setzt er politische Kritik an Valérys Annahme einer totalen Übertragbarkeit der Methode ein: Dessen konstruktive Poetik einer „Umwandlung eines Gedankens in einen anderen“ – die poésie pure („Gedichte, in denen das Spiel der Bilder die Wirklichkeit enthält“46 ) als das eigentliche Konstruktionsmaterial der Kunst – sei das letzte Kap des Fortschrittsgedankens. Benjamin bringt es mit den imperialen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts zusammen und gibt ihm damit eine politische Dimension. „Welche Seele würde zögern, das Weltall auf den Kopf zu stellen, um ein wenig mehr sie selbst zu sein“, sagt Sokrates in Valérys Dialog.47 Genau diese Attitüde – von Benjamin bereits in seinem frühen Aufsatz Sokrates von 1916 als „Erektion des Wissens“48 auch, ansatzweise, in eine Kritik der Heteronormativität männlicher Vorstellung der (Neu-)Geburt im Denken bzw. des Denkens überführt – wird er 1931 bei einem Geburtstagsporträt Valérys als die imperialistische Attitüde eines ungebrochenen Fortschrittsdenkens brandmarken. Der Schöpfer des Monsieur Teste, des Herrn Kopf, steht für jene durch den Fortschrittsglauben bewirkte „Trübung des Sehsinns“,49 wie sie in Wilhelm Worringers in den frühen zwanziger Jahren Epoche machenden Abhandlung Abstraktion und Einfühlung (1907) konzipiert wird: Aus dem archaischen Einfühlungsdrang resultiert ein synthetisches, sich auf geistige Denkoperationen, nicht mehr auf materielle Referenten beziehendes ästhetisches Erleben,50 das sich nur noch als objektivierter Selbstgenuss einsetzen kann, und, wie in Nietzsches Rhetorik, heroisch werden muss. Als einen ,Seher‘, dessen chthonischer Blick ins Leere geht, porträtiert Benjamin Paul Valéry während dessen Auftritt im Herzen des intellektuellen Lebens von Frankreich – an der Académie française – und evoziert damit die gefährliche Szene des untätig gewordenen lebenden Denkmals inmitten institutioneller Kulturbetriebsamkeit.51 Dieser fremdbestimmten Rhythmik der Einverleibung setzt Benjamins Glücksbegriff im Theologisch-politischen Fragment den ,gegenrhythmischen‘52 Eingriff einer messianischen Natur entgegen, deren Unscheinbarkeit nur durch und in theatralen Situationen ,vergegenwärtigt‘ werden kann53 – und deshalb umso dringlicher auf den Handlungsraum der Geschichte angewiesen ist, worin das Erkannte genutzt werden kann. Das repräsentative Außen der Denkmäler als in jeder Beziehung fremdbestimmte Rhythmik (in Bezug auf Handlungsräume der Subjektivität in der Geschichte) ist das Gegenmodell zum Anthologischen Schreiben mit historischen Begriffspersonen als ein intertextuelles Denken mit Dritten bzw. in der Position einer dritten Person.
4.3 Keine Deduktion aus dem Biografischen: Historische Begriffsperson (Benjamin, Valéry, Blumenberg)
Die geistestechnischen Funktionsbilder des Tanzes (ein Gegenbild für langue und parole der Sprache) und des Meeres (ein Gegenbild für menschliche Natur auf historischem Grund), beim Stichwortgeber Nietzsche sowie bei Valéry herausgearbeitet, ermöglichen die Ausmessung eines antiklassizistischen Feldes für ein Anthologisches Schreiben, das mit Personen- und Denkmalkult nur eine äußere Ähnlichkeit, jene der Sammlung und Ausstellung, teilt. Die Valéryrezeption ermöglicht Benjamin eine Vertiefung seines Konzepts der Klassik, indem Geschichtlichkeit und Dauerhaftigkeit der Klassik in der Auseinandersetzung mit dem Symbol zugleich von den präsenztheoretischen Kategorien der platonischen Tradition (Schein, Ausdruck/Ausdruckslosigkeit) getrennt und auf die „königliche“ techné produktionsästhetischen Denkens der aristotelischen Tradition umgewidmet werden. „Kunst ist für Valéry eine mentale wie physische Handlung, deren Wesen in der Hervorbringung und im Entstehungsprozess statt im fertigen Produkt zu suchen ist.“54 Die im Wahlverwandtschaften-Essay theologisch fundierte Ablehnung des Symbolhaften in dessen Diabolisierung schließt ein messianisches Kunstverständnis aus: Im Unterschied zum Leben des Geschöpfs kommt dem „Leben des Gebildeten“ niemals „Anteil an der Intention der Erlösung“55 zu. Durch seine Valéryrezeption 1925/1926 – angeregt durch Hofmannsthal?56 – mag dies Benjamin im Vorfeld der Niederschrift der Aphorismen der Einbahnstraße zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Textform der ,Denkbilder‘ angeregt haben. In einer material- oder produktionsästhetischen Perspektive wäre das Ziel dieser Textform darin beschrieben, geistestechnische Funktionsbilder zu kreieren, die den Symbolbegriff umwenden: die Zusammenführung und Relativierung von Gegensätzen, die das Bestreben eines klassizistischen Symbolbegriffs markiert, wird durch die allegorische Nutzung ihrer in der kapitalistischen Lebenswelt bereits unwillkürlich durchtechnisierten Struktur ersetzt:57 Der ,Kapitän‘ auf dem Mastbaum des Schiffs im Wind des erobernden Fortschritts und der ,Seher‘ mit abgewandtem Blick auf dem Katheder der elitären Bildungsinstitution versinnlichen keine melancholische Abwendung von diesen Typen, sondern zeigen auf den ambivalenten durchtechnisierten Geist in seiner äußersten, letzten, gegenwärtigsten Verkörperung – das ist der Einsatz dieser literarischen Form der Gegenwartskritik. Ein durch einen Satzfehler ungedruckt gebliebenes Gleichnis Benjamins verbildlicht diesen Gedanken unsinnlicher Ähnlichkeit geradezu idealtypisch, indem ein Wort von Karl Wolfskehl wortspielerisch umgewendet wird: Fischt das Symbol im metaphysisch „Trüben“, geht es den Chthonikern, den Sehern, um ein „Fischen im Drüben“.58 Die Gefahr bei diesem Fischen im Hier-und-Jetzt ist dabei immer, dass Haken oder Köder vom Strom der Zerstreuung mitgerissen werden – dem ist technische Gewissenhaftigkeit bei der Einrichtung der gedanklichen, sprachbildlichen und politischen Konstellationen entgegenzuhalten, was sich in den intensiven Reflexionen zu Zeitschriften, Büchern und den sozialen Institutionen von Kunst und Ästhetik (Redaktion, Verlag, Bibliothek, Museum, Kino, usw.) niederschlägt, die Hofmannsthal, Benjamin, in geringerem Maße auch Borchardt, auszeichnen. – Welche Folgen haben diese Reflexionen für die Erforschung ästhetischer Gegenstände als geschichtliche? Die maßlose Rezeptivität des Dilettanten stellt für Benjamin im Gefolge Nietzsches und Valérys das Indiz der Wiederkehr eines historischen Bewusstseins als eines symbolisch-metaphysischen Ungefährs im ,modernen‘ Künstler dar.
Von Benjamins Auseinandersetzung mit Valérys Konzeption des Geschichtlichen sind keine umfangreichen schriftlichen Aufzeichnungen überliefert. An dieser Stelle setzt Hans Blumenberg ein, dessen voluminöse philosophische Arbeit in Auseinandersetzung mit ästhetischen Traditionen auffällig spärlich auf Benjamin Bezug nimmt.59 Blumenberg interessiert sich für den antibiografischen Verdacht, den Valéry in der Trennung ideeller Deduktion von der historischen Person begrifflich macht. Diese Zweifel an Geschichte und Geschichtsschreibung bleiben bei Valéry notorisch im Vorwurf, dass sie ein Verführungsinstrument der Massen und der Staaten seien:60 In seinem Essay Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci gebe Leonardo, so Valéry, nur den Namen ab für die deduktiv-methodisch erstellte Gestalt, die er präsentieren wird, also für das „Gedankengeschöpf“ („une créature de pensée“).61 Im Dialog L’âme et la Danse ist vom blinden Wissenden als einer „choréographie de symboles savantes“ die Rede,62 von welchem gelte:
Fast nichts von dem, was ich über sie äußern werde, darf auf den Menschen, der diesen Namen berühmt gemacht hat, bezogen werden. Ich lege es nicht darauf an, Deduktion und Person zusammenfallen zu lassen, was ich im schlechten Sinn für unmöglich halte.63
Valéry schafft sich eine Begriffsperson namens Leonardo da Vinci, um die Unbegrifflichkeit künstlerischen Schaffens – jenseits des vermeintlichen Gebietscharakters in der Umgrenzung künstlerischen Schaffens durch biografisches bzw. kunstgeschichtlichen Wissen – darstellbar zu machen: Das biografische Wissen kommt seiner Auffassung nach einem hypostasierten Nicht-Wissen gleich.
Nebst diesem Modell einer über Valéry entwickelten sokratischen Begriffsperson, die ein spezifisches Wissen bzw. Nichtwissen der Ästhetik entwickelt, stellt die Psychoanalyse eine ähnliche Epistemologie für die Ambivalenz von künstlerischer Anstrengung und notwendiger Desillusionierung bereit. Das Modell der Traumdeutung verschafft den Spielraum, die ästhetische Eigenart künstlerischer Formprozessierung gegen die historistische Zumutung umfassender Kontingenz abzuschirmen. Damit wird es auch ermöglicht, ästhetisch-politische Ziele hinsichtlich der Bewahrung, Umwandlung und Revolutionierung des ,Erbes‘, der Überlieferung weiterhin zu verfolgen – insbesondere auch über die Kriegstraumata hinweg, die zur gleichen Zeit wie Hofmannsthals und Borchardts Anthologieprojekte ab Mitte der 1920er Jahre in literarischen Erzeugnissen, der sogenannten Frontliteratur, erst so richtig Konjunktur erhalten.
Bei Hofmannsthal findet sich unter dem Namen Valérys ein unausgearbeiteter Entwurf seiner Erfundenen Gespräche mit dem Titel „Der Dichter und der Geometer“: „Je disais à mon ami que des savants hommes courent bien plus des risques que les autres, puis qu’il font des paris, et que nous restons hors de jeu; et qu’ils ont de manières de se tromper: la nôtre, qui est aisée – et la leur, laborieuse.“64 Hofmannsthal kannte die Freud’sche Psychoanalyse gut. Bei Freud heißt es: „Die Herstellung von Sammel- und Mischpersonen ist eines der Hauptarbeitsmittel der Traumverdichtung.“65 Als „Hauptarbeitsmittel“ wendet sie Hofmannsthal in seiner Münchner Rede zur konservativen Revolution (1927) an, indem er nicht nur die Träumer, sondern auch die Dichter zu Sammel- und Mischpersonen verdichtet und als „Schatten und Schemen“ kommentiert.66 Ein Schatten, im Gegenwurf des Anblicks, oder ein Schema können etwas veranschaulichen, unter das dann, wenn es begrifflich erfasst wird, mehrere Gegenstände fallen können. Die anthologischen Arbeiten Hofmannsthals sind auf eine solche kunst- und bildungspolitische ,Wiederherstellung’ einer Typik konzentriert, die die kulturkritisch beklagte ästhetische Unbestimmtheit der Gegenwart mittels Einblendung der klassischen Köpfe geschichtlich auffüllen will.
Die schriftstellerische Finte Valérys – aus der Arbeit an einem ästhetischen Nicht-Wissen ästhetischen Freiraum zu schlagen – verschafft andererseits auch Benjamin zentrale Einsichten in die (Des-)Institutionalisierung oder (De-)Historisierung intellektuell und künstlerisch verankerten Wissens. Genau an dieser Funktion setzt Benjamins Interesse für das Anthologische Schreiben als einer Form an, die die Befragung der Wissens- und Bildungsgeschichte generationaler Zusammenhänge ermöglicht und damit Überlieferung nicht als irgendwie typologische Repräsentation betrachtet (in der Umlegung der typologischen figurae67 auf ästhetische Modi), sondern als intertextuelles und intermediales Überlieferungsgeschehen formprozessierender Momente in Produktion und Rezeption. Die intellektuelle bzw. künstlerische Persona wird quasi aus ihrem Milieu, dem Raum, dem Umfeld, in dem sie tätig ist, schreibt, spricht usw. physiognomisch deduziert.68 Dies lässt sich an den Porträtbildern wie den Städtebildern gut erkennen, an denen Benjamin ab Mitte der 1920er Jahre seinen unverkennbaren Stil entwickelt. Im Porträt von Valéry (1931) ist es dessen eigenes geistestechnisches Funktionsbild des Meers, das das Arrangement bietet – der Redner Valéry wird als Kapitän „an das Kap des Denkens“ gesetzt.69 Die kritisierte politische Unbestimmtheit des Sehers Valéry wird als Funktionsbild für die Ambivalenz der Aufklärung und der Geschichte ihrer Institutionen bis an den konkreten Ort der Pariser Ecole normale supérieure geführt, an der Valéry gerade spricht und in der sich alle Probleme der mitgeschleppten uneingestandenen Kehrseiten dieser Aufklärung damit reproduzieren.70 Der verdichtete Zusammenzug des Valéry’schen Funktionsbilds des Meers ermöglicht diese produktions- und rezeptionslogische Verschränkung eines Gedankens (hier: der Aufklärungskritik). Im Modus der Aneignung und Umfunktionierung des jeweils zentralen Funktionsbilds des zu anthologisierenden Autors, der zu anthologisierenden Autorin, bewahrt Anthologisches Schreiben für Benjamin zugleich ästhetische Eigenarten des bzw. der Porträtierten, ohne auf die typologisch-symbolische Repräsentationslogik des anthologischen Mediums im Sinn einer Reihe von Textdenkmälern zurückzufallen. Damit ist der Anspruch verbunden, produktionslogisch wie rezeptionslogisch ein Stück Überlieferung im emphatischen Sinne weiterschreiben zu können.
Unter dem Titel L‘Allemagne fraternelle 1800–1900 wollte Benjamin zusammen mit seinem Übersetzer Pierre Klossowski eine Auswahlsammlung der Milieus und der Entourage großer Persönlichkeiten von Hegel, Goethe, Hölderlin, Büchner und Marx bis Nietzsche, Gustav Freytag und Keller dokumentieren.71 Für seine anthropologisch zu nennende Erfahrungskunde72 gebraucht er camouflierend Begriffe wie ,Lehre‘, ,Rhythmus‘, ,Welle‘ oder ,Tanz‘ – also genau jene Etiketten des aisthetischen ,Leib-‘ und ,Bildraums‘, wie sie durch Ludwig Klages gerade Mitte der 1920er Jahre auf den fragwürdigen Höhepunkt ihrer historischen Popularität zulaufen. Ein sprechendes Beispiel dafür sind gerade Benjamins Bezugnahmen auf Borchardt zwischen 1921/22 und 1928: Zunächst wird dieser als „Beschwörer“73 im Gegensatz zu Goethe dargestellt (im Wahlverwandtschaften-Essay), später dann bloß noch summarisch unter den intellektuellen Verrätern „an den Gütern [gefasst], zu deren Wächter Jahrtausende sie [die Intellektuellen, F.S.] bestellt haben“.74
An dieser Stelle setzt Benjamins Umwertung oder Umfunktionierung anthologischen Schreibens bzw. der in diesem Schreiben niedergelegten Erschließungsmetaphoriken in Bezug auf ,Erbe‘ und Vergangenheit ein: Sprachförmige Eigenheiten des jeweiligen schreibenden (oder adressierten) Menschen werden als kollektive historisch-soziale Funktionen der Haltung (,Freundschaft‘, ,Treue‘, ,Aufrichtigkeit‘ uvm.) analysiert. Ästhetische Unverfügbarkeit textueller Erzeugnisse wird dem „aufklärerischen Durchdringungsanspruch“ entgegengehalten – und beide gleichermaßen in ein historisches Paradigma philologischer Betrachtungsweise umgelegt.75 Hatte Benjamin 1919 Werke und Briefe eines Menschen noch „wie eine Wasserscheide“76 so unterschieden, dass das eine begrifflich zugänglich, das andere Zeugnis von begriffslosen Lebensprozessen sei, interessiert er sich in seiner späteren anthropologischen Historisierung der Ästhetik als kollektiver Wahrnehmungsform für die Rhythmik, in der Ausdrucksformen historischen Lebens in Ausdrucksformen historischer Werke einen Begriff und Ausblick auf das nur materialistisch zu erzeugende „Nachleben“ eines Kunstwerks und eines Menschen geben können.
Hier trifft sich Benjamin mit Blumenbergs an Valéry gewonnener Epistemologie des Dichtens, die sich, genau wie Benjamin im Bild des Schülers und des Dilettanten, für eine eigentümliche Paradoxie interessiert: Nach Blumenberg
sorgt der Dichter seinerseits entscheidend für die Unbestimmtheit der Tradition, die er vorfindet, und zwar paradoxerweise gerade durch die Wahrnehmung jenes Anreizes für eine Phantasie, die frei geworden ist, dem vorgefundenen Substrat Überbestimmtheit zu geben.77
Von der Kulturkritik am steinernen Personendenkmal und dessen Deduktion historischen Werts – Repräsentationskult des Historismus – über eine ,sokratisch‘ zu nennende Arbeit an einer personal gebundenen Form des Nicht-Wissens – Kritik des Historismus – bis in das spezifisch geschichtlich bestimmte theoretische Verhältnis von (Traditions-)Wissen und Unbestimmbarkeit des künstlerischen Schaffens – ästhetische Analyse des historistischen Paradigmas – ist es ein weiter Weg: Es ist der Weg der negativen Dialektik und Ästhetik Adornos von den Gesetzmäßigkeiten ästhetischer Gegenstandsbearbeitung zu den daraus entstehenden materialästhetischen Paradoxa, der hier in der gerafften Zusammenschau von Nietzsche, Benjamin, Valéry und Blumenberg78 an exemplarischen Szenen konturiert werden sollte.
Das nun folgende Autorenkapitel zu Walter Benjamin führt das hier anhand von Funktionsbildern umschriebene Feld ästhetischer Verhandlungen und Umwertungen zurück auf deren materielle Referenten einerseits und auf die Begriffsbildung andererseits: In welchen Konstellationen (z.B. Zeitschriften) kann sich eine Ästhetik des Überlieferungsgeschehens in eine konkrete Arbeitspoetik umsetzen? Welche Folgen hat dies für einen Autor, dessen philosophische Texte bis Mitte der 1920er Jahre geradezu idealtypisch die Werkform der geschlossenen Abhandlung anstrebten? Und wieso steigt das Anthologische Schreiben in Form von Textserien gar zum Modell für eine (politisch) folgenreiche Produktion auf?
Paul Valéry, zit. n. Gert Mattenklott: Ähnlichkeit. Jenseits von Expression, Abstraktion und Zitation, in: Ders./Gerald Funk/Michael Pauen (Hg.): Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne, Frankfurt/M. 2001, S. 167–184, hier S. 169.
Den Begriff haben Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Buch Was ist Philosophie? entwickelt.
Vgl. Bénédicte Savoys Reflexion auf die Marmorstatue Frédéric-Auguste Bartholdis im Innenhof des Collège de France, die sie direkt aus der epistemischen Unterbestimmtheit und tendenziellen Funktionslosigkeit öffentlicher Denkmäler im Hier und Jetzt entwickelt; Bénédicte Savoy: Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe, Berlin 2018, bes. S. 22–30.
Paul Valéry: Letzter Besuch bei Mallarmé (frz. 1923, dt. 1931/32), in: Ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 6: Zur Ästhetik und Philosophie der Künste, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt/M. 1995, S. 252–254, hier S. 253.
Von Arburg: ,Gefrorene‘ oder ,stumme‘ Musik, S. 267.
Ebd.
Walter Benjamin: Der heutige Stand der Wissenschaften, in: Ders.: Kritiken und Rezensionen (WuN 13.1), S. 305–312, hier S. 308 (Rezension zu Emil Ermatinger: Philosophie der Literaturwissenschaft, Berlin 1930).
Hofmannsthal: Gärten [1906], S. 577.
Vgl. Robert Musil: Denkmäler, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographische Essays und Reden. Kritik, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek 1978, S. 506–509, hier S. 508 (zuerst als Feuilleton erschienen in: Prager Presse, 10.12.1927).
Ebd. (Herv. F.S.).
Vgl. Rudolf Borchardt: Worms. Ein Tagebuchblatt [1906], in: Ders.: Prosa III, hg. v. Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit v. Ernst Zinn, Stuttgart 1960, S. 256–267, hier S. 267.
Walter Benjamin: Papier und Schreibwaren, in: Ders.: Einbahnstraße (WuN 8), S. 38–39, hier S. 39.
Hofmannsthal: Buch der Freunde, KA XXXVII, S. 18.
Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft [1882/1887], in: Ders.: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. Kritische Studienausgabe, Bd. 3, hg. v. Giorgio Colli / Mazzino Montinari, München 1999, S. 343–651, hier S. 546 (Aphorismus Nr. 310).
Ebd.
Ein ebenso schlagender Prätext dazu findet sich in Goethes Torquato Tasso: „Ich scheine nur die stummbewegte Welle. / Allein bedenk’, und überhebe nicht / Dich deiner Kraft! Die mächtige Natur, / Die diesen Felsen gründete, hat auch / Der Welle die Beweglichkeit gegeben, / Sie sendet ihren Sturm, die Welle flieht / Und schwankt und schwillt und bäumt sich schäumend über. / In dieser Woge spiegelte so schön / Die Sonne sich, es ruhten die Gestirne / An dieser Brust, die zärtlich sich bewegte“; Johann Wolfgang Goethe: Torquato Tasso, VV. 3435–3444, zit n. Ders: Italien und Weimar 1786–1790, hg. v. Norbert Miller und Hartmut Reinhardt, München 1990 (Münchner Ausgabe, 3.1), S. 426–520, hier S. 519. In Philipp Theisohns Literaturgeschichte des Plagiats wird das Funktionsbild des Meers mit dem Goethe-Zitat in einer Reflexion über das „Eigentum“ des literarischen Texts im Kraftfeld von Aneignung, Diebstahl und (poststrukturalistischem) ,Fluss‘ der Texte verhandelt; Theisohn: Plagiat, S. 13. Vgl. auch die dritte von Theisohns Ausgangsthesen zum Plagiat: „Plagiate verhandeln grundsätzlich ein ,inneres‘ Verhältnis von Text und Autor“, das sich je nach historischer Konstellation in unterschiedlichen Plagiatsjurisdiktionen, -ökonomien oder textuellen Formen der Beziehung des Autors zu ,seinem‘ Stoff ausdrückt; ebd., S. 3 und bes. 14–34.
Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, S. 369 (Aphorismus 1).
Zum Komplex der ,Absoluten Metapher‘ als literalem Ausdruck einer buchstäblichen Poiesis der Textmaschine, vgl. Philipp Auchter: Maschinen. Ansätze zu einer absoluten Metapher, unpubl. Masterarbeit, Universität Zürich 2016, bes. S. 60–63.
Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion, GS VI, S. 100–103, hier S. 101, vgl. Uwe Steiner: „Kapitalismus als Religion“, in: Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch, S. 167–174, hier S. 171–172.
Leicht abgewandelt nach Walter Benjamin: Antiquitäten, in: Ders.: Einbahnstraße (WuN 8), S. 44–45.
Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1916], Bielefeld 2009, S. 52.
Walter Benjamin: Über den Dilettantismus, GS VI, S. 135.
Walter Benjamin: Antiquitäten, in: Ders.: Einbahnstraße (WuN 8), S. 44–45, hier S. 44.
Ebd., S. 45.
Walter Benjamin: Zwei Bücher über Lyrik, in: Ders.: Kritiken und Rezensionen (WuN 13.1), S. 176–179, hier S.179 (Rezension zu Alexander Mett: Über Beziehungen zwischen Spracheigentümlichkeiten schizophrener und dichterischer Produktion, 1928).
Hofmannsthal und Borchardt beziehen sich ebenfalls auf Nietzsches Krisendiskurs, wenn sie ab 1916 ein neues Europa zu beschwören beginnen. Unter diesen Figuren einer „geistige[n] Grundfarbe des Planeten […] wird Nietzsche ihren Platz haben; vielleicht aber darf man sagen, dass sein Europäertum etwas Brüchiges hat, weil er sich auf Europa zurückzieht, statt Europa im Blick zu haben“, Hofmannsthal: Gesammelte Werke, Reden und Aufsätze II, S. 53 (Herv. F.S.).
Benjamin: Deutsche Menschen (WuN 10), S. 100.
Walter Benjamin: Lehre vom Ähnlichen, GS II.1, S. 204–210, hier S. 207 und passim.
Benjamin: Bücher von Geisteskranken, GS IV.2, S. 615–619, hier S. 618.
Vgl. Lindner: Zu Traditionskrise, Technik, Medien, S. 451–465.
Benjamin: Traumkitsch, GS. II.2, S. 620–622, hier S. 622, 620.
Lindner: Zu Traditionskrise, Technik, Medien, S. 458.
Vgl. Walter Benjamin: Zum Planetarium, in: Ders.: Einbahnstraße (WuN 8), S. 75–76.
Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, S. 571.
Das Zitat aus der Anmerkung des Hg. Karl Alfred Blüher, in: Paul Valéry: Werke 2, S. 456; vgl. Paul Valéry: Philosophie des Tanzes [1936], in: Ders.: Werke, Bd. 6, S. 243–257.
Paul Valéry: Eupalinos oder Der Architekt, in: Ders.: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 2: Dialoge und Theater, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt/M. 1989, S. 7–85, hier S. 30.
Ebd., S. 42.
Ebd., S. 48
Ebd., S. 52.
„Geschichte ist das gefährlichste Produkt, das die Chemie des Intellekts entwickelt hat. Ihre Eigenschaften sind wohlbekannt. Sie regt zum Träumen an, berauscht die Völker, erzeugt falsche Erinnerungen, übertreibt ihre Reflexe, hält ihre Wunden aufrecht; sie lässt die Völker nicht zur Ruhe kommen, verleitet sie zum Größen – oder gar zum Verfolgungswahn, verbittert die Nationen, macht sie hochmütig, unerträglich und eitel.“ (Übers. F.S.); vgl. Paul Valéry: Über Geschichte, in: Werke. Frankfurter Ausgabe in sieben Bänden, Bd. 7: Zur Zeitgeschichte und Politik, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt/M. 1995, S. 173–176, hier S. 173.
Die Zeitschrift, in der der Dialog veröffentlicht wurde, hatte Valéry eine exakte Zeichenzahl vorgegeben.
Gernot Böhme: Der Typ Sokrates, Frankfurt/M. 1988, S. 118–122. Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Dr. Thomas Forrer.
Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, GS I.1, S. 153.
Walter Benjamin: Das Problem des Klassischen und die Antike [1931], in: Ders.: Kritiken und Rezensionen (WuN, 13.1.), S. 313–317, hier S. 316; vgl. auch den Hinweis auf Valéry in dem Aufsatz „Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers“: „Er hat die Technik der Schriftstellerei durchdacht wie kein anderer. Und man würde die Sonderstellung, die er einnimmt, vielleicht hinreichend schon mit der Behauptung treffen, daß Schriftstellerei für ihn in erster Linie eine Technik ist.“ Walter Benjamin: Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers, GS II.2, S. 776–803, hier S. 792.
So etwa auch Ernst Bloch; vgl. Lukács: Theorie des Romans, bes. S. 94–101.
Valéry: Eupalinos oder Der Architekt, S. 73.
Ebd., S. 77.
Walter Benjamin: Sokrates, GS. II.1, S. 129–132, hier S. 131.
Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie [1907], hg. v. Helga Grebing, Paderborn/München 2007, S. 88. „Das Ich erscheint als Trübung der Größe, als Beeinträchtigung der Beglückungsmöglichkeit des Kunstwerks.“, ebd., S. 98.
Vgl. Claudia Öhlschläger: Einleitung, in: Worringer: Abstraktion und Einfühlung, S. 13–42, hier S. 22 und 29f.
Vgl. Walter Benjamin: Paul Valéry an der Ecole normale supérieure [1929], GS IV.1, S. 479–480.
Vgl. Walter Benjamin: Theologisch-politisches Fragment, GS II.1, S. 203–204.
Vgl. Fabian Saner: Ingenium der Utopie. Walter Benjamin und seine Leser Giorgio Agamben und Jacques Derrida, unpubl. Masterarbeit, Universität Zürich 2012.
Regina Karl: Paul Valéry: Entwendung als Handhabe, in: Jessica Nitsche/Nadine Werner (Hg.): Entwendungen. Walter Benjamin und seine Quellen, Paderborn 2019, S. 389–413, hier S. 394.
Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, GS. I.1, S. 159; vgl. Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, Paderborn 2004, darin Kap. 6. Das Kunstwerk als Einbruchstelle. Zur Dialektik menschlicher und göttlicher Ordnungen in Benjamins Goethes Wahlverwandtschaften, S. 109–126, hier S. 119.
Nachdem Hofmannsthal Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay 1924/1925 in seiner Zeitschrift Neue deutsche Beiträge abgedruckt hatte, trafen sich die beiden 1928 zu zwei Gesprächen in Berlin, die als bizarr und fantastisch charakterisiert worden sind (vgl. Jäger: Zwischen Soziologie und Mythos, S. 105–108). Wieso konnten sich Benjamin und Hofmannsthal – bei aller gebotenen Vorsicht vor Überinterpretation und in vorläufigem Absehen von der Abhängigkeit der Fürsprache des berühmten Schriftstellers für den jungen Kollegen, dessen akademische Karriere gescheitert war – gerade Mitte der 1920er Jahre aneinander reiben? Benjamin reagierte auf Hofmannsthals deutschen Typus, auch auf dessen ,Haltung‘ als genuines Konzept der literarischen Erfahrung. Hofmannsthal interessierte sich für Benjamins Allegoriekonzept, dessen Denkfigur des dialektischen Bilds. Auch in der medienästhetischen ,Lebensschrift‘ konnten sich Benjamin und Hofmannsthal Mitte der 1920er Jahre thematisch kreuzen, so experimentierte Benjamin 1928 mit Haschischprotokollen, die zu dieser Zeit mit Fritz Fränkel, Ernst Joel und Ernst Bloch durchgeführt wurden; Hofmannsthal arbeitete am Plan des Priesterzöglings und des Zeichendeuters; vgl. Jäger: Zwischen Soziologie und Mythos. Hofmannsthal hatte Benjamin bereits Übersetzungsaufträge vermittelt. Vgl. Matz: Hofmannsthal und Benjamin, in: Akzente 36 1/1989, S. 43–65.
Diesen Gedanken entnehme ich Haverkamp: Geld und Geist, S. 179.
Walter Benjamin: Erleuchtung durch Dunkelmänner, in: Kritiken und Rezensionen (WuN 13.1), S. 386–391, hier S. 388 (Rezension zu Hans Liebstöckls: Die Geheimwissenschaften im Lichte unserer Zeit, 1932). Vgl. den Stellenkommentar dazu in Benjamin: Kritiken und Rezensionen (WuN 13.2), S. 373, mit einem Verweis auf Benjamins Brief an Adorno vom 3.9.1932 (GB IV, S. 126–129), wo Benjamin den Setzfehler richtigstellt.
Vgl. Eckardt Köhn: Hans Blumenberg liest Walter Benjamin. Philologische Splitter, in: Harald Hillgärtner/Thomas Küpper (Hg.): Medien und Ästhetik. Festschrift für Burkhardt Lindner, Bielefeld 2003, S. 83–102, hier S. 101: „Vielleicht hätte hier – in der identischen Beurteilung dieser Textstelle des erzählenden Sokrates – und im Verhältnis der beiden Denker zu Paul Valéry eine umfassende Untersuchung der theoretischen Gemeinsamkeiten zwischen Blumenberg und Benjamin ihren günstigsten Ausgangspunkt, von dem aus die in den Texten manifeste Rezeption nur als Spitze des Eisbergs erscheinen könnte.“ Burkhardt Lindner meinte, Blumenberg habe sich die Früchte seiner Benjaminlektüre konsequent versagt.
Vgl. Karin Krauthausen: Blumenbergs möglicher Valéry, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1/2012, S. 36–60, hier S. 52.
Paul Valéry: Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci, in: Ders.: Werke, Bd. 6, S. 7–61, hier S. 10.
Valéry: Eupalinos oder Der Architekt, S. 44.
Valéry: Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci, zit. n. Krauthausen: Blumenbergs möglicher Valéry, S. 40.
„Ich sagte meinem Freund, dass die Gelehrten weitaus mehr Risiken eingehen als alle anderen, indem sie Wetten abschließen; wir hingegen bleiben außerhalb dieses Spiels. Sie täuschen sich in anderer Art als wir: unsere ist leicht, ihre beschwerlich“, Hofmannsthal: Der Dichter und der Geometer, KA XXXI, S. 209 (Übersetzung F.S.).
Sigmund Freud: Die Traumdeutung (Der Käfertraum), zit. n. Dethloff: Hugo von Hofmannsthal und eine konservative Revolution, S. 538.
Dies hat Klaus Dethloff in seiner Relektüre von Hofmannsthals Münchner Rede von 1927 herausgearbeitet; vgl. Dethloff: Hugo von Hofmannsthal und eine konservative Revolution, S. 538–539.
Vgl. Friedrich Balke/Hanna Engelmeier: Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des ,Figura‘-Aufsatzes von Erich Auerbach, Paderborn 2016; Patrick Eiden-Offe: Typologie und Krise. Fichte in Lukàcs, in: Dannemann / Meyzaud / Weber (Hg.): 100 Jahre „Transzendentale Obdachlosigkeit“, S. 211–228.
Vgl. Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt/M. 1992 (L’autre cap suivi de La démocratie ajournée, Paris 1991).
Walter Benjamin: Paul Valéry. Zu seinem 60. Geburtstag, GS II.1, S. 386–390, hier S. 390.
Dieses prekäre Funktionsbild – in dem nicht zuletzt auch die erhängten Sklaven des transatlantischen Sklavenhandels mitgelesen werden können – hat Jacques Derrida in Bezug auf Valéry in Das andere Kap triftig gemacht.
Vgl. Brodersen: Nachwort. Ein Wörterbuch der Humanität, S. 475–476. Der Herausgeber Brodersen entnimmt dies einem neu aufgefundenen Typoskript im Benjamin Archiv. In den Gesammelten Schriften der 1980er bis 2000er Jahre fand sich noch kein Hinweis auf dieses Projekt.
Vgl. Detlev Schöttker: Nachwort. Aphoristik und Anthropologie, in: Benjamin: Einbahnstraße (WuN 8), S. 563.
Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, GS. I.1, S. 182.
Walter Benjamin: Drei Bücher des Heute, in: Ders.: Kritiken und Rezensionen (WuN 13.1), S. 116–122, hier S. 120.
Vgl. die interessante Befragung der metaphorischen Ressourcen im Begriffsfeld der Philologie bei Marcel Lepper: Philologie zur Einführung, Hamburg 2012, bes. S. 36–41, hier S. 39.
Walter Benjamin: Die Fahne, GS VI, S. 94–95, hier S. 95.
Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos [1971], in: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, S. 327–406, hier S. 346.
Die Weiterführung dieser Zusammenschau könnte über die Reflexion der Begriffsgeschichte der Technik und des Technischen laufen, die bei allen dreien in unterschiedlichem Ausmaß „den Zusammenhang von Technik und Überlieferung aufnimmt, ohne ihn selbst technizistisch zu verkürzen“, Lindner: Zu Traditionskrise, Technik, Medien, S. 462.