Denn menschliches Leben läßt sich nicht nach Analogie eines Kunstwerks betrachten.1
Walter Benjamin
„Da Anthologie zu deutsch heißt: Blütenlese, so ist diese Nummer keine Anthologie.“2 Benjamins Strukturprinzip des Anthologischen Schreibens wendet sich erstens gegen einen normativen Repräsentativitätsanspruch, einen symbolischen Zusammenhang zwischen dem herausgenommenen und anthologisierten Einzelstück und dem damit verbundenen Verweiszusammenhang in eine gebietsmäßig (z.B. biografisch oder motivisch) abgegrenzte Literatur-, Kunst- und Kulturgeschichte. Die gereihten Texte entstehen zweitens aus einem seriellen Prinzip, das seinen Zusammenhang aus einer Geste gewinnt: nicht symbolisch relativierend und zusammenführend, sondern konstruiert aus Wenigem – der Handhabe des ,destruktiven Charakters‘ (vgl. Kap. 5.2).3 Die radikalen Positionssetzungen in den einzelnen Texten stehen der Vorannahme vieler Leserinnen und Leser entgegen, wonach Benjamin von Ambivalenzen zwischen nostalgischer Versunkenheit und rückhaltloser Aufgabe zugunsten des Neuen hin- und hergerissen gewesen sei. Benjamins Art, alte Bücher zu lesen und daraus Zitate oder Textreihen zu montieren, schreibt sich von seiner kontraintuitiven Maxime des Sammelns her: „Die alte Welt erneuern – das ist der tiefste Trieb im Wunsch des Sammlers“4 oder im Kommentar Lindners: „Die Verjüngung der Welt geht für den Sammler von einem destruktiv gegen das Bestehende gerichteten Impuls aus.“5 Die materialen Gegenbilder in Benjamins literarischen Glossen und Stücken prägen sich als Serienbildungen in seinen Anthologien aus. Gereiht und in unterschiedliche (kommentierende und mediale) Zusammenhänge versetzt, sind sie verschiedenen gesellschaftlichen Beleuchtungs- und Handlungszusammenhängen ausgesetzt, wogegen die Anthologien Hofmannsthals und Borchardts meistens einem Motivprinzip (,Landschaft‘ ,Gemüt‘ usw.) untergeordnet oder in eine normative Typologie (,Beste Köpfe‘, ,Ewiger Vorrat‘) eingeordnet sind, die von Entwicklungslinien ausgeht.
Produktionsästhetisch ersetzt die Serienbildung und die Fokussierung auf die mediale Qualität der Anthologie deren Typik als Zerfallsprodukt der Tradition – der ,blühenden‘ Anthologie und ihrer Repräsentation klassischer, verstanden als ,ewig wiederaufgreifbarer‘ Köpfe oder Motive. Benjamin orientiert sich an der Idee einer kollektiven Rezeption in der Zerstreuung als begrifflichem Komplement des Kunstwerks, um das Anthologische Schreiben als Methode aufzuweisen, die eine andere Funktionalität gesellschaftlicher Produktions- und Rezeptionsprozesse bahnt: Anthologien als kulturkonservative Produkte gegen den Zerfall werden zum formprozessierenden Mittel, textuelle als mediale Überlieferungsprozesse inmitten des gegenwärtigen Zerfallsgeschehens zu bearbeiten und diesen konstatierten Zerfall ästhetisch mitzugestalten, ohne in einer Logik der ,Rettung‘ zu verharren bzw. sich auf diese zu beschränken.6 Dieser ,sokratische‘ Weg vom Typ der personalistischen Denkmäler ans physiognomisch unintelligible anonyme Meer der poésie pure von Valéry erfolgte unausgewiesen auch auf der Welle Nietzsches, dessen Vexierbild in der Architektur von Benjamins Serien und Reihen sowohl in der Einbahnstraße wie in den Deutschen Menschen auffällige Schlusssteine bildet (vgl. besonders Kap. 4).
5.1 Klassik und Zerstreuung
In Walter Benjamins Texten stehen die Philosophie und die ästhetisch-künstlerische Philologie sowohl als historisch gewordene Zugänge zur Deutung von Artefakten als auch als methodische Selbstverständigungsweisen der schriftstellerischen Arbeit in Spannung zueinander. Diese Spannung lässt sich insofern als produktives Moment Benjamin’scher Schreibszenen7 begreifen, als das Verhältnis von Philologie und Philosophie auf eine Praxis hinweist, die (im Wissen um ihre historische Gewordenheit) immer schon einer Dichtotomie von zeitlos-idealer Vorstellung der Formwerdung und spur- und restlosem Herstellungsprozess entzogen ist.
Benjamin gehört zu jenen unübersichtlichen Autoren, deren Werk auf eine disparate Wirkungsgeschichte angelegt ist; diese Autoren treffen wir immer nur an in der aufblitzenden Aktualität eines für historische Sekunden die Herrschaft antretenden Gedankens.8
Als Jürgen Habermas diese Sätze 1972 in seiner wirkungsmächtigen Studie zu Benjamin veröffentlicht, hat die Kontroverse um die Edition von Benjamins Schriften und die damit einhergehende Popularisierung im deutschsprachigen Raum im Umfeld der studentischen Protestbewegung einen ersten Höhepunkt erreicht. Im selben Jahr beginnt der Suhrkamp-Verlag mit der Publikation der Gesammelten Schriften (GS), die die vorangegangenen Neuauflagen und Sammelpublikationen einzelner Texte Benjamins ablösen. Auf eine bisher von Polemik bestimmte Kontroverse folgt nun eine stärker auch an werkimmanenten Kriterien orientierte Beschäftigung, die von Skepsis gegenüber Editionskriterien und Textdarbietung in den Gesammelten Schriften begleitet bleibt.9
Die von Habermas konstatierte disparate Wirkungsgeschichte ist ein Ausgangspunkt, Benjamins Begriffsfiguren auf ihre Reflexion von Wirkungsmomenten im Schreiben zu untersuchen. Dabei wird sich zeigen, dass Benjamin aufgrund methodischer Skrupel gegenüber der rhetorischen Wirksamkeit von Schrift an Text- und Medienkonstellationen arbeitet, die sich – in Bezug auf die Bestimmung des Kunstwerks in der Zeit seiner Produktion und der Zeit seiner Rezeption – als Herausforderung innerhalb des Wahrnehmungsschemas und hermeneutischer Interpretationsverfahren zeigen. Die Aktualisierbarkeit – von Gedanken, Methoden, Medien – spielt dabei eine zentrale Rolle, wobei Benjamin, ausgehend von einer Konstellation der frühromantischen Ästhetik, produktions- und materialästhetische Fragen zunächst eher zum Gegenstand einer philosophischen Betrachtung macht, als dass sie Ausgangspunkt für eine Reflexion auf die Form des Materials würden. Dies ändert sich mit der Arbeit an den Anthologien und deren aufwertender Repositionierung als Traditionsmedien im Zuge der Auseinandersetzung mit dem George-Kreis, mit Hofmannsthal und Borchardt. Der literarische Text tritt in der literaturwissenschaftlichen Interpretation in einen Dialog mit den geschichtlich gewordenen Elementen materialer, inhaltlicher, stilistischer usw. Art, die sich ihr entgegenstellen. Interpretation ist, um einen Definitionsansatz von Christian Benne aufzunehmen, „Text in seinem angenommenen und rekonstruierten Werkcharakter.“10
Bis Mitte der 1920er Jahre begreift Benjamin das Kunstwerk vor dem Hintergrund romantischer, neukantianischer und religionsphilosophischer Theoriebildung als Ausdrucksort eines prinzipiell unruhigen und unauflösbaren Spannungsverhältnisses von Schönheit und Wahrheit. Die Erfahrung der Kunstform setzt, in der kantischen Lesart Georg Simmels, einen Schematismus voraus, der Anschauung und begriffliches Verstehen verknüpft, ohne eines von beiden zu sein.11 Dieses nach Interpretation verlangende Ausdrucksverhältnis versucht Benjamin in seiner paradigmatischen kunstphilosophischen Behandlung eines einzelnen Werks, dem Essay Goethes Wahlverwandtschaften,12 über komplementäre Begriffspaare einzuhegen und insofern dialektisch darstellbar zu machen. Mit den flexiblen wie griffigen Konzepten von Kommentar und Kritik, Rhythmus und Zäsur, Schein und Ausdruckslosigkeit stellt Benjamin eine von ihm angenommene, wechselseitige Unausschließbarkeit von menschlicher und göttlicher Schicksalsordnung dar und macht – in der steten Einblendung der Rezeptionsgeschichte der Wahlverwandtschaften Goethes – die Grenzen kunstphilosophischer Kritik sichtbar, ohne einer Remythisierung des Kunstwerks bzw. der dichtenden Person, einer schlechten Heiligung in die Hände zu spielen.13 Das Werk wird als Medium oder „Einbruchsstelle“ des ,In-Erscheinung-Tretens‘ des reinen Inhalts konzipiert, dessen Lokalisierung in der Sphäre der Anschauung Benjamin jene ,Brechung‘ konstatieren lässt, die ihn im Unterschied zur romantischen Kontinuität der Formen im absoluten Medium der Kunst zur Annahme einer diskontinuierlichen Nicht-Identität zwischen dem einzelnen Werk und dem höchsten Gehalt der Kunst führt.14 Hierbei bewegt sich Benjamin in sprachtheoretischen Konzepten, die nicht zuletzt im George-Kreis zirkulierten. So hatte der Philologe Norbert von Hellingrath die Unterscheidung zwischen harter und glatter Fügung aus der antiken Rhetorik insbesondere auch für Zäsuren in der Literaturgeschichte eingesetzt, die den ebenso begrifflich operierenden Philologen Benjamin anziehen mussten. Bei Hellingrath heißt es programmatisch:
Für uns / die wir von der begrifflich unsinnlichen seite herkommen / wird als wesentlich erscheinen dass in harter fügung möglichst das einzelne wort selbst taktische einheit sei / in glatter dagegen das bild oder ein gedanklicher zusammenhang meist mehrere wörter sich unterordnend.15
Benjamin macht sich dieses Konzept parataktischer Gleichartigkeit des Wortmaterials gegenüber hypotaktischen Vorstellungen zu eigen und stipuliert eine rhythmische Zäsur in einer quasi-epiphanischen Volte, um das „bebende“ „Geheimnis“ von Wahrheit und Schönheit zu ,verewigen‘.16 Damit hat er an einem ungemein wirkungsreichen und faszinierenden, auch auf andere ästhetische Felder erweiterbaren Paradigma mitgearbeitet, das insbesondere die Modernekonzeption und Ästhetikforschung der Frankfurter Schule und später die poststrukturalistische Kulturtheorie des späten 20. Jahrhunderts und frühen 21. Jahrhunderts prägen sollte, hervorgehoben etwa in der paradoxen Begriffsfigur des „Ausnahmezustands“ von Giorgio Agamben.17
Uwe Steiner bilanziert: „In den Werken selbst erscheint zwar die Wahrheit, jedoch als Geheimnis, als in den Sachgehalten Verborgenes. Erst in der Kritik zeigt sich, dass diese Verhüllung der Wahrheit in den Werken dem Problem der Wahrheit in der Philosophie als Problem ihres Systems korrespondiert. Deshalb insistiert Benjamin darauf, dass die Kritik die Wahrheit im Werk als ,erfordert‘ erkennt; denn diesem gegenüber bleibt sie ebenso wie das System der ihm geltenden philosophischen Frage gegenüber transzendent.“18 Das Kunstwerk als in der Tradition des Erhabenen stehende Einbruchsstelle einer Dialektik von menschlicher und göttlicher Ordnung ist damit auch an einem Ort angesiedelt, an dem verschiedene Vorstellungen oder Ordnungen der Zeit aufeinandertreffen: menschliche als kreatürliche, göttliche als messianische Zeit. Soll „die Zeit“ auf- (oder vielleicht: nieder-?)geschrieben werden – und das ist das in der „Zeitschrift“ erforderte inhaltliche Ideal –, gilt es, die Idee der Kritik richtig zu verorten. Dies kann, so Benjamins Einsicht, nur in der Beobachtung der (zunehmend anonymen) Instanzen geschehen, in denen Krisenförmiges dauerhaft sichtbar wird.
Benjamins Kritikbegriff wird in einem Exposé für die Habilitationsschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels deutlich: „Das allegorische Kunstwerk trägt die kritische Zersetzung gewissermaßen schon in sich, in ihm vollzieht sich die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst.“19 Das in diesem idiosynkratischen Sinn allegorische Kunstwerk – Benjamin dachte dabei in erster Linie an die barocken Trauerspiele – vollzieht das kritische Moment des ,natürlichen‘, zeitlich bedingten Zersetzungsprozesses als Einspruch der Sachgehalte. Auftretende Requisiten, melancholische Gemütszustände, ,fallende‘, zu Kreaturen verwandelte ehemals souveräne politische Herrscher usw. erfüllen die Funktion, das Tempo natürlicher Zerstörungs- bzw. Zerfallsprozesse des kreatürlichen Lebens zu beschleunigen. Diese Sachgehalte sind als „Spuren der Zerstörung“20 für die Kritik der Nachwelt les- und damit in Form von Aktualisierungen benutz- und bearbeitbar. Für die demgegenüber nicht-allegorischen Kunstwerke ist es hingegen der Verlauf der Dauer selbst, der Zersetzung bewirkt:21 an ihnen bleibt die ästhetische Kritik folgenlos, weil es keine spezifischen Einsatzpunkte einer Rezeptionsgeschichte zu beobachten gibt, die eine solche ,Spur der Zerstörung’ anzeigen könnten.
Hier erfolgt die Umstellung einer genuin kunstphilosophischen Perspektive auf eine wahrnehmungsästhetische. Im Briefwechsel mit Florens Christian Rang erörtert Benjamin in seltener Deutlichkeit gewisse Grundlegungen, die in seinen publizierten Schriften in den 1920er Jahren so nicht zutage treten.
Dabei gilt mir als ausgemacht, daß es Kunstgeschichte nicht gibt. […] Es [das Kunstwerk, F.S.] ist seinem Wesentlichen nach geschichtslos. […] Die wesentliche Verbindung unter Kunstwerken bleibt intensiv. Die Kunstwerke stehen in dieser Hinsicht ähnlich wie die philosophischen Systeme, indem die sogenannte ,Geschichte‘ der Philosophie entweder uninteressante Dogmen- oder gar Philosophen-Geschichte ist, oder aber Problemgeschichte, als welche jederzeit die Fühlung mit der zeitlichen Extension zu verlieren und in zeitlose, intensive Interpretation überzugehen droht. Die spezifische Geschichtlichkeit von Kunstwerken ist ebenfalls eine solche, welche sich nicht in ,Kunstgeschichte‘, sondern nur in Interpretation erschließt.22
Kunstwerke im starken Sinn des Worts erfordern immer eine interpretatorische Befragung, weil ihre Schönheit in Benjamins Konzeption einen Kern des Wahren umhüllt, ein bloß in diskontinuierlichen Einsätzen aufzuweisendes Geheimnis, das – in anderer Diktion – als ihre andauernde Wirkungskraft beschrieben werden kann und auf andauernde Befragung angewiesen ist. Der eigentliche Clou dabei ist, dass in dieser Klassik der Kunstwerke (d.h. der Periode ihrer höchsten Wirkungskraft, in der sie gemäß Benjamin nicht beurteilbar sind) keine gesellschaftliche Vermittlung stattfindet. Dagegen bleibt nach der Umschmelzung dieses Konzepts ab den späten 1920er Jahren keine Klassik mehr übrig, sondern es ist (wie es dann die Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer vorgebracht hat) in der kollektiven Wahrnehmbarkeit in verschiedenen Epochen, auch etwa im antiken Epos des Odysseus, die Zerrissenheit der Moderne in Form des nicht mehr schicksalsbestimmten Individuums bereits angebrochen (vgl. Kap. 4).
Was diese Zersetzung der Form des Kunstwerks in der Zeit bewirkt, ist als symptomatische Spur an der Gesellschaftsanalyse ebenso sichtbar zu machen wie im Kunstwerk, bedingt aber eine entsprechende Rezeptionshaltung. Das Stichwort Benjamins dazu lautet: „Rezeption in der Zerstreuung“.23 Darin wird kollektive Wahrnehmung als Voraussetzung gesellschaftlicher Analyse ermittelt. In dieser spezifischen Dialektik berührt und verlässt Benjamin zugleich die materialistische Analytik von Basis und Überbau. Die Zerstreuung und das Zerstreute sind damit nicht eine Verfallserscheinung, ein Krisensymptom, eine durch die Kulturkritik aufgefundene Unzulänglichkeit der Zustände. Zerstreutheit und Zerstreuung sind vielmehr die unhintergehbaren gesellschaftlichen Kollektivmedien geworden – gewissermaßen die Operatoren der „notwendigen Wahrnehmbarkeit“24 des für Benjamin ontologisch fundierten Wahrnehmungsbegriffs einer Massengesellschaft.
Was Benjamin (mit Kant und Simmel) als Dynamis der Kunstform im Wahlverwandtschaften-Essay konzipiert hatte, wird damit aufs ausdruckslose Feld anonymer Gesellschaftsprozesse expliziert, womit sich insbesondere die von ihm vertretene Idee eines geschlossenen Spannungsverhältnisses von Wahrheit und Schönheit im Kunstwerk ganz neu stellt: sind Kunstwerke weiterhin als je spezifische Effekte dieses Krisenverhältnisses zu denken? Wie lässt sich die gesellschaftliche Krise als Spannungsort des Theologumenons einer messianischen Zäsur begreifen und lesbar machen? Und ist deren Darstellung die zu aktualisierende politische Aufgabe des Kunstwerks, damit ,die Zerstreuten‘ eine Vorstellung von sich selbst bekommen? Welche Verwandlungen auch immer Benjamins Denken mitbestimmen, sich einen immer präziseren Begriff des Kunstwerks zu machen, wie er in den späten 1930er Jahren postuliert, diesen Anspruch hat sein Schreiben nie aufgegeben, aber auf andere Interessensgebiete verschoben: das Anthologische Schreiben wurde ihm dabei über die Zwischenstufen der Zeitschriftenkonzepte zu einer Handhabe für die Beantwortung dieser Fragen.
5.2 Benjamins Begriffslabor: Folgenreiche Produktion im Projekt Krise und Kritik
Die Konkretisierung der medienästhetischen Analyse der Zerstreuung liegt für Benjamin im Impetus auf eine folgenreiche Produktion. Ist das künstlerische Produzieren notwendigerweise in kollektive Zerstreuung und Zerstreutheit eingelassen, weil diese, als mediales Apriori, durch die gesellschaftlichen Leitmedien (Zeitung, Rundfunk, Film) oder auch im Blick auf die politisch-gesellschaftliche Anomie demokratisierter Massenkultur gegeben ist, so hat sich die intellektuelle Arbeit nicht nur inhaltlich, sondern auch formal damit auseinanderzusetzen, um nicht einem „veraltete[n] Vermittlungsmedium“25 – hier dem Buch – zu verfallen.
Im Hinblick auf geplante, aber nicht über die Projektierung hinausgekommene Zeitschriften wollte Benjamin dieses Moment der verschärften Krise als Funktion im Medium der Zeitschrift produktiv machen. Der Blick sollte auf die Produktionsbedingungen der Zeitschrift gerichtet werden, indem ihre Funktion als kommunikatives Forum zwischen Texten und Publikum in den Fokus rückte. Für Benjamin ist die Zeitschrift eine Folge und ihre innere Grundlage ist das Produzieren als Folge. Die Kunstproduktion als Ausübung von gesellschaftlicher Wahrnehmungsexpertise (nicht als kunsthandwerklich regelgeleitete) zu begreifen, dieser bei Benjamin über die Valéryrezeption vermittelten Technik im aristotelischen Sinn standen nicht zuletzt die Überlegungen zu den Zeitschriften Pate.
Der radikalste und unrealisiert gebliebene Entwurf in diese Richtung war das Zeitschriftenprojekt Krise und Kritik, das 1930/1931 Linksintellektuelle um Brecht und Benjamin zum Zeitpunkt der größten Spannungslage der instabilen Weimarer Republik konzipiert hatten.26 Die Produktionssituation dieser Schriftsteller und Künstler veränderte sich mit der Exilsituation einige Jahre später fundamental und wurde in jeder Beziehung eingeschränkt. Bereits zuvor entstanden im Rahmen des Zeitschriftenprojekts Entwürfe, die die Widersprüche von künstlerischen Produktions- und Erkenntnisprozessen in einer von politischen Klassenspannungen zerrissenen kapitalistischen Marktsituation adäquat reflektieren sollten. Das Zeitschriftenprojekt versuchte diese Spannungsverhältnisse im Hinblick auf eine Methodik kollektiver Autorschaft und serieller Rezeption auszulegen.27 In den redaktionellen Diskussionen im Autorenkreis der Zeitschrift sollten Thesen formuliert werden, die mittels Beiheften für jeden Schreibenden der jeweils folgenden Ausgabe Gegenstand der Auseinandersetzung in seinem eigenen Spezialgebiet werden sollten. Das Ephemere der Aktualität wäre nicht im Rhythmus vermeintlicher Tagesinformiertheit, sondern in Form gemeinsam konstituierter Thesen dingfest gemacht worden, so dass die Autoren, als Produzenten, aufgrund dieser Thesen aber dennoch methodisch ,aus dem Denkgebiete heraus‘ kommen sollten.28 Dadurch sollte der Originalitätsanspruch ,bürgerlicher‘ Wissenschaft an den allein arbeitenden Autor funktional, im Hinblick auf die Serialisierung der Zeitschrift, entkräftet werden.29 Leitend war der Anspruch, im ,Spezialistentum‘30 der produzierenden Schriftsteller31 eine Produktion über interne dynamische Thesen-Diskussionen und externe Wiederaufnahme der Folgen des seriell bereitgestellten Wissens möglich werden zu lassen.
Die gemeinschaftlich erarbeiteten Thesen sollten damit jene folgenreiche Spur ,produktiver‘ Zerstörung artikulieren, deren methodischen Wert Benjamin in Notizen zu seinem Text Der destruktive Charakter von 1931 auf den Punkt bringt: „Einige machen die Dinge tradierbar (das sind vor allem die Sammler, konservative, konservierende Naturen), andere machen Situationen handlich, zitierbar sozusagen: das sind die destruktiven Charaktere.“32 Zerstörung ist dabei als eine Produktionsmethode zu verstehen, die den geschichtlichen Stoff ab- und zurückbaut, in einer Produktionssituation, die auf wenigem beruht. Das ,Wenige‘ ist der Diagnose einer „Erfahrungsarmut“33 als gesellschaftlicher Folge des technisierten Kriegs geschuldet: Die Prekarität von anthropologischen Sicherungsleistungen tritt gerade Jahre nach Kriegsende in der von Benjamin als Symptom bewerteten gesellschaftlichen Weigerung zutage, die exterminatorischen Konsequenzen der neuen Waffensysteme anzuerkennen. „Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper.“34
Eine in diesem Sinn doppelt folgenreiche Produktion aus der Reflexion auf das Material und das Medium sollte den Anspruch auf Aktualität indirekt angehen. „Wie komplex die Programmatik von Krise und Kritik war, zeigt der Vergleich mit Benjamins früherem Zeitschriftenprojekt Angelus Novus: Nach Jahren kritischer Arbeit in der Öffentlichkeit bewegte sich Benjamin mittlerweile in einem anderen Umfeld. Politisch hatte er Positionen bezogen, die ihm früher fremd gewesen wären. Sein Verhältnis zum Publikum war ein anderes. Was jedoch das Gebot der sachlichen Stimmigkeit angeht, die Bestimmung durch Historie, die Forderung nach Aktualität, den Anspruch auf Wahrheit – und den Versuch, diese Maßgaben zu integrieren –, ist Benjamin nicht von seinem früheren Entwurf abgewichen.“35 Krise und Kritik wäre auf eine veränderte Form der Zusammenarbeit hinausgelaufen: Die Versetzung der intellektuellen Arbeit in einen strikten Produktionsmodus der Thesen- und Gedankenfabrik, aber in der kollektiven Methode von den Parolen des kommunistischen Parteiprogramms unabhängig – nur in der Produktionssituation von den Wellen der Ereignisse der Tagespolitik getragen und nur in den mitgebrachten intellektuellen Werkzeugen vom „bürgerlich saturierten“36 akademischen Betrieb abstammend, nicht aber inhaltlich auf diesen bezogen.
Einige Jahre später, 1938 im Exil, mahnte Benjamin in seinem Porträt des Instituts für Sozialforschung in der Exilzeitschrift Mass und Wert: „Denn die geistigen Besitztümer sind derzeit um nichts besser gewährleistet als die materiellen. Und es ist Sache der Denker und Forscher, welche noch eine Freiheit der Forschung kennen, von der Vorstellung eines ein für alle Mal verfügbaren, ein für alle Mal inventarisierten Bestandes an Kulturgütern sich zu distanzieren.“37 Eine damit skizzierte Arbeitssituation hätte gerade den rückzugsbedürftigen, stillen Forscher Benjamin vermutlich überfordert und wäre deshalb wohl auch unter besseren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gescheitert. Dennoch wurden die an diesen Zeitschriftenprojekten geschärften Vorstellungen einer Mitarbeit der intellektuellen Person in der Gesellschaft und der Überwindung der anachronistischen ,Ortlosigkeit‘ der ,freischwebenden Intelligenz‘ zu einem wichtigen Moment der Benjamin’schen Umfunktionierung des Traditionsmediums Anthologie.
Zunächst gilt es aber, einige Begriffskonzepte zu erläutern, die für eine Reflexion des Anthologischen Schreibens jenseits der Analyse einzelner Anthologien wichtig sind. Das ,Detail‘, der ,Rest‘, das ,Fragment‘, die ,Spur‘ bilden markante Begriffe, die in eine erkenntnistheoretische Zentralstellung aufrücken.38 Der methodische Zugriff lässt sich grob als archäologisch fassen: Es geht darum, aus dem und durch das Detail das verstellte, verschwundene Ursächliche aufzuweisen und zu entziffern – mit philologischem Instrumentarium jenseits der Texte auch die Welt als zeichenhaft zu begreifen und semiologisch zu durchdringen. Das Detail wird nicht mehr in der Struktur von Allgemeinem und Besonderem verstanden,39 sondern erhält einen primären erkenntnistheoretischen Rang. Die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen dieser via Detail dingorientierten Entzifferungsarbeit sind dabei entscheidend an die Form der Darstellung gebunden, wie es im ersten Satz des Trauerspielbuchs heißt: „Es ist dem philosophischen Schrifttum eigen, mit jeder Wendung von neuem vor der Frage der Darstellung zu stehen.“40
Benjamin ist kein „Physiognomiker der Dingwelt“, der „wie ein Magier“ die „Gegenstände seiner Vitrine“ in die Hand nimmt und sie „aus dem Funktionszusammenhange“ löst – auch wenn dies in Texten von Ende der 1920er Jahre im Kontext seiner Surrealismusrezeption stellenweise an der Textoberfläche so scheinen mag.41 Was Benjamin interessiert, ist die Historizität der Wahrnehmungsform vor dem Hintergrund einer ontologisch verstandenen ,notwendigen Wahrnehmbarkeit‘, die durch Technikentwicklung und Materialerschließung die ,Dingwelt‘ und ihre sinnlichen Erfahrungsräume umwälzt: ein Beitrag zur Entwicklung der Ästhetik als Geschichte der Wahrnehmung.42 Im Material als prozeduralem Begriff vermitteln sich die metaphorischen Aneignungsprozesse der stofflich-physischen Aspekte, der Begriff des Materials schließt aber auch das Denken selbst als eine materiale Praxisdimension ein.43 In Benjamins Denk- und Schreibprozess drängt diese Konstellation über die Sprachästhetik hinaus und wird für Kulturanalysen fruchtbar gemacht. Die Sprache der Dinge lesbar zu machen wie einen Text, bedingt für den semiotischen Blick nicht, diese Zeichenhaftigkeit semantisch zu verabsolutieren – auf ein Inneres, ,Naturanlagen‘, ein göttliches Medium etc., wie es die historische Tradition der Physiognomik vorgegeben hatte.44 Vielmehr folgt Benjamin im Zuge seiner abrupten Rezeption der Marx’schen Theorie und Sprachanalyse der Erkenntnis, dass „das Auszudrückende und seine äußere Objektivation […] aus ein und demselben Material bestehen.“45 ,Material‘ wird damit zu einem konzeptuell-verzeitlichten Begriff, der das jeweilige ,Frühe‘ eines Ausdrucksstadiums bezeichnet, dessen ,Urgeschichte‘ mittels eines analytischen Prozesses ausdrückbar werden lässt. Das Anbrechen, Sichtbar werden – und das Verschwinden, Unsichtbar werden, sind als besondere prozessuale Stadien in Benjamins Epistemologie zentral und erhalten dementsprechend den höchsten erkenntniskritischen Status.46
Der folgende knappe Durchgang durch zentrale Benjamin’sche Begriffskonzepte aus der langen Arbeitsphase der Passagenarbeit (1927–1940) stellt das Feld vor, innerhalb dessen auch die anthologischen Arbeiten Briefe (1931/32) und Deutsche Menschen (1936) entstanden sind. Bei aller ,Überforschung‘ Benjamins hat eine Beschäftigung mit diesem Autor meiner Überzeugung gemäß nach wie vor auch die begrifflichen Gehalte mitzubedenken, wenn auch der Impetus einer verstärkten Erforschung der Kontexte und ein Wegkommen von reiner Benjaminexegese sicher angezeigt sind. Mit den vorliegenden Bänden der neuen Edition Werke und Nachlaß könnte heute begonnen werden, eine Geschichte der Benjaminrezeption im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert zu schreiben.
In den Gesammelten Schriften waren die medien- und produktionsästhetischen Interessen und Perspektiven des Künstlers und Intellektuellen Benjamin der philosophischen Generallinie seiner beiden wichtigsten Gesprächspartner Scholem und Adorno hintangestellt worden. So sind in den Gesammelten Schriften die Spuren der Auseinandersetzung verschwunden, die Benjamins „Versuch, eine Geschichte der Produktivkraft der Arbeit“ zu schreiben (wie Dietmar Dath meint47 ) bereits in den editorischen Darbietungen der zu Lebzeiten gedruckten prominenten Texte, beispielsweise der Einbahnstraße, kennzeichnen.
Benjamins Materialbehandlung verlässt die erklärend und kausal verkettende des historistischen Geschichtsschreibers zugunsten der diskontinuierlich erzählenden des kommentierenden Chronisten.48 Jedes Ding trägt „in sich die Miniatur des Ganzen“,49 wie er Leibniz’ Konzept der Monade zitiert. Dies impliziert eine intensive Reflexion auch des scheinbar Abwegigen, Unwichtigen. Die unabsehbare und unabgeschlossene Materialiensammlung und Textrezeption, die der Passagenarbeit (und deren Ziel, eine Urgeschichte des 19. Jahrhunderts zu schreiben) zugrunde liegt, ist nicht Indiz für eine ausgeuferte Sammelwut bzw. für die fehlende Kraft, das verzweigt Disparate unter eine theoretische Synthese zu zwingen, sondern will antithetische Schockmomente provozieren, wie sie Benjamin von der Ausdruckslogik der Surrealisten übernimmt und unter dialektischen Prämissen weiterentwickelt.
Die Konkretion löscht das Denken, die Abstraktion entzündet es. Jede Antithetik ist abstrakt, jede Synthesis konkret. (Die Synthesis löscht das Denken.)50
Die Differenz zwischen Essenz und Akzidenz wird nur auf den ersten Blick aufgehoben – denn der „Wahrheitsgehalt“ entzündet sich nur bei genauester, „mikrologische[r]“ Versenkung in die Einzelheiten eines „Sachgehalts“.51 Die Spannungsbögen dieser Metaphorik – Explosion da, Kontemplation dort –, sind wiederum Ausdruckssignatur für die erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophischen Bögen: Was an Ideen und Arbeit in die Dinge hineingelegt wurde, gilt es in der von Benjamin entwickelten „materialistischen Physiognomik“52 gleichermaßen zu entziffern und aus dem geschichtlichen Panorama herauszusprengen, um es in seinem Sinn nicht nur zu deuten, sondern nutzbar zu machen.
Die Aufwertung der Leistungen, die Benjamin in der Problematisierung einer Metaphysik von Werk und Zeugnis vornimmt, erfolgt in einer abstrakt als Physiognomisierung seines Schreibens zu bezeichnenden Dingbearbeitung. Adorno übermittelte dies als, vermeintliches, Zitat von Benjamin selber: „Ich interessiere mich nicht für Menschen, ich interessiere mich nur für Dinge“, habe dieser im Gespräch einmal geäußert.53 Damit sind nicht allein stoffförmige Dinge bezeichnet, sondern distinkte Wahrnehmungsakte unterhalb historischer Bewusstseinsschwellen – gemeinhin alles, was als ,Spur‘ eine philologische Erforschung innerhalb des oben beschriebenen Paradigmas notwendiger Wahrnehmbarkeit nach sich zieht. Das Verfahren bezieht seine theoretische Energie aus der gleichzeitigen Abstoßung von den beiden Polen des Historismus und des orthodoxen Marxismus. Benjamin entwickelt seine Methode einerseits aus der radikalen Verabschiedung des Historismus in der Tradition eines Droysen oder Ranke.54 Dass und wie Erfahrung nicht als vergangene abgelegt und präjudiziert werden könne, formuliert er plastisch auch in seinem letzten Brief an Adorno vom Mai 1940.
Meine Eltern machten an den Orten, wo wir auf Sommerwohnung waren, mit uns Spaziergänge. […] Wenn wir […] irgendeines der obligaten Ausflugsziele erreicht hatten, pflegte mein Bruder zu sagen: Da wären wir nun gewesen. Das Wort hat sich mir unvergesslich eingeprägt.55
Im Zuge seiner Marxismusrezeption arbeitet Benjamin andererseits auch daran, eine abstrakt-dialektische und fortschrittsfixierte Teleologie umzuformen.56 In Ursprung des deutschen Trauerspiels bildet die Ablehnung eines teleologischen zugunsten eines diskontinuierlichen Geschichtsbegriffs den Ausgangspunkt der literaturhistorischen Analysen. „Statt Weltgeschichte kausal zu beweisen, legt er das Detail aus, um es in den kreatürlichen Weltlauf einzubetten.“57 Im Weltlauf hat jeder Sachverhalt eine Geschichte für sich, die in prinzipiell unabschließbare Zusammenhänge und Kontexte eingefügt werden kann. Das Verfahren der Chronik ist deshalb geeignet, zunächst dem Vergessen und der falschen Hierarchisierung entgegenzuarbeiten. Wenn der oben zitierte Ausspruch von Walters Bruder Georg Benjamin in der Liste58 die abgeschrittenen Orte als Erlebnisse abhakt, um sie mittels der sprachlichen Phrase dem unmittelbaren Vergessen zuzuleiten, quasi emblematisch als erfahrungslos zu stempeln, „ist das wesentliche der Chronik, daß für sie auch das kleinste Dasein, sei es eines Lebendigen, eines Ortes oder einer Sache geschichtliche Einheit ist, eine Geschichte für sich hat.“59 Das geschichtliche Material liegt konkret, aber in unzusammenhängenden Bruchstücken vor; es fügt sich nicht mittels ,der Macht des guten Willens‘ (Hans-Georg Gadamer) von selbst in eine Struktur, die der ,gute Wille zur Macht‘ (Jacques Derrida) einer hermeneutischen Praxis fugenlos und in kontrollierter Anwendung einer Methodik von Teil und Ganzem herzustellen imstande wäre. Das Material kommt aber auch nicht in einer immanenten Dialektik ,zu sich selbst‘: Begriff und Sache liegen zerstreut und – so die kritische Person ihre Praxis ,richtig‘ ausübt – dennoch ,unvermischt‘60 da und harren der Nutzung. Diese ist prinzipiell diskontinuierlich, abhängig von der Ausbildung einer Methode, die im Wesentlichen als akribische Anwendung philologischer Techniken beschrieben werden kann: „Im Zentrum einer wissenschaftlichen Arbeit, die sich ernst nimmt, stehen Methodenfragen“.61 Für Benjamins Arbeitsweise wurde dies folgendermaßen gefasst:
Der genauen Textrecherche folgt eine versenkende Lektüre mit einer Technik des Exzerpierens, woraus sich Kategorien bilden, die den Stoff strukturieren. Daran verfestigen sich Gedanken und prägen sich Thesen heraus. Benjamin systematisierte mit Hilfe von Ziffern und meist farbigen Übertragungszeichen seine Archive. Es ist die Arbeit an Wissenssystemen, wie sie im Passagen-Projekt zur Reife, wenn auch nicht zum Abschluss gebracht wurde.62
5.3 Kollektive Wahrnehmung: Die ,Wende‘ im Zeichen des Anthropologischen Materialismus (mit einem Einschub zu Nietzsche)
Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, dass sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, dass sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. […] Dadurch, dass die abgeschiednen Dinge als Bilder der subjektiven Intentionen einstehen, präsentieren diese sich als urvergangne und ewige.63
Walter Benjamin
Was hier in der Diktion eines Ludwig Klages oder C.G. Jung auftritt, ist damit zentraler Gegenstand der von Benjamin geforderten materialistischen Kulturanalyse: Im Ausdruck der menschlichen Erzeugnisse und Formen wird die Kulturgeschichte als ,lesbar‘ indexiert und damit auf gesellschaftlich vergangene ,Intentionen‘ befragbar.64 Diese Bilder kristallisieren als „erstarrte Unruhe“, in der Vergangenheit für einen Moment im Augenblick der Erkennbarkeit aufblitzt und „mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte“.65 Das ist die zu politisierende Frage nach der kollektiven Wahrnehmung, die sich anschickt, Konstellationen des historisch Zerstreuten zu rezipieren. Deren geschichtlicher Zusammenhang wird für Benjamin ab Mitte der 1920er Jahre in der Erweiterung seiner zunächst kunst-, sprach- und rechtsphilosophischen Interessen zum zentralen Forschungs- und Erkenntnisgegenstand.
Anthropologische Überlegungen hatten diesen durch Lektüre marxistischer Schriften und Begegnung mit linken Kunstschaffenden und Intellektuellen angetriebenen Erkenntnisprozess vorbereitet. Dies lässt sich an einer Aufzeichnung Benjamins von 1917 nachweisen.66 Deren bildliche Dichte in der Phänomenbeschreibung und -differenzierung weist sein Verlangen nach, in den Spezifika der sprachlichen Semiosphäre anthropologische (bzw. in seiner späteren Diktion kulturelle) Ausdrucksformen aufzuzeigen und deren epistemische Kraft gewissermaßen semiologisch zu kennzeichnen. Die Notizen sind das Resultat eines brieflich mit Gershom Scholem geführten Austauschs über den Kubismus, stehen aber auch im Zusammenhang mit Benjamins Rezeption von Wassily Kandinskys 1912 erschienener Schrift Über das Geistige in der Kunst sowie der Schriften des Wiener Kunstwissenschaftlers Alois Riegl. Die Aufzeichnung stellt eine Auseinandersetzung mit Grafik und Malerei dar, hat ihre Fluchtlinie aber in der Sprachtheorie. Benjamins frühes Interesse an einer Epistemologie der Kunst und an den anthropologischen Bedingungen der Wahrnehmung spitzt sich in der Auseinandersetzung mit den Konzepten der Philosophie Friedrich Schlegels und der Romantiker auf die Frage zu, wie sich die Vermögen der Fantasie materialhaft niederschlagen. Dabei wird die Farbe zum Medium der Auseinandersetzung von kunstvoller, nicht-intendierter, in Benjamins damaliger Terminologie ,göttlicher‘ Schöpfung, gegen die ,reine‘ Konstruktion mit Linien und Formen, wie sie der Bruch mit der Zentralperspektive in der Malerei um 1910 einführt. Benjamin schlägt damit einen anderen Weg ein als die surrealistische Theoriebildung, die Ähnlichkeit als Moral eines Denkens beschwört, das sich den Dingen öffnet und sich ihnen anverwandelt: Das Ähnliche solle auf Interesse, Anschauungsformen und Kategorien verzichten, um Ding-Unmittelbarkeit herzustellen, so René Magritte. Nur durch solche privilegierten Akte intuitiven Einsseins mit den Dingen könne es gelingen, die Raster klassifizierender Denkweisen, die sich für gewöhnlich zwischen die Menschen und die Dingwelt schieben, zu durchstoßen.67
In der angeführten Erörterung Über die Malerei oder Zeichen und Mal grenzt Benjamin die Malerei als Medium des Körper- bzw. Wundmals von der Zeichnung ab, die weder ein Mal (ein körperliches Stigma) noch einen Untergrund kenne; Untergrund wird nach Benjamin in der Zeichnung ,unmittelbar‘ durch die Teilung der grafischen Linie selbst konstituiert. Während in der Aufzeichnung Räumlichkeit unmittelbar mitgegeben und die Linie damit zeichenschaffend ist (indem sie das Zeichen des Raums schafft), findet die Malerei nach Benjamins Bestimmung ihren Anspruch auf Benennbarkeit (ihren Rahmen, der sie als solche erkennbar macht) in der Komposition. Die Komposition sei der Eintritt einer „höheren Macht“ in das Medium des Mals – und diese setzt er gleich mit dem sprachlichen (,musikalischen‘) Wort. Im Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916), seiner frühen sprachtheoretischen Auseinandersetzung, wird Sprache in der Ausgestaltung der Schwelle von Menschlichem und Göttlichem in Begriffe geordnet. Der Anspruch auf Benennbarkeit ist es, der die Malerei emphatisch zur Kunstform macht und sie nicht ins Medium des Stigmas, des Mals, zurücktreten lässt. Die Komposition fasst Benjamin, ohne diesen Bezug direkt auszuweisen, als synästhetisch im Sinn der Romantik. Wort wird im weiten Sinn seiner die Menschensprache übergreifenden, von jüdischen und christlichen Konzeptionen durchzogenen ,Korporalität‘ der Sprache gefasst, ist dem Mal und dessen intrinsischem Bezug auf Lebendes verwandt, wie er schreibt. Diese ontotheologische Auffassung unterscheidet eine Sphäre menschlicher von einer Sphäre göttlicher Sprache. Letztere bildet den Sinnhorizont für die von Benjamin nie aufgegebene, wenngleich immer stärker verfeinerte messianische Geschichtsauffassung und auch für das wahrnehmungstheoretische Konzept der unsinnlichen Ähnlichkeit.
Entlang dieser anthropologisch-semiologischen Verknüpfungen gestaltet sich Benjamins Zugang zur Avantgarde und den Konstruktivisten der 1920er Jahre. Eine ,konservative‘, in weiten Teilen klassisch-romantische Form des Kritikverständnisses gerät so produktiv als Medienästhetik und schließlich als Produktionsästhetik auf die Bahn der avantgardistischen Entwicklungen, ohne deren Logik der ,tabula rasa‘ bedingungslos zu übernehmen. Insbesondere die anthropologisch-semiologischen Gedankengänge zu ,korporalen’ Schwellen der Sprache sind es, die Benjamins Blick auf die Rhetorik der Primitivismen und auf die ,Zerstörung‘ in der Materialorientierung avantgardistischer Bewegungen prägen. Benjamins entstellendes Schreiben schickt sich an, die Systemstelle der Übertragungsliebe, die autoritative Verlaufsform der Hermeneutik, in den Textkulturen des Bildungsbürgertums als kulturelles Symptom des Wertverlusts wahrzunehmen und als mediales (oder medienästhetisches) Experimentierfeld zu nutzen: Bei den kristallin-prädadaistischen Formen ,absoluter‘ Poesie, wie sie Benjamin bei Mallarmé68 wirken sieht, werden Spuren einer intraliterarischen anderen Genealogie aufgezeigt, die nicht mehr viel mit der deutschen klassisch-romantischen Konfiguration zu tun haben.
In dieser sprachästhetischen Umformung anthropologischer Setzungen bleibt aber das Problem der Übertragung und Tradierung kultureller Formationen ungelöst. Autorität ist jene Kategorie schriftexegetischer Klassik-Philologie, wie sie Benjamins Zeitdiagnose ab der Mitte der 1920er Jahre als plastische, Generationenzusammenhänge von Lehrenden und Lernenden übergreifende soziale Form entwertet sieht. Der disziplinarische Zusammenhalt Einzelner im Kulturgebilde der gemeinsamen Schule des Lesens und Diskutierens soll aber zugleich, angeregt durch die marxistische Kulturwissenschaft, in das Spezialistentum des Schriftstellers als Funktion des Produzenten69 (und damit in den politischen Parteikampf der europäischen Gegenwart) überführt werden (vgl. Kap. 5.2). Angeregt wurde Benjamin dabei von den theoretisch verwandten Suchbewegungen70 der Texte Georg Lukà cs’ Die Seele und die Formen (1911), Theorie des Romans (1916) und Geschichte und Klassenbewusstsein (1923).
Lukács’ Ausführungen über das Klassenbewusstsein lieferten eine Antwort auf die für Benjamin so entscheidende Frage nach der Rolle der Intellektuellen. Ebenso wichtig war der philosophische Aspekt des Buchs von Lukács, der der marxistischen Methode die „Erkenntnis der Gegenwart“ als Ziel setzte und durch die Bedeutung, die er der Dialektik zusprach, die Verbindung des Marxismus mit dem Hegelianismus neu bekräftigte. Mit seinen begrifflichen Schemata bot er eine Lösung für die Aporien der Kantischen und neukantianischen Erkenntnistheorie an, indem er „die dialektische Beziehung des Subjekts und Objekts im Geschichtsprozess“ ansiedelte, vermittelt durch die Einheit von Theorie und Praxis.71
Die postromantischen Verwandlungsmodi von Kunst, Kommentar, Kritik und deren Kontinuum funktionieren deshalb nicht mehr, weil das operable Subjekt des zugleich kontemplativen wie passionierten Genießers oder verallgemeinert: das Kontinuum konzentrierter Wahrnehmung abhandengekommen ist. Dies lässt sich paradigmatisch an den symptomalen hyperbolischen Verlustgeschichten feststellen, mit denen Nietzsche der bürgerlichen Philosophie und dem auf eine Schwundstufe reduzierten religiösen Glauben derselben beikommen wollte. Dass Benjamin Nietzsche in seinem Schreiben – mit Ausnahme des vielbesprochenen kurzen Fragments Kapitalismus als Religion, wo er ihn sehr schemenhaft in Gestalt des zarathustrischen Übermenschen in die Reihe kapitalistischer „Priesterherrschaft“72 aufnimmt – ostentativ ausspart bzw. als geheimen Stichwortgeber einsetzt, ist kein Zufall. Als nächstgelegener ,Kopf‘ für die Darstellung von Krisenphänomenen wird er für Benjamin zugleich interessant in der Umfunktionierung des anthologischen Mediums von einer bruchlos-typologischen Form in eine problematisierte Formung von Überlieferung. So setzt Benjamin Nietzsche als Objekt der Sorge von dessen Freund Overbeck und als stummes Schlusstableau in seine anthologische Galerie der Bürgerinnen und Bürger in Deutsche Menschen ein und bemerkt dazu lakonisch: Overbeck und Nietzsche hätten sich „freiwillig aus dem Deutschland der Gründerzeit […] verbannt“73 – ohne Nietzsches Lehre der ,Ewigen Wiederkehr‘ zu erwähnen. Diese bildet aber, wie Barbara Hahn für die Buchausgabe der Deutschen Menschen überzeugend herausgearbeitet hat, ein Strukturprinzip aus: Das Vorwort als Eingangskommentar von Benjamins Deutsche Menschen endet mit dem Zitat eines Briefs von Goethe an Zelter, worin es heißt, dass „wir die Letzten seyn einer Epoche, die so bald nicht wiederkehrt“;74 dieser umgekehrten Prosopopöie von Nietzsches Ewiger Wiederkehr folgt der direkte Aufruf Nietzsches in Benjamins Kommentar zum Brief des Fürsten Metternich an Anton von Prokesch-Osten. Zuletzt in der Briefreihe steht das Schreiben des Theologen Overbeck – abgeschickt am Ostersonntag 1883 von der Grenze außerhalb des Deutschen Reichs aus Basel –, in das sich Benjamin selbst eingezeichnet sieht.75 Die Briefe enthalten, so Barbara Hahn, ein Aktualisierungsmoment, das die Neukonfiguration des Bürgertums bei allem politischen Versagen in jedem Brief aufbewahrt sieht und das sich deshalb nicht auf die camouflierend-physiognomisierende Kontrafaktur der faschistischen Gegenwart des Jahres 1936, in dem das Buch Deutsche Menschen erschienen ist, beschränken lässt.76
In Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft findet sich das ästhetische Modell für Wahrnehmungskonstellationen, wie sie Benjamin interessieren. Dieses soll im folgenden Einschub mittels der Diskussion einiger Stellen aus Aphorismen der Fröhlichen Wissenschaft paradigmatisch verdeutlicht werden, weil so Licht auf gewisse Voraussetzungen von Benjamins komplizierten Positionsnahmen in der Genealogie kollektiver Wahrnehmbarkeit und der Umfunktionierung Anthologischen Schreibens geworfen werden kann.
Einem Gedanken Werner Hamachers folgend kann ,Notwendigkeit‘ als leistungsfähiger Ausdruck der sprachlichen Selbstbezüglichkeit gedacht werden, insofern als dieser Begriff den Prozess der Unvermeidlichkeit der (De-)Figuration im Umgang der Sprache als solcher deutlich macht. Diese Unvermeidlichkeit „besagt […] nur etwas über die Zwangsläufigkeit der Wiederholung, die sich unabhängig […] von jeder Intention einstellt“.77 Wenn Nietzsches Text als „Allegorie seiner eigenen epistemologischen Unverlässlichkeit“78 gelesen werden kann und dies der poststrukturalistischen Theorie als „Modell philosophischer Strenge“ im Modus philologischer und sprachtheoretischer Sensibilität gilt,79 so erscheinen die polýtropoi als besonders geglückte Verdichtung. Als „unbedenklichste“80 vielfache Wendungen tragen sie in ihrem Wortsinn – ebenso wie der römische Gott Janus als personifizierte Allegorie, der an prominenter Stelle dem vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft als (Unter-)Titel dient – die ewige Wiederkunft und den ewigen Wechsel von Gestaltwerdung und Defiguration. Der Tropus verweist auf die Tropik, ,blickt‘ also, um im Bild zu bleiben, in jeder seiner Wendungen auf die rhetorische Strukturiertheit der Sprache und deren ,Logik‘ der Bedeutungsdispersion. Dass ausgerechnet polýtropoi als einziges und auch noch im Plural auftretendes Wort in der Fröhlichen Wissenschaft als gewissermaßen griechisches ,Wortbild‘ dargestellt und damit besonders herausgehoben ist, verdeutlicht das Insistieren auf die Wendung zur Bildlichkeit als impliziter Fremde des Schriftsinns. – Die polýtropoi zeigen in der etymologischen, semantischen und intertextuellen Überdeterminiertheit deutlich, wie in der Fröhlichen Wissenschaft ,Leben‘ und ,Wahrheit‘ als philosophische, begrifflich stabilisierte und systematisierte Konzepte dekonstruiert werden und Wahrheit als das Transfigurierende gestalteter Sprache auf deren Stelle zu rückt. Rhetorik als ,Leben‘ produktiven Aufschubs und Unentscheidbarkeit des Bedeuteten ist im Bild der unbedenklichsten vielfachen Wendungen (und [Still-]Stellungen81 ), die im einzigen griechisch gesetzten Wort der ganzen Fröhlichen Wissenschaft ,verschwinden‘, niedergelegt.
Im Aphorismus Reiz der Unvollkommenheit82 kehren sich selbstreferenzielle und transfigurative Effekte deutlich hervor – die Dichtung wird thematisch und tritt motivisch in ein Verhältnis zu ihrem Vollzug.
Sein [des Dichters, F.S.] Werk spricht es niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte, was er gesehen haben möchte: es scheint, dass er den Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und niemals sie selber: – aber eine ungeheure Lüsternheit nach dieser Vision ist in seiner Seele zurückgeblieben, und aus ihr nimmt er seine ebenso ungeheure Beredtsamkeit des Verlangens und des Heisshungers. Mit ihr hebt er Den, der ihm zuhört, über sein Werk und alle Werke hinaus und giebt ihm Flügel, um so hoch zu steigen, wie Zuhörer nie sonst steigen: und so, selber zu Dichtern und Sehern geworden, zollen sie dem Urheber ihres Glückes eine Bewunderung, wie als ob er sie unmittelbar zum Schauen seines Heiligsten und Letzten geführt hätte, wie als ob er sein Ziel erreicht und seine Vision wirklich gesehen und mitgetheilt hätte. Es kommt seinem Ruhme zu Gute, nicht eigentlich an’s Ziel gekommen zu sein.83
Der zwischen dem physiologischen und dem ästhetischen Modus schillernde „Reiz“ markiert die Unentscheidbarkeit des hier Verhandelten – die Frage, in welcher Konstellation und zu welchem Zeitpunkt und für wen sich die Vision eröffnet bzw. kunstpsychologisch gewendet hat: welches die Bedingungen sind, damit Schaffenskraft überhaupt materielle Resultate zeitigt. Diese Suche nach und der Versuch der Benennung des Erhabenen des schriftstellerischen Werks verwirrt sich in der Ungleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption bzw. umkreist den unmöglichen Moment, in dem die stillgestellten Textzeichen eine gegenwärtige Gemeinschaft von Schreibendem, Werk und Leserschaft suggerieren könnten. Text als plane materielle Zeichenfläche saugt alle unmittelbar denkbare Identität und Gleichzeitigkeit eines „Schauen[s] seines [des Autors, F.S.] Heiligsten und Letzten“ und der Erfahrung der Lesenden sich auf: Die Beziehung des Dichters (der sich zum Sänger verwandelt) zu seinem Leser, der ein Zuhörer wird, ,glückt‘ nicht in einem Moment intersubjektiven Verständnisses, das in der vollen Gegenwärtigkeit des (an die Stimme gebundenen) Austauschs sich vollziehen würde – sondern stellt sich als erhabener Vor- auf der einen und Nachgeschmack der Vision auf der anderen Seite ein. Die Vision hat ihren Ort, wenn überhaupt, im geschriebenen/gelesenen Text, der den erhabenen, aber leer bleibenden Schau- und Hörplatz ,fest-stellt‘: Das intensiv gemachte Wortfeld des Schauens/Sehens und Hörens kündigt vom physiologischen und ästhetischen Reiz der „Vision“; die hyperbolische Reihe hingegen84 kippt unversehens am Schluss in den Konjunktiv II, der Irrealität markiert. Im futurum exactum der bildhaften Erinnerung wird dieses Kippen seinerseits für einen Moment stillgestellt („Vision wirklich gesehen“).
Dieser Ausdruck steht in seiner temporalen Schichtung in einem komplexen Verhältnis zum „Vorgeschmack einer Vision“, die der Dichter in der Realisierung des Werks tatsächlich „gehabt hat“. Die „Vision“ bezeichnet nicht nur die wahrnehmungsgebundene Passage zwischen Wachzustand und Traum, oszilliert wiederum zwischen dem physiologischen und dem ästhetischen Feld, sondern friert das ,aktive‘ und von vielfältigen Momenten abhängige Sehen im allegorischen Bild ein. Das adverbiale „wirklich“ als Dazwischen-Gestelltes ist ein doppelt, ein ,von beiden Seiten‘ Gesehenes, das sich mitunter erst als nachträglicher Effekt, als ein Da-Zwischen wirklich eingestellt haben wird. Das Erhabene der Vision, soviel lässt sich absehen, wird als Wahrheit des Textes ökonomisch ausgestellt – bleibt aber unverfügbar; da zwischen Autorschaft, vortragender Person und Leserschaft.
Die Wahrheit, die der Text für sein Gestaltet-Sein in Anspruch nimmt, erscheint in solch konvexen Figuren. Diese sind erst in den Rekursionen des Texts feststellbar; in dem, was zu lesen gewesen sein wird. Das, was zu sehen gewesen ist, das „Heiligste und Letzte“, wird aufgerufen, unverfügbar gemacht, übersprungen – es fällt mit der Experimentalsituation des Texts zusammen. „[N]icht eigentlich an’s Ziel gekommen zu sein“, ist der tatsächliche Reiz der Unvollkommenheit. Dieses [V]Erkennen, das der Text ironisch gegen sich auszuspielen scheint („sein Werk spricht es niemals ganz aus […], was er gesehen haben möchte“), eröffnet das Feld, auf dem die Transfigurationen einsetzen. Und der Nenner der Bedeutung, der Stachel der Bedeutung, der auf die Zuhörenden übertragene „Heisshunger“, wird durch jenes beständige Transfigurieren, das diese selbst zu Dichtenden und Sehenden gemacht hat, angereizt – oder stillgestellt. Der Text setzt den Moment der Wahrheit als allegorische Erhabenheit, die nicht erreichbar, aber erkennbar ist – als Textbewegung selbst.
Diese unabsehbar repräsentierte Dauer in der Textrekursion und in den damit gesetzten verabsolutierten ästhetischen Ansprüchen wird für Benjamin zunehmend mit der bei Kant notorischen Erfahrungsarmut und dem Entzug von politischer Positionssetzung gleichgesetzt. Nietzsche als ,historischer Mensch’ (vgl. Kap. 5.3–5.4) fällt der von ihm diagnostizierten Barbarei des Historismus selbst zum Opfer – als heroischer Intellektueller, der von seinem Freund, dem Theologen Overbeck, sorgenvoll zurück aufs bürgerliche Gymnasialkatheder gerufen wird. Mit der im Overbeck-Brief abgeschlossenen Reihe der Deutschen Menschen stellt Benjamin die politische Ambivalenz des Bürgertums in seiner Nivellierung der Bildungsinstitutionen ebenso offen aus wie er die offene Frage stellt, was ein Zarathustra als Prototyp des Gymnasiallehrers in genau jener Generation von Lernenden angestiftet und angerichtet hat, deren Ideale in der Jugendbewegung im exterminatorischen Weltkrieg zugrunde gehen – bzw. die so weitgehend begeistert in diesen Weltkrieg marschiert ist, um danach, in der Formulierung Hofmannsthals, von den Alten ermordet zu werden.85
5.4 Von der Erdverhaftung zur Begriffsperson: Die Umfunktionierung der Anthologie
Benjamins komplizierte dialektische Umwendungen des anthropologischen Materialismus und der (neo-)kantischen Begrifflichkeit der Erfahrung entfernen sich zunehmend von Subjekt-Objekt-Schematismen. Im Rückgriff auf die frühaufklärerischen materialistischen Grundlegungen der Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis bei Gottlieb Alexander Baumgarten, der von Leibniz den Begriff der confusio (Verwirrung) übernommen hatte, ist bei Benjamin das Subjekt nicht mehr
das Definiens der sinnlichen Erkenntnis, sondern dient als Beschreibung eines bestimmten Wahrnehmungsvollzugs, der an ein Kollektiv und nicht an ein leibgeistiges Subjekt gebunden ist.86
Dieser Wahrnehmungsvollzug bleibt bei Benjamin eine messianisch unterbaute ,Aufgabe‘, kein objektiver Tatbestand. Das zeigt sich etwa an seinen Überlegungen zum Film im Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Nicht die Rezeption von spezifischen Filmen interessiert ihn, sondern das Kino als Ausdrucksform der Operationalisierbarkeit einer neuen Massenwahrnehmung: Lichtreflexe im Dunkeln, die im gemeinsamen Testfeld von Kamera und Schauspielerkörper entstanden sind, treffen auf Zuschauerinnen und Zuschauer, deren Wahrnehmungsorgane sich erst ganz allmählich an diese technische Form gewöhnen und dementsprechend diese politisch erst noch aneignen müssen. – Eine nicht technizistisch verkürzte, von der Differenz verschiedener Zeit- und Wahrnehmungsmodi geprägte Medientheorie,87 die sich noch fast hundert Jahre nach ihrer Entstehung als produktiv erweist.
Geistestechnische Funktionsbilder exponieren den historischen Index dieses Wahrnehmungsvollzugs im Kollektiv. Der romantischen Ironie und ihrem Verabsolutierungsanspruch, dem er in seiner Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik kritisch begegnet, stellt Benjamin Sprach(hohl)formen wie den Witz und die Satire entgegen, die im Übergang zur Reklame im Frühkapitalismus einen historischen Index ausstellen: Die Ausbreitung der ironischen Sprachformen kongruiert mit der gesellschaftlichen Durchsetzung des geldförmigen Warentauschs. An den Kupferstichen von Grandville, am Sprachwitz in der von ihm 1929 zusammengestellten kleinen Anthologie Gedanken und Gesichte eines Geköpften von Antoine Wiertz88 und besonders an den utopischen Fantasien des Frühsozialisten Charles Fourier setzt Benjamins Formanalyse an. ,Echte‘ Beobachtung obliegt der geschichtlichen Konstruktion, die sich in der Probe, so Benjamin in einem kurzen Text mit dem Titel Einmal ist keinmal,89 auf den aktuellen Preis eines figürlichen Potenzials, einer rhetorischen Anlage, einer literarischen Form ergibt.
Dieser Diskurs verbindet sich in Benjamins Schriften zunächst mit apokryphen Zitaten der Klassiker Goethe und Jean Paul, an deren „unbegriffenen“ Stellen Benjamin kulturanalytisch ansetzt, indem er etwa von Goethes Produktionsbedingungen in seinem Schreibzimmer am Marktplatz von Weimar ausgeht.90 Im Exil ab 1933 verlegt sich diese Auseinandersetzung teils notgedrungen, teils inhaltlich bedingt, auf französische Quellen. Der Schriftsteller Paul Scheerbart figuriert als Transferfigur: Benjamins Hochschätzung für Scheerbart nimmt dabei die Form einer Übertragung von dessen architektonischen Fantasien auf den Bereich des Politischen an bzw. verbindet Spekulationen einer Befreiung des Menschen in einer zweiten Technik mit Esperanto-Sprachen und -Namen, die in Scheerbarts Prosa ein auffälliges Merkmal sind. Mit der Verschiebung auf eine materialhaft anschauliche Form der Geschichtsschreibung und der historischen Apokatastasis91 politischer Utopie (als Erlösung gebundener Potenziale historischen Leids und deren Befreiung in der Geistesgegenwart) richtet sich Benjamins Interesse an Scheerbart in späteren Jahren stärker auf die Bedeutung von dessen Ankündigung einer Glaskultur, mit der sich die menschliche Kultur durch das Umschaffen ihrer räumlichen Milieus völlig verändern werde, wie es in dessen Traktat zur Glaskultur heißt, der 1914 vor Ausbruch des Weltkriegs erschienen war.
Ab Ende der 1920er Jahre sind es im weitesten Sinn räumliche Umstände, seien es solche von historisch-sozialen Personen- oder Dingtypen – die Straße des Flaneurs, die Bibliothek des Sammlers, die Mode des Dandys, der Traum des Drogenkonsumenten, das Gewand des Buchs, die Type des Buchstabens, die Stellung der Handschrift –, die an der kunstphilosophischen Systemstelle von Kritik und Kommentar (und deren aporetischen Wechselwirkungen) eine medienästhetische Einsatzstelle historisch-singulärer Analysen nach sich ziehen. In nachgelassenen Aufzeichnungen zur Anthropologie notiert sich Benjamin folgende Arbeitsdefinition: Architektur sei der Kanon aller Hervorbringungen, die Sprache der Kanon aller Wahrnehmung.92 Die aphoristische Setzung bezeichnet eine grundlegende distinkte Zuordnung von funktionellen Begriffen:93 Die Ordnung der Architektur ist in der ästhetischen Tradition die Variable menschlicher Hervorbringungstechniken.
Entscheidend für die von Benjamin angestrebte Form der Geschichtsdarstellung ist nun, diese räumlichen Formen nicht metaphorisch, sondern funktional in Wert zu setzen. Indem sich Technik- und Sprachdenken zu historisch variablen und zugleich distinkten Hervorbringungs- und Wahrnehmungsformaten entwickeln, bildet die Vorstellung der Geschichte – kulminierend im Kunstwerk –, ein Zeitdenken, dessen ,frühe‘, ,vollreife‘, ,späte‘ Ausformungen dem Forscher analytische Zugänge für historisch nachprüfbare Aussagen bieten. Die gleichzeitig bei Benjamin insistierende Anstrengung an seinen begrifflichen Konstellationen wie seine flexible Handhabe einzelner Begriffe (so Kritik, Aktualität, Ausdruck, Geschichte, Rettung, Gerechtigkeit usw.) ist kein camouflierendes Jonglieren, sondern ein methodisches Ernstnehmen der Tatsache, dass Begriffe nicht nur zeitlicher Ausdruck ihrer Festlegung und ihres Gebrauchs sind, sondern selbst in ihrer Semiosis auch ,Wahrnehmbarkeit‘ für die Rezipierenden entwickeln. Die normativen Teilungen kulturgeschichtlicher Exegese werden selbst noch einmal (und immer wieder) interpoliert und somit ihr Prinzip der Unterscheidung auf sie selbst angewandt: Das ist die Form kulturgeschichtlicher ,Kritik‘, die an Benjamins Kritikbegriff aus dem Wahlverwandtschaften-Essay anschließt. Beschrieben wird so eine Rhythmik von Negationen, die in jede Position wieder ihren hegelischen „wesentlichen Unterschied“ einführen.94 Jan Urbich resümiert diese unabschließbar-dynamische Erkenntnisbewegung in Bezug auf den Zusammenhang der Wortkunst Literatur und der Kultur so: „Durch Literatur und Kunst fängt Kultur immer wieder bei sich selbst an und kommt so über sich hinaus.“95
Dies ließe sich wohl in besonders ausgeformter Weise in den Aphorismen der Einbahnstraße nachvollziehen. Benjamin verknüpft darin ein Denken sprachtheologischer Unvermitteltheit mit der anthropologisch-kosmologischen Spekulation eines ,neuen Menschen‘ als jenes ,Bürgers‘, der erdverhaftet auf einem Planeten steht, nicht nationalistisch-imperial auf deutschem oder französischem Land – und in dieser gedanklichen Reise vom Zustand nietzscheanischer Krankheit des Machtwillens ,gesunden‘ kann, wie es in offensichtlicher Anspielung in den ausleitenden Sätzen der Einbahnstraße heißt. Der allerletzte Satz des Buchs nähert sich wiederum in äußerster Ambivalenz, gleichsam im Donner eines zur Wiederkehr verdammten monotheistischen Gottes noch einmal an Nietzsches Rhetorik an, um – gleichermaßen in der Umkehr der christlichen Trias von Schaffung, Offenbarung und Erlösung – in der Reihe von „Taumel“, „Vernichtung“, „Lebendiges“, „Rausche“ und „Zeugung“ abrupt abzubrechen.96
Was nun aber, wenn die Rezeption im Akt der Zerstreuung geschieht, nicht im Akt der Konzentration vollzogen wird? Der zerstreute, kollektive Wahrnehmungsvollzug lässt nicht allein ganz neue ,historische Aufgaben‘ (z.B. in der Vorstellung der Organisation von Produktion und Rezeption) entstehen und verändert damit den Begriff des Kunstwerks (auch in dessen historischer Erforschung) – er bietet auch eine verwandelte Perspektive auf die persona der Kunstschaffenden bzw. das künstlerische Werk. Aus einem Synonym für eine kontemplativ vorgenommene, konzentriert erarbeitete Auswahl des ,Besten’ (im Sinn des dahinterstehenden künstlerischen Subjekts) wird das paradigmatisch in die zerstreute Rezeption der Zeitung ausgesetzte Anonyme oder Begriffsfigürliche. Benjamin erprobt das in der anthologischen Feuilleton-Reihe der Briefe in der Frankfurter Zeitung als ein Anthologisches Schreiben, das nicht mehr dem Muster der Anthologie des 19. Jahrhunderts folgt (vgl. Kap. 2.1).
Im Spätwerk Was ist Philosophie? von Gilles Deleuze und Félix Guattari wird die philosophische Begriffsperson von den soziologischen Denkformen wie folgt unterschieden:
Die einen sind Begriffsvermögen, die anderen Affekt- und Perzeptvermögen. […] Im philosophischen Aussageakt tut man nicht etwas, indem man es ausspricht, sondern man macht die Bewegung, indem man sie denkt, vermittels einer Begriffsperson. […] Der Philosoph ist die Idiosynkrasie seiner Begriffspersonen, nicht deren abstrakte Personifizierung.97
So sei bei Nietzsche Dionysos kein erschaffener Mythos oder ein Produkt dichterischer Fantasie, sondern eine zum Leben gebrachte Figur, mit der, in der dritten Person, gedacht wird. Indem Benjamin Stefan George, Paul Valéry oder Nietzsche begriffsfigürlich instrumentiert, lassen sich deren in Prosa und Lyrik niedergelegte historisch gebundene Wahrnehmungsformen kulturanalytisch auf die Zeit hin versinnlichen, in der sie gelesen werden, ohne dass in intensiver Interpretation der geschichtliche Horizont einer Produktions- und Rezeptionslogik gänzlich verlassen würde (vgl. Kap. 4). Das Anthologische Schreiben ist dabei nicht bloß eine handhabbare Geste, da traditionell durch eine Logik der Repräsentation und der Typik bestimmt und in personalen Evidenzeffekten (,Das Beste von Goethe‘ usw.) vermittelt, sondern stülpt und bricht die wiederaufgelegten Stimmen intertextuell zum Material neuer Produktion.
Solchen Möglichkeiten der ,Umfunktionierung‘ (Bertolt Brecht) kommt Benjamin Ende der 1920er Jahre im Schreiben an (anthologischen) Sammelprojekten und von Denkbildern auf die Spur. Eine erste philologisch interessante Verwendung des Begriffs Anthologie im Zusammenhang kollektiver Wahrnehmung findet sich in seinem Bericht über die Verfilmung von Wilhelm Speyers Jugendroman Der Kampf der Tertia 1928. Benjamin plädiert dafür, die Massenszene aus der Tertia-Verfilmung in eine „Anthologie der kinematographischen Verfolgungen“98 aufzunehmen. Es wird also eine mediale Transformation in Anschlag gebracht, die den Wahrnehmungs- und Gebrauchsbedingungen des damaligen Kinos widerspricht. Die in der Ordnungsleistung eines Autors aufgehende Anthologie kann sich, bezogen auf das Medium Film, erst im potenziell integralen digitalen surface des 21. Jahrhunderts erfüllt haben. Das Beispiel – die einzelne Massenszene – kassiert als Geste das Werk bzw. den Zusammenhang des einzeln komponierten Gebildes zugunsten eines verwertbaren Einzelnen oder Vereinzelten, das aber nicht mehr als Beispiel fungieren kann, sondern erst einer zukünftigen Potenz entspricht, hier: der Potenz, verschiedenste Filmszenen simultan aufzurufen und zu betrachten, um darin historisch einschlägige Differenzen der Wahrnehmung erkennbar werden zu lassen. Es ist dabei das politisch imprägnierte Bild einer Menge in Aufruhr, das Benjamin als monumentale archivierte Geste herausgelöst und in neue künstlerische Zusammenhänge einsortiert sehen will.99
Komplementär zu dieser Begriffsverwendung findet sich im selben Jahr (1928) in Benjamins Besprechung von Rudolf Borchardts Anthologie Der Deutsche in der Landschaft (vgl. Kap. 6) ebenfalls ein am Traditionsmedium Anthologie aufgerufenes medial-visuelles Dispositiv: „mit einem Griff des Auges“100 erkennbar ist, gemäß Benjamin, die von Borchardt auf den Höhepunkt getriebene Ideologie einer spezifisch ,deutschen‘ Anthropologie der Landschaftserfahrung.101 Solche an medienästhetischen Einsatzstellen ansetzende zukünftige Potenzen übertragen das die Anthologie bestimmende formale Verhältnis von Beispielhaftigkeit und Repräsentativität auf ein Verhältnis gattungsgemäßer und gattungstranszendierender Produktion.
Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen Umschreibungen möchte ich im Folgenden den Blick noch einmal verstärkt auf die Projektierungen und literarischen Denkbilder und damit konkret auf den ästhetisch-literarischen Produktionsprozess Benjamins richten. In der Vorrede für die 1921/22 geplante, aber nie realisierte Zeitschrift Angelus Novus102 umschreibt Benjamin das Verhältnis, das der schriftliche Ausdruck in der Form der Zeitschrift zur Aktualität annehmen kann, als ephemer: „Wahre Aktualität“ könne mit dem Projekt einer Zeitschrift einzig umworben, nicht angestrebt werden. Die Schriftform stehe in einem Grenzverhältnis zur Wirksamkeit von Aussagen. Aktualität erscheine als relativer und zugleich an „Wahrheit“ gebundener Begriff. Dies zeichnet sich an Benjamins Verhalten als Autor seiner frühen Schriften ab, deren Umlauf und Verbreitung er – vermittels pseudonymer Autorschaft und der Beschränkung auf Freundeszirkel – zu kontrollieren sucht. Es erscheint daher folgerichtig, dass dieser sprachphilosophisch-rezeptionstheoretische Konnex direkt zur Sprache kommt, wo Benjamin als Autor und Herausgeber den Diskurs der Aktualisierbarkeit im materialen Medium der (projektierten) Zeitschrift selbst thematisiert. Weitreichende formale Überlegungen zur typografischen Einrichtung und Erprobungen schrifträumlicher Varianten in der Zeitschrift (etwa in der Einteilung von Abhandlungen, Rezensionen und literarischen Beiträgen) bestimmen seine mehrjährigen Vorarbeiten zum Angelus Novus.103 Diese Rückkehr von Benjamins aktivistischem Engagement, das er mit Beginn des Ersten Weltkriegs abgelegt hatte, zeigt sich in allen Zeitschriftenprojekten. „[T]he impulse to symposium – the gathering of like-minded thinkers and writers – was an inextinguishable propensity of his philosophic sensibility.“104
Benjamins Ankündigung des Angelus Novus will über die Rechenschaft der Form Vertrauen in den Inhalt schaffen. Wahre Bestimmung einer Zeitschrift sei, den Geist ihrer Epoche zu bekunden, was durch die sachliche, nicht stoffliche Universalität ihrer Themen möglich werde. Dem Herausgeber als Hüter der Kritik, als höchstem Kritiker, wird damit zum einen eine enorme Geltungsmacht zugesprochen – zum anderen, und das ist kulturanalytisch interessanter und weiter bearbeitbar, wird die Rechenschaftspflicht des Herausgebers zum symptomalen Zeichen der gesellschaftlichen Krise. In Bezug auf die typografische Einrichtung sollen die Kritiken und Rezensionen nicht das „Kainszeichen“105 tragen und in den Rezensionsteil verbannt werden. Benjamin korrespondierte monatelang mit dem Verleger Richard Weissbach über die Typografie, Druckproben wurden im Vorlauf der ersten Ausgabe des Angelus Novus hin- und hergesandt.106 Auch die Auswahl von Dichtung sei sachlich unbeschränkt, aber an die deutsche Sprache gebunden. Der Index des Sprachbewusstseins der Gegenwart wird negativ angelegt: Strategisch-polemisch richtet sich Benjamin explizit gegen die „Gewaltsamkeit“ der neuen Hymnikerinnen und der Expressionisten, denen er „Nachäfferei“ des malerischen Expressionismus vorhält. Auch Übersetzungen haben ihren Platz in der angedachten Zeitschrift, da sie die Krisen der deutschen Sprachgeschichte seit jeher heilsam begleitet hätten.
Der Herausgeber fühlt sich mit allen Beiträgen „verwandt“;107 das Publikum dürfe kein Gefühl entwickeln, das jenseits dessen stehen würde. Andererseits müsse jede unaufrichtige Verständigung, Begünstigung und Gemeinschaft der Mitarbeiter der Zeitschrift fernbleiben, sie dürfe nicht das Forum einer sektiererischen Verkettung oder eines Betriebs werden. So ist die Schnittstelle des Herausgebers die Schwelle zur (Selbst-)Kritik. Damit versucht Benjamin im Medium der Zeitschrift ein Lebensmodell zu vollziehen:
And thus his stated ,policy‘ of preventing, whenever possible, extended contact between his friends, the better to preserve each individual or group as a sounding board of ideas. Within this shifting field of operations, Benjamin conducted himself from an early age in such a way as to realize ,the many modes of existence inherent in [him]‘.108
Die Komposition, die im Namen des Angelus Novus ihren Ort hat, soll der Ephemerität der Zeitschrift als Institution der Freundschaft mit kleinstem Publikum Ausdruck verleihen. Empfängnis und Vergängnis als prekäre (Geburts-)Orte für Geschriebenes, für geschriebene (und wieder fallende) Blätter: so versteht Benjamin Mitte der 1920er Jahre die „wahre Aktualität“ oder anders: die Aura eines ,echten‘ Verhältnisses der Epoche, der Phänomene zu ihrer (nur krisenförmig bzw. revolutionär zu denkenden) Aktualität. Die Zeitschrift wird ihm dabei zum bevorzugten Medium. Im Text Analysis des deutschen Verfalls, auf dem Höhepunkt der Inflation der Reichsmark 1923 geschrieben, notiert Benjamin, der zu dieser Zeit wie getrieben in Deutschland herumreist, die Charakteristik einer „musterhaften Zeitschrift“ in drei Merkmalen: „Unverständlichkeit – um nicht den Hass der Barbaren herauszufordern“ / „Kürze – um ihnen vernehmbar zu werden / „Rhythmik – um die Autorität des gebieterischen Worts vor ihnen zu vertreten.“109
Die Zeitschrift als Gegenmodell gegen die entwertete anthologische Blütenlese als verschlepptem Abgesang und Fälschung (Entpolitisierung) der Klassik wird für Benjamin zum Modell in der, ja gar zur Form der Krise. Während der Inflation 1922/1923, aber auch während der politischen Erschütterung der Weimarer Republik nach der Weltwirtschaftskrise und der Destabilisierung der parlamentarischen Demokratie durch Notstandsgesetze und Pressezensurbestimmungen 1930/1931 sowie während des Exils in Paris und angesichts der offensichtlichen Kriegsgefahr für Europa 1938: Zu diesen Zeiten beschäftigt sich Benjamin konzeptionell am intensivsten und immer im Austausch mit Intellektuellen und Verlegern mit der Form und der Neugründung von Zeitschriften. Wo sie nicht als falsche Schimäre tagesaktueller ,Informiertheit‘ verstanden wird, heißt Aktualität für Benjamin, wie die Thesen Über den Begriff der Geschichte in aller Schärfe zeigen, nichts anderes als Krisen (-wahrnehmung) – und ist damit Geburtszeichen für etwas Neues, mag es noch so klein und unscheinbar sein. Welche Gestalt dieses Neue annimmt, darin wird der historische Materialist lebenslang theologisch-kunstphilosophische, messianisch-revolutionäre und spontaneistisch-anarchistische Intentionen und Affinitäten in ultimative Funktionsbilder zu integrieren suchen.
5.5 Überlieferung bedingt eine neue Gestalt: Aus Kritik wird Krise, aus Konstruktion Folge
Als Gradnetz der Kritik fungiert der Herausgeber; er ist der Komponist der Form der Kritik, die die Zeitschrift hervorzubringen hat. Der Nachweis der ephemeren Aktualität liegt damit in der Komposition. Wörtlich als Zeit-Schrift ist deren einzige Bedingung in Benjamins messianischem Denken zu diesem Zeitpunkt die Hervorbringung eines solchen Zeitbilds – der Geburt einer Form(ung) der Gegenwart in der Zusammenstellung kritischer, übersetzerischer, essayistischer Beiträge zu Zwecken der Überlieferungsbildung. Ausgeschlossen sein soll die hieratisch-autoritäre ,Verwaltung‘ eines öffentlichen Sprach- oder Gedankenguts in der Zeitschrift, wie Benjamin sie den Zeitschriftenprojekten Borchardts und Hofmannsthal vorwirft. Eine bloße Verwaltung, Instrumentalisierung der Intelligenz zu unaufrichtigen Zwecken würde sich, in Benjamins Konzeption, bereits in dem Moment durchsetzen, wo die Mitarbeitenden der Zeitschrift sich jenseits der gemeinsamen Bezugnahme auf Thesen und einen fachmännischen Anspruch verbünden und damit die Zeitschrift zu einem Verwaltungsort ihres Bündnisses, zu einem Betrieb, umgestalten.
Benjamins Überlegungen und Thesen zur Form der Zeitschrift münden in die folgende Entscheidungsfigur: „Restloser als seit Jahrhunderten fällt die Krisis der deutschen Dichtung zusammen mit der Entscheidung über die deutsche Sprache selbst“.110 Die Zeitschrift sei das Gefäß, ,Rationalität bis ans Ende’ zu realisieren. Die Ankündigung zur Zeitschrift Angelus Novus endet mit der für die Benjaminrezeption notorisch gewordenen Pathosformel, die auf die kabbalistische Legende der Engel Bezug nimmt.111 Ephemere Aktualität gebe es nur in den rasch verfliegenden Stimmen, die ihre Ankündigung vor Gott singen und dann vergehen – Ephemerität als „gerechter Preis“ fürs Einfordern geschichtlicher Aktualität – „dass der Zeitschrift solche Aktualität zufalle, möge ihr Name bedeuten.“112 Dieses starke Bild ist einer der wichtigsten Ausgangspunkte für die spätere Passagenarbeit Benjamins: die spezifische Vergänglichkeit menschlicher Erfahrungen in der kapitalistischen Moderne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf den Begriff zu bringen.
Die Zeitschrift Angelus Novus ist ebenso an diesem überzogenen Anspruch wie an den äußeren Bedingungslagen (Papiermangel während der Inflation) gescheitert. Die enorme Bedeutung, die Details und Nuancen der Zeitschrift als einem materialen (Einrichtung der Typografie, Buchkunst etc.) und medialen (Kompositeur) Ort der Krise zukommen, gestaltet sich in Benjamins nachfolgender Produktion allerdings zu einer griffigeren Beobachtung aktueller Bedingungslagen, in denen das kritische Wort steht und fällt.113 Die Beobachtungsperspektive richtet sich entsprechend danach aus, ob die Entscheidung über die Aktualität der Sprachkrise und ihre kritische Brechung im Medium ,richtig‘ und ob sie im ,richtigen‘ Medium hervortritt: Die erkenntnistheoretische Funktion der Leibniz’schen Monade (Miniatur des Ganzen) und das ihr korrespondierende Bild des Fensters bzw. der Fensterlosigkeit wird von Benjamin in unterschiedlichen Figurationen (Puppe, Zwerg, Kind, bucklicht Männlein – aber auch Kästchen, Strumpf, Wald oder Park) aufgerufen.114
Benjamins Buch Einbahnstraße, 1928 erschienen, orientiert sich am „Buchkinema“ der Publikationen im Umkreis von Bauhaus und Werkbund.115 Die damit verbundenen geistespolitischen Vorstellungen Benjamins kulminieren im ersten Wort, das den Aphorismen den Weg in diese „technisch vorzüglich gestaltete“ Einbahnstraße (so Benjamins Urteil zur Buchgestaltung des Fotografen Sasha Stone) weist: Die ersten beiden Wörter der Textreihe lauten „Die Konstruktion“.116 Die Textsammlung verknüpft „Aphoristik und Anthropologie“117 und ist ein Versuch, die Erfahrungslosigkeit der Aktualität der deutschen Inflation, des Zusammenbruchs des Geldwerts, nicht nur analytisch als Beobachter produktiv zu machen und damit methodisch, als philosophischer Zeitdiagnostiker, unbeteiligt zu bleiben, sondern in der Konstruktion eines Verlusts des Alleinstellungsmerkmals, der Theologizität der Schrift, eine andere Genealogie einzuführen.
Wo der im Geld verkörperte Wert mit der Nachkriegsinflation der Mark seinen symbolischen Zusammenbruch erlitt, hatte sich bei Mallarmé in der grafischen Spannung des Inserats, im Aufstehen und Undurchdringlichwerden der Schrift, die Parole einer eigenständigen Wertgröße kennzeichnen lassen. Die Einbahnstraße ist als Versuch zu lesen, die Inflation von Gemeinschaftswerten noch einmal in der Höhe des (entwerteten) Schriftgelehrten oder – propheten zu verkünden – und damit die in Benjamins Begriffsbildung beschriebenen Widersprüche zwischen Autorität, Erfahrungstradierung und Kollektivwahrnehmung im Sinn der Entfaltung kultureller Energien zuzuspitzen, nicht allein analytisch zu beschreiben.
Von Thesen in einem Satz, die antithetisch auf einer Seite zu liegen kommen, bis zur Form eines Traktats als Reisereportage; von den durch Kurztitel unterteilten Aphorismen in mehreren Sätzen bis zur Glosse, die in etwa die Länge einer Zeitungsspalte einnehmen könnten, bildet der Text der Einbahnstraße den Versuch, die Medialität der Beobachtungsposition (einer Diagnoseposition ohne irritierbares Auge) und die Produktivität des Technikmenschen, des philologisch geschulten schriftgelehrten Lehrenden und Lernenden am Text, ohne Besinnung auf ein Außerhalb, auf die ,Straße der Aktualität‘ zu zerren, die definitionsgemäß keinen gesicherten Standort zulässt. Die konstruktive Zugeschnittenheit der entwickelten Theoreme, die Beweglichkeit der Titel als bildstarke und abstrakte, gewissermaßen die ,Informiertheit‘ einer Schlagzeile suggerierende Schlagworte ließe eine serielle Rekonfiguration zu.
In der Einbahnstraße kommt dem Bezug auf Mallarmé ein ähnlich großes Gewicht zu wie jenem auf Goethe – es sind, neben Proust, die beiden einzigen Schriftsteller, die „in dieser analytischen Erfahrungskunde der Moderne“118 mit ihren Namen gewürdigt sind. Mallarmé wird zum einen im Stück Nr. 13 zitiert, das den Umgang mit Büchern und sich prostituierenden Frauen parallelisiert, zum anderen im Stück Vereidigter Bücherrevisor als Untergangsprophet des Buchs bezeichnet. Benjamin schlägt einen historischen Bogen von der Erfindung der Buchdruckerkunst und Luthers Bibelübersetzung bis in die Gegenwart der 1920er Jahre, in der die Schrift „unerbittlich von Reklamen auf die Straße hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirtschaftlichen Chaos unterstellt“ wird.“119
Was Benjamin in seiner Rezeption von Mallarmés Coup de Dés im Jahr 1919 ungedeutet gelassen hatte, erschloss sich ihm später als medientechnische Rahmung: Schrift ist, in medialer Konkurrenz zur Musik, als grafische Spannung des Inserats ins poetische Schriftbild verarbeitet. Mallarmé habe im Coup de Dés in der „kristallinischen Konstruktion seines gewiß traditionalistischen Schrifttums das Wahrbild des Kommenden“ gesehen“.120 In Benjamins Deutung schlägt damit die absolute Poesie, wie sie Mallarmé und Valéry vorstellen, ins scheinbare Gegenteil, in die Heteronomie ubiquitärer Schriftsemiosis als vermitteltem (Waren-)Wert, um. Schließlich zeichnet Benjamin den Schriftgelehrten ein messianisches Moment vor, in dem sich ihre Autorität im Leben der Völker erneuern werde – dann, wenn sie als Spezialisten der Schrift an den statistischen und technischen Diagrammen einer Bilderschrift, den Codes der Zukunft mitarbeiten könnten. Diese fachmännische Spezialistenrolle wird einige Jahre später im Projekt Krise und Kritik Benjamins Anspruch an eine eingreifende, von Folgen begleitete Produktion sein.
Die illustrierten Zeitschriften waren für die Bewegung des deutschen Konstruktivismus zentral. G, Uhu, Querschnitt sowie Fachzeitschriften wie das Bauhaus sind, nach Rosalind E. Krauss, in den 1920er und frühen 1930er Jahren die authentischen avantgardistischen Objekte.121 Benjamin suchte Anschluss an die Zeitschriften, die mit Typografie, Grafik und Fotografie experimentierten. Die Form des einzelnen Zeitschriftenexemplars ist dem avantgardistischen Geist der Heterogenität in gleicher Weise verpflichtet wie dem gestaltenden Geist der Konstruktion. Benjamin war durch seine Beiträge als Schriftsteller, die in einzelnen Heften erschienen, an den Objekten selbst beteiligt. Der ,wegweisende‘ Charakter in die moderne Welt äußerster Profanität zeigt sich etwa in Benjamins Übersetzung des Textes La photographie á l’envers von Tristan Tzara.122 In diesem beschreibt Tzara das Fotogramm-Verfahren von Man Ray, bei welchem ohne Objektiv und Kamera die Gegenstände direkt auf die lichtempfindliche Platte gelegt und belichtet wurden.
In der ersten, als ausfaltbares Flugblatt gestalteten Nummer der Zeitschrift G heißt es im Absatz Zur elementaren Gestaltung.
Diejenigen nun, die diese Forderung [nach Präzision, F.S.] intellektuell begriffen haben, glauben den Widerspruch zu überwinden, indem sie ihre ebenso launische wie spekulative Arbeit mit dem Worte ,Problem‘ bezeichnen. Sie stellen fest, dass es sich in der Kunst nicht mehr um künstlerische Komposition, sondern um problematische Konstruktion handeln müsse. Ich nehme an, dass der Unterschied zwischen Komposition (Zusammenstellen) und Konstruktion (Zusammenfassen) eine nicht zu unterschätzende Zeiterscheinung ist, aber weder das eine, noch das andere kann zu einer fruchtbaren, monumentalen Kunstproduktion führen, wenn man sich der elementaren Mittel des Gestaltens nicht einig ist. Was wir von der Kunst verlangen, ist Eindeutigkeit. Und diese Forderung kann nie erfüllt werden, wenn sich die Künstler individualistischer Mittel bedienen. Eindeutigkeit kann nur aus Disziplin der Mittel erfolgen und diese Disziplin führt zur Verallgemeinerung der Mittel. Verallgemeinerung der Mittel führt zur elementaren monumentalen Gestaltung.123
Das in der Gruppe um Gerhard Richter entworfene Programm eines ästhetischen Rationalismus fordert Disziplinierung für die Kunstmittel ein, um das Allgemeine der Gestaltung oder die Rückführung auf elementare Strukturen124 zu erreichen.
Wird die damit implizierte Eindeutigkeit monumental der Form zugesprochen, deren Niederschlag aus einer Disziplinierung der Produktionstechnik qua Konstruktion erfolgt, ist Eindeutigkeit in Benjamins literaturtheologisch gewendeter Theorie hingegen ein im Wort, im Anspruch auf Benennbarkeit mitgegebenes, aber zu ,erlösendes‘ Kompositionsprinzip, das die Rahmung, die Grenze des Mediums sichtbar und die Schaffung eines Werks möglich werden lässt. Im Wort, sei es als Name oder als philosophiegeschichtlicher Begriff – ab den späten 1920ern im Code der Unterschrift des produzierenden Schriftstellers –, ist die Konstellation von Phänomenen darstellbar. Im Kontakt mit den Berliner Konstruktivisten und deren ästhetischem Rationalismus wird Benjamins kunstphilosophischer Anspruch, Erfahrungsurteile überhaupt in der Durchdringung des einzelnen Kunstwerks zu vollstrecken, auf das Feld der Produktionsästhetik verlagert. Exemplarisch wird dies in seinem ästhetischen Kommentar von 1914 an Hölderlins Gedichten Dichtermut und Blödigkeit und an der 1924/25 in Hofmannsthals Zeitschrift Neue deutsche Beiträge veröffentlichten Kritik des Goethe-Romans Die Wahlverwandtschaften. Waren ihm verschiedene Arten von Texten (etwa Briefe) bisher einzig als begriffsloses „Zeugnis von Lebensprozessen“125 wichtig, beginnen ihn die Leistungen der Schriftform auch hinsichtlich ihrer rezeptionstechnischen Bewertung zu interessieren. Im Hinblick auf Briefwechsel reflektiert Benjamin etwa den „Rhythmus“, den publizierte Briefeditionen auf die Rezeption des Einzelbriefs ausüben und dadurch deren Veränderlichkeit konstituieren.126
Simultaneität wird zu einer produktionsästhetischen Maxime des Schriftstellers, dessen verzettelte Produktion und die strategische Archivbildung in einem Netzwerk der Freundesschriften die Pluralisierung der Publikationsformate antreibt. Die Konstitution der Textzuschnitte in der Einbahnstraße, die Bildung von Stücken aus den ,Abfällen‘ alltäglicher Schreibpraxis – Reisezeugnissen, Traumaufzeichnungen, Lektüren, Begegnungen usw. – gesteht der Faktenverhaftung der Philologie vorrangige Bedeutung zu. Während die intensive Interpretation immer schon dahin tendiert, ihre Zeitgebundenheit zugunsten einer Treue zum Kunstwerk vergessen zu lassen und sich damit in einen, gemäß Adorno, bloß staunenden Nachvollzug des bereits intentional ins Kunstwerk Hineingelegten127 begibt, ist das rezeptionssteuernde Modell der konstruktiv zugeschnittenen Text-Abfälle auf das Medium ausgelegt, das „den geistigen Verkehr regelt“ – wie eine überzeitliche Flaschenpost, die, um einen Gedanken reduziert, aktualisierungsfähig, transponierbar bleibt. Benjamin verwendet das Wort Philologie als terminus technicus äußerst spärlich: Wenn er es gegenüber Adorno verteidigt und in der Passagenarbeit geschichtsphilosophisch extrapoliert, geht es um die dazu komplementäre Haltung der forschenden Person. Technisch verwendet wird das Wort ,Philologie‘, im Sinn der positivistischen Herstellung eines gereinigten Texts, wie ihn die empirische philologische Kultur des 19. Jahrhunderts verstand, in seinen zu Lebzeiten publizierten Texten nur selten:128 In der Rezension der Sämtlichen Werke Gottfried Kellers (herausgegeben von Jonas Fränkel) sieht Benjamin Philologentreue129 belohnt. Das von Benjamin über Jahre hin erwähnte, aber nie konkret angegangene Projekt einer Kritik der Melusine-Novelle aus Goethes Wilhelm Meister hätte vielleicht spezifischen Aufschluss über seine Reflexion des Philologischen als Umwendung des Kleinen ins ,Kleinste‘ gebracht.130 Dies bezieht sich auf das von Benjamin als „schreckhaft“131 bezeichnete Verhältnis Kellers zu seinem eigenen Schreiben, das in dessen gestrichenen Passagen sichtbar werde. Philologische Technik gilt für Benjamin in dieser Verwendung als ein produktiv zu machender ,medusischer‘ Modus der Sichtbarmachung und Ausmessung des ,inneren‘ Verhältnisses von Autorin und Text (was dann Adorno übernommen hat, aber, weil dieses den Illusionscharakter des bloß staunenden Nachvollzugs darstelle, als Argument gegen die Philologie eingewandt hat) – in Bezug auf Keller sei es „desto wesentlicher, dass nun das Gestrichene zugänglich wurde.“132
Mit dem Schreckhaften ist angedeutet, dass der damit angesprochene produktionsästhetische Vollzug von Benjamin zunächst noch im Vorstellungsfeld einer irgendwie ,mythisch-beaugenscheinigend‘ zu verstehende Konzeption gelesen wird.
Die Verfasser der unvergänglichen Schriften haben deren Vergessen ihr Opfer bereits bei deren Niederschreiben gezollt. Kaum ein Satz, in welchem sie nicht ein Wort, kaum ein Absatz, in dem sie nicht einen Gedanken geopfert hätten.133
Diese Aufzeichnung rückt den Sachverhalt einer „transaktuellen“ Verdauerung mitten in die Sphäre des Schreibens. Sie macht weder eine Rezeptionskomponente noch, bei genauerem Hinsehen, eine Autorintention dafür verantwortlich, dass Schriften unvergänglich werden, sondern kalkuliert ein Ereignis des Schreibens ein, das sich in der gleichermaßen starken wie kaum wahrnehmbaren Geste der ,Opferung‘ von Worten und Gedanken materialisiert.
Das Problem im Begriff des Klassischen liegt […] darin, dass in ihm deskriptive und normative Komponenten unreflektiert nebeneinander bestehen. Außerdem ist es mit ihm kaum möglich, jene flüchtigen Momente auf der Ebene der künstlerischen Produktion ebenso wie jener der Rezeption zu erfassen, ohne die wohl auch im konventionellen Sinne ganz klassische Werke nicht auskommen. Der Begriff der Transaktualität dürfte sich in all diesen Hinsichten als brauchbarer erweisen. Er enthält keine ungedeckten normativen Bestimmungen, wohl aber enthält er eine systematische Bestimmung, die man in die Formel übersetzen kann, dass Kunst prinzipiell transaktuell ist – wenn sie denn ist. Aber wie sie dies ist, wenn sie es ist, kann nur historisch spezifiziert werden, die jeweilige Gegenwart, in der eine Auseinandersetzung mit Kunst stattfindet, eingerechnet.134
An der Schwelle zur Sichtbarkeit einer Schreibszene kalkuliert dieses als ,Opfer‘ benannte Ereignis etwas ,Anderes‘ ein, das sich zwischen Produktion und Rezeption ereignet – und damit nur in der intensiven Mitarbeit einer Leserin, eines Hörers, einer Betrachterin nachträglich und als je unterschiedliche historische Perspektive sichtbar wird.
5.6 Tätigkeit statt Bindung: Die Kritik an den Anthologisten Hofmannsthal und Borchardt
Benjamin eignet sich vom Berliner Konstruktivismus135 zwar Duktus und Programmworte an – so ist ,Konstruktion‘ ab Ende der 1920er Jahre ein häufig auftauchender Begriff in seinen Schriften. Gleichzeitig verschwindet die früher zentrale Kategorie eines ,lebendig scheinlosen Scheins‘, die programmatische ,Ausdruckslosigkeit‘ ab 1928 ganz aus seiner begrifflichen Werkzeugkiste, als Begriff findet sie sich zum letzten Mal in einer wichtigen Rezension Benjamins von 1928 zur Graphologie.136 Als Schwinden der Aura wird die Ausdruckslosigkeit in der zerstreuten Rezeption der Kollektivwahrnehmung gleichermaßen revoziert wie begrifflich in ein anderes Interessensfeld verschoben. Dennoch bleibt Benjamin gegenüber dem konstruktivistischen Gestus der monumentalen Gestaltung distanziert; das Programm der Zeitschrift G überträgt diesen Gestus auf den Künstler als formenden Gestalter eines Kollektivs, begreift diesen als Erfordernis gegenüber einer Kunst in der Krise.
Damit ist der analytische Boden bereitet, auf dem Benjamin die Anthologie und das Anthologische Schreiben ab Ende der 1920er Jahre zu rekonzeptualisieren beginnt. Die allmähliche, aber diskontinuierliche analytische Erkundung von Krisenphänomenen entzieht das Wirken der kritischen Person ihrem angestammten Gebiet, dem generationalen Zusammenhang und der kulturellen Proliferation disziplingemäß geschlossener Ketten von Lehrenden und Lernenden. Das „Botanisieren“ der Professoren wird von den Heteronomien des wirtschaftlichen Chaos, von der Geldwertkapitalisierung der gesellschaftlichen Sphären aus den Angeln gehoben. Anthologisches zu reihen heißt für Benjamin, den Fokus auf das anonyme Umfeld der Produktion dieser kulturell werthaft gewordenen ,Güter‘ zu richten, etwa indem die klassischen Literaturköpfe nicht in ihrem Briefwechsel, sondern als Adressaten einer Haltung, eines emotionalen Ausdrucks oder einer anderen, in den sozialen Raum weisenden Geste beobachtet werden (vgl. Deutsche Menschen).
Nicht Haltungen oder klassische Köpfe zu restaurieren und damit einen „Zeitsinn“137 zu halluzinieren, sondern das formprozessierende Moment des Überliefertwerdens (in dessen poetischen, medialen, sozialen, institutionellen usw. Voraussetzungen und Effekten) mit der gesellschaftlichen Krise zu vermitteln, treibt Benjamins Anthologisches Schreiben an. Anthologisches Schreiben nimmt damit eine zentrale Stellung in seiner Reflexion des Autoritätsanspruchs der Tradition an. Das öffentlich beanspruchte Wort als „Gestalt von neuem Überliefertwerden“138 in katastrophischen Zeiten, in denen Gewissheiten schwinden und Gewisses verschwindet, solle sich deshalb, so Benjamin, gerade nicht als verantwortlicher Hüter eines in anthologisierten Fundstücken irgendwie verankerten Sprachgeists aufspielen. Dies sei der „Wille zur Lüge“139, den Benjamin bei Borchardt immer dort am Werk sieht, wo dieser sich an ein Publikum wendet, um seine Lebensidee der Restauration zu vertreten (vgl. Kapitel 6.3). Der „talentvolle Fälscher“ Borchardt versucht „die Geschichte, das Medium des Schaffenden, zu dessen Organ“140 zu machen. Daraus entstehen, wie Benjamin in einer für die Publikation des Wahlverwandtschaften-Essays in Hofmannsthals Zeitschrift Neue deutsche Beiträge gestrichenen Passage schreibt, die „lockendste[n] Bilder“ beschworener Erscheinungen; gehe die deutsche Dichtung in dieser Richtung weiter, falle sie „gnadenlos einer Scheinwelt“ anheim.141
Soll die ästhetische Kritik, die Benjamin an Borchardt durchaus entzückt (vgl. Kap. 2.1.), nicht als geschichtliche Kritik ein fatales Fortleben haben, gilt es, diese immer wieder am ,inneren‘ Verhältnis von Szenen des Werks und rezeptionsgeschichtlicher Autorfigura auszubilden. Eine Urszene der von Benjamin ins Zentrum gerückten Konstellation der schimärischen ,Liebe‘, in der sich in Goethes Wahlverwandtschaften Ottilie und Eduard „erkennen“, ist am Kopieren von Handschriften, am „Kollationieren“ gestaltet.142 Ästhetische Kritik setzt die Lese-Szene in Distanz zu sich selbst, indem gerade die dumpfe Nähe des Kopierens – In-sich-hinein-Kopierens – in den Wahlverwandtschaften ausgesetzt, zur sozialen Geste ausgestellt und damit zum Anlass für Kritik genommen wird. Anders hingegen die Überzeugung Borchardts, demzufolge der ,gute Leser‘ eben kopiere, im Gegensatz zum schlechten, der in sich transformieren möchte. Ich würde damit auch das Urteil von Wolfgang Matz (vgl. die zitierte Passage in Kap. 2.1) in Frage ziehen, wonach Benjamin daran gescheitert sei, Borchardt auch ästhetisch und nicht allein geschichtlich (nämlich in seiner Rolle als Kriegsbefürworter und deutscher Nationalist) zu widerlegen. Borchardt ist Benjamins Auffassung gemäß insofern ein Fälscher, als er die institutionelle Einhegung, die Entfaltung sozialer Aktivität durch literarische Werke (in deren Aneignung, Ablehnung) auf ein quasi-biologistisches Dispositiv der Aufnahme oder Verstoßung literarisch-kulturellen Materials durch einen Kreis, ein Volk, reduziert und gleichzeitig nur ausgewählte Genies als ,Medien‘ der Vererbung, als Vermittlungsinstanzen gelten lässt. Damit bleibt unbegründet, wie sich die Rezeptionsgeschichte von Werken denken lässt, die offensichtlich über Jahrzehnte oder Jahrhunderte eine ebenso breite wie fragmentierte kulturelle Wirkung entfaltet haben. Gerade gegen ein gleichzeitig a-kulturelles und dominanzgetriebenes Klassik-Konzept kämpft Benjamin in seinem Anthologischen Schreiben an, weil es in der Ignoranz der sozialen Aktivität, die die Erfahrung von Literatur bzw. von bestimmten literarischen Werken zu entfalten vermag, offensteht für eine vorab nationalistisch-organizistische Repräsentationsidee von Literatur und Kunst.
In Benjamins Formulierung des ,Fälschers‘ bzw. ,Lügners‘ ist eine epistemologische Beurteilung des mittels solcher Strategien vertretenen Literaturverständnisses enthalten. ,Lügen‘ und ,Fälschen‘ als ,Betrug‘ an einer literarischen oder kulturellen Öffentlichkeit, die sich im Modus der Zerstreuung konstituiert, ist zu unterscheiden von ,Lüge‘ und ,Fälschung‘ zu Zeiten, als Lesen und Schreiben ein gesellschaftliches Elitenphänomen dargestellt hatten. Die Bewertung, wonach Borchardt ein Lügner sei, ist im Kontext der 1920er Jahre als Urteil über das soziale Dispositiv der Autorität des Literaturkritikers zu werten – es ist Benjamins Urteil über die verheerenden politischen Wirkungen einer Kommunikationsform, mittels derer Borchardt Literatur und (National-)Volk zusammenschaltet.
Den Ansatz für ein Gegenmodell gegen die Monumentalisierung von Köpfen (und ihre schlechte Vermittlung in der sogenannten Volksbildung) hebt Benjamin überraschenderweise mittels der ,Illustrierten Zeitschrift‘ hervor, deren Nachbildung kontingenter Gegenwart in wild zusammengewürfelten Themen und Motiven damit neben die experimentelleren Zeitschriften der Avantgarde tritt – ebenso wie neben sein (gescheitertes) Konzept der theoretischen Zeitschrift in ihrem Modus des gastlich-progredierenden Denkens. In Bezug auf eine kleine Porträt-Abbildung von Jean Paul anlässlich des 100.Todestags auf den hintersten Seiten der Berliner Illustrierten heißt es dazu in einer Glosse Benjamins von 1925:
Und wem steht nicht fest, dass unter den gegebnen Bedingungen demokratischer Publizistik etwas Besseres als die Berliner Illustrierte auf dem westeuropäischen Kontinent nicht existiert. Dass sie so unübertrefflich interessant gerade nur wegen der Exaktheit ist, mit der sie die lasterhaft zerstreute Aufmerksamkeit des Bankbeamten, der Sekretärin, des Konfektionärs allwöchentlich in einem Hohlspiegel zusammenzieht. […] Ein großer Jean Paul-Kopf auf der Titelseite, was wäre langweiliger? Interessant ist er aber gerade nur, solange sein Kopf klein bleibt. Die Dinge in der Aura ihrer Aktualität zu zeigen, ist mehr wert, ist weit, wenn auch indirekt, fruchtbarer, als mit den letzten Endes sehr kleinbürgerlichen Ideen der Volksbildung aufzutrumpfen.143
Gegebene Bedingungen, kleine Köpfe, Fruchtbarkeit – es sind die ästhetischen Prämissen von Jean Pauls Literatur selbst und ihrer Rezeptionslage (als anthologisiertes Stückgut im 19. Jahrhundert wurden seine Romane meist partialisiert und von Frauen gelesen), die für eine Ästhetik unter demokratischen Bedingungen zu nutzen sind und in der technischen Gewissenhaftigkeit einer illustrierten Zeitschrift die Aura eines ästhetischen Moments zu erhalten vermögen. Das ist die spezifische Konstellation, an der die Kritik an den rechtskonservativen Ästhetikern wie Borchardt ihr spezifisch ästhetisches Momentum gewinnt: Demokratische Zerstreutheit als gegebene Bedingung ist produktionstechnisch zum Anlass zu machen für das mögliche Aufspüren von anthologischen Vorläufern unter anderen, etwa feudal-ständischen gesellschaftlichen Bedingungen: Anthologisches Schreiben in diesem Sinn ist darauf ausgerichtet, diese Konstellation von Produktion und Rezeption wieder zu ermöglichen – bei aller Fragilität in den demokratisierten, zur Verflüchtigung neigenden Rezeptionswelten.
Bei Hofmannsthal ist die Sache vertrackter als bei Borchardt – nicht nur, weil sich Benjamin seinen Briefwechsel mit Hofmannsthal zunutze machte, um von seinem Vater weitere finanzielle Mittel nach dem Scheitern seiner Habilitation zu bekommen. An Hofmannsthal kritisiert Benjamin eine „Sprachlosigkeit“, die diesen als eine „Art von Strafe“ geschlagen habe, wogegen Kafka zu gleicher Zeit die Sprache gegeben gewesen sei,144 den moralischen Standort der zeitgenössischen europäischen Existenz in der schärfsten gesellschaftlichen Ambivalenz der kapitalistischen Lebenswelt zu zeichnen. Diese Gegenüberstellung verweist aber nicht nur auf ein moralisches Versagen des einen gegenüber dem Gelingen des anderen angesichts künstlerischer Aufgaben. Benjamin vollzieht den paradoxen Umkehrschluss, dass Kafkas Scheitern an der Werkbildung rezeptionsästhetisch dessen Gelingen ausweise, indem die Wortgebärden, die Gesten von Kafkas Sprache das Nachleben bestimmter Traditionen im Moment ihres unwiederbringlichen Verlusts zu zufällig aufscheinenden Überresten im Paradigma verwalteter Welt verwandeln. Hingegen wird Hofmannsthals Beharren auf (sozial bestimmten) ,gültigen‘ Bindungen dichterischer Formen, die sich von einem geschichtlichen Bestand herschreiben, als dessen Sprachlosigkeit im Sinn einer einseitig auf die innere Bildproduktion des Subjekts hinweisenden Produktion hypnagoger Bilder gewertet.145 Gescheitert sei Letzterer an der fehlenden Einsicht in die „Grenzen der ästhetischen Lebensidee“.146
Die der chaotisch-pluralistischen Vielstimmigkeit entsteigende Gegenwart messianischer Sprachform liegt in „integrale[r] Prosa“147 (vgl. Kap. 5.8), wie sie Benjamin aus der Erfahrung insbesondere der französischen Literaturtradition entnimmt. Die entsprechende angelsächsische Tradition hingegen rezipiert er nicht.148 Die Diagnose einer Entgrenzung des Ästhetischen bringt Benjamin auch gegenüber Paul Valéry vor, den er in vielerlei Hinsicht als französischen Antipoden zu Hofmannsthal konstruiert (vgl. Kap. 4). In einem Text von 1931 heißt es: Die härteste Selbstkritik Valérys zeige sich in Monsieur Testes Untätigkeit. Ist es die Metapher der Navigation des auf der äußersten Spitze des europäischen Fortschrittsbewusstseins untätig verharrenden, seine gesellschaftliche Rolle als Intellektueller verneinenden, absoluten Künstlers Monsieur Teste/Valéry, so bringt Benjamin in einem Fragment über Hofmannsthal ebenfalls eine Metapher prekären Bewegtseins ins Spiel: Im Schatten des zerfallenen Imperiums Habsburg bräuchten dessen Figuren „keinen Ort, um sich zu bewegen.“149
Wie auch jenes von Borchardt und George historisiert Benjamin Hofmannsthals Werk als kulturpolitisches Phänomen, das Einblick gibt in die ästhetische Bildung einer Generation (und die damit verbundene gesellschaftspolitische Abstinenz dieser Künstler, die später in Kriegsaffirmation umschlug). Peter André Alt bringt die entscheidende Differenz zwischen Benjamin und der George-Schule so auf den Punkt: Während Benjamin zeitlebens an einer dialektischen Theorie ästhetischer Strukturen festhalte, die den historischen Horizont eines Werks in die Reflexion über seinen sprachlichen Charakter einzubeziehen sucht, habe George durch den Exorzismus von Geschichte eine Ontologie des Kunstschönen anvisiert, die Dichtung als hermetisches Medium exklusiver Wahrheiten betrachtet und sich aus der Distanz zu allem begründet, was außerhalb des Ästhetischen selbst liege.150 Hofmannsthals Anthologien der Nachkriegszeit liest Benjamin, paradox genug, als einen kulturpolitischen Versuch, eine Grundlage für „gültige Bindungen“151 der Intelligenz zu etablieren. Damit leisten diese Schriftsteller einer chimärisch gewordenen Entsühnung der Kultur zumal nach dem exterminatorischen Weltkrieg Vorschub, die keine gesellschaftliche Verankerung, keine Bildungsgrundlage mehr hat. Das omnipräsente „Schweigen“ und die „Beschwörung“ werden damit für Benjamin zur Deutungsgrundlage Hofmannsthals.152 „Ein Fälscher, ohne es zu wissen“, zitiere Hofmannsthal nicht Zeilen oder schöne Stellen, sondern „das ganze große Werk, das ganze große Urbild insgesamt“ jener Autoren – und zumal Goethes –, mit denen er sich auseinandersetzte.153 In Bezug auf ,Fälschung‘ und ,Lüge‘ ist es ähnlich wie bei Borchardt die von Benjamin abgelehnte Umdeutung des Gesellschaftlichen zum organologischen Symbol, die Hofmannsthal auf eine Reproduktion eines klassischen Urbilds hinführt, das deshalb, in der Deutung des Kritikers, keinen Ort mehr findet, um sich umwandeln, um sich ,bewegen zu können‘.
Benjamin selbst arbeitet in die gegenteilige Richtung. Er sucht Funktionsbilder für den gesellschaftlichen Zerstreuungsmodus und findet diese in der Schrift. Die geschwundene Selbstverständlichkeit bruchloser Überlieferung weicht einem ,Undurchdringlichwerden‘ der Schrift:154 weder dringt sie zu ,neuen‘ Lernenden, einer neuen Gesellschaft durch, noch lassen sich die vermeintlichen Gewissheiten der kontemplativ-konzentrierten kritischen Instanz in diese neue Krisenaktualität mitnehmen. In der Auseinandersetzung mit den letzten und deshalb als Krisenphänomene interessantesten Repräsentanten des anthologischen Zugangs zu Klassik und Romantik, dem George-Kreis, Borchardt und Hofmannsthal, fühlt sich Benjamin als Kritiker deshalb „ganz zu Hause“, wie er Adorno 1940 nach den harten Auseinandersetzungen um die Baudelaire-Studie in einem umfangreichen Brief – es sollte sein letzter sein –, vielsagend mitteilt.155 – Aber was folgte für Benjamin aus all dem um 1930, als die politischen und intellektuellen Perspektiven noch nicht entschieden waren? Der eindrucksvollen Benjamin’schen Analyse und Verbildlichung katastrophischer Phänomene folgt zunächst eine „Krisis“ der „Darstellungsmittel“,156 wie sein Freund Scholem angesichts der Serie Briefe bemerkte. Die Krise anthologischen Schreibens als eine neuerliche Suche in einem vollkommen gewandelten gesellschaftlichen Umfeld erfordert eine andere Reflexion auf die Kunstrezeption.
Dem gehen, wie gesagt, Analyse und Destruktion der vorhandenen Modelle voraus. Die bisherigen Überlegungen abschließend untersuche ich ein von Benjamin verfasstes Prosaporträt des wichtigsten Anthologisten des George-Kreises, Karl Wolfskehl. Es bildet den vielschichtigen epochalen Abschiedsgruß auf das Abklingen einer ehern institutionalisierten Poesie, indem das Phänomen anthologischer Bewahrung, gleichsam prosaisch aufgefächert und depotenziert, noch einmal anders ins Gedächtnis eingeschlossen wird: als gastlich-vielstimmige Szene der Freundschaft. Die Kritik als Auseinanderfächern der Überlieferungsphänomene wird damit, so hoffe ich, als die entscheidende Größe des Benjamin’schen Produktionsverfahrens im Licht des anthologischen Traditionsmediums zu Zeiten generalisierter Zerstreuung begreifbar.
5.7 Lektüre: Wolfs Kehl. Kehrseitige Lese anthologischer Blüten
Im George-Kreis bildet das eigens für den Kreis hergestellte anthologische Buch eine Art Kultort, um den herum eine exklusive künstlerische ,Entgrenzung‘ zelebriert wird. Das vorgetragene „Hersagen“,157 die akustische Sphäre der Gedichte, bildet die Versicherung der Zugehörigkeit. Diese kultische Form des Lesens und gemeinschaftlicher Lebenskunst nimmt Benjamin 1926 in einem Text auf, der dem Dichterphilologen und stellenweise engsten, aber auch unabhängigsten Mitarbeiter Georges, Karl Wolfskehl (1869–1948), gewidmet ist. Im Reflexionsraum der imaginierten Anthologie Deutsche Dichtung (vgl. Kap. 2) wird eine Szene evoziert, die die Gegenwartsvergessenheit dieser Form des Bücherlebens und -liebens auf ein Drittes hin öffnet: weder Konservierung noch Aktualisierung, sondern Eingedenken. Das Prosaporträt bezeichnet den Versuch, aus der Erinnerung an eine spezifische Form sozialer Vergemeinschaftung deutschjüdischer Intellektueller einen kunstpolitischen Kommentar auf die Gegenwart deutschjüdischer Kommunikation – und damit verbunden des lyrischen und prosaischen Schreibens – zu machen. Benjamin entwickelt die Szene einer Produktionsästhetik Anthologischen Schreibens. Im Gegensatz zum George-Kreis ist es nicht die Rezeptionskraft der Hörer, die den Raum über dem kultischen Ereignis der Stimme schließt und das anthologische Erlebnis verbürgt. Vielmehr stellt eine Erinnerung im Nachbau der gedichteten Stimme in erneuerten, anthologisierten Zitaten und Bildern das Medium des Gedächtnisses dar: aus dem scheinbar flüchtigen Erlebnis eine Erfahrung des Jüngstvergangenen zu extrapolieren und diese dem Vergessen, als der eigentlichen anthologischen Erfahrung in ihrer schlechten Form, entgegenzuhalten.
Dies werde ich nun in einer Lektüre ausführen, zunächst hier der Text von Benjamin, abgedruckt in Die Literarische Welt, 1926.
Karl Wolfskehl zum sechzigsten Geburtstag. Eine Erinnerung
Vieles schließt sich um ein Gedicht. Man glaube nicht, nur dies sei das Geheimnis: es zu machen. Karl Wolfskehl hat viele Gedichte gemacht. Man glaube nicht, nur dies sei sein Geheimnis: sie gemacht zu haben. Es sei hier von einem andern die Rede. Dazu muss ich aber die Erlaubnis von ihm erbitten, auf eine Erinnerung zurückzugreifen. Es war in jenem Hinterzimmer meines Freundes Hessel, das, ohne im mindesten abgeschrägt zu sein, das mansardeskeste aller Dichterzimmer ist. Da saß Wolfskehl eines sehr späten Abends auf dem Stuhl vor dem breiten Bett, das mit dem Staub – und Fahlgrün seiner Decke jedem, der eintritt, die sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe vielleicht besser veranschaulicht als die Versuchstabellen im Goethehaus. Und noch viel später in der Nacht war es, als ich selbst dazustieß. Worum sich das Gespräch der beiden bewegte, ist mir entfallen. Ist im Grunde nicht jedes wahre Gespräch eine Folge von Entrückungen, in der man wie im Traum mit einem Male einhält, ohne zu ahnen, wie man nun eigentlich an diese Stelle gelangt sei? So ein Augenblick war es, als Wolfskehl nach dem Jahrhundert Goethes griff, das da irgendwo im Regal stand und zu lesen begann. Wie gern würde ich nicht – und sei es auch nur zu Ehren des großen Bücherkundigen und Bücherliebenden, der Wolfskehl ist – etwas mehr von dem Buche sagen, dieser Anthologie, die zum ersten Male 1902 im Verlag der Blätter für die Kunst erschien. Es war die Zeit, da die Bücher noch ein Gewand hatten, dies hier natürlich eines von Lechter. Blaue Pausranken umgaben den Text (volle, und immer die gleichen; daher der Name) und auf dem Titel stand das Signet des Verlages, die von steilen Fingern erhobene Urne, aus deren Mündung alle Locken und Spruchbänder der Präraffaeliten herausrieseln. Aber es ist nichts mit dem Beschreiben. Hessel mag diese Ausgabe einmal besessen haben, aber seine aus Schnödigkeit und Großmut lockere Hand hat gewiss auch vor diesem kostbaren Stücke nicht Halt gemacht. Längst ist die unscheinbare Ausgabe an seine Stelle getreten. Aus der las nun Wolfskehl:
Schläfrig hangen die sonnenmüden blätter,Alles schweigt im walde, nur eine bieneSummt dort an der blüte mit mattem eifer.Diese dreiundvierzig trochäischen Verse las er. Und als ich sie nun von ihm zum ersten Male hörte, rückten in meinem Innern die paar Gedichte, die da seit Jahren oder Jahrzehnten hausen, zusammen, um einen letzten spätesten Fremdling unter sich aufzunehmen. Zu Hause war mein erstes, die Anthologie, aus der er gelesen hatte, zu suchen. Nicht das Gedicht, das Wolfskehl uns gelesen hatte, allein, diese ganze Sammlung war mir erschlossen. Es war eine der seltenen Gelegenheiten, da man innewird, wie alle Lyrik sich zuletzt nur mündlich fortpflanzt und bildet. Vergleichbar war sie mir allein mit dem Nachmittag, da Hofmannsthals Stimme sich unversehens auf ein Gedicht der Fibel niederließ und die Kühlung der frühesten Georgeschen Dichtung zum ersten und letzten Male aus der Ferne mich anwehte. Hier nun hatte eine wahrhaft hermetische, eine geleitende Stimme im Flusse der Lenauschen Worte stromaufwärts mich in die unwegsamen Höhen geführt, wo um 1900 im Schatten einiger ragender Häupter, Hölderlins, Jean Pauls, Bachofens, Nietzsches, die deutsche Dichtung war erneuert worden. Diese hermetische Kraft aber – die Stimme hatte sie in solchem Grade wohl nur, weil man, indem man dergestalt ihren Wegen folgte, auf ihr eigenes Geheimnis zu stoßen hoffte. Vor vielen Jahren hat einer, dem das gelang, dem Dichter einen Götternamen: Hermopan gegeben. Und war nicht ein verspäteter Pan in der Stimme gewesen, die dieses Lenausche Gedicht vom Mittagsschrecken vor sich hingesummt hatte? Dass Karl Wolfskehl das Schicksal von Göttern weiß, die längst der Mythologie entwuchsen, haben gerade an dieser Stelle einige seiner letzten Arbeiten – Lebensluft, Die Neue Stoa – eindrücklich gezeigt. Ohnehin ist der Hermes auch im strengsten und mythischen Sinne der Gott, der wie keiner andern Göttern sich angleicht, mit ihnen zu einer neuen, flüchtigeren vielleicht und schwebenderen Gestalt sich verbindet. Aber schwebend und flüchtig bei aller Wucht wirkt auch die des Mannes, wäre es selbst nur der Unrast wegen, die ihn immer in Bewegung erhält, und der tausend Witterungen und Regungen wegen, die von germanischer bis zu jüdischer Vorwelt allem Ererbten und Erfahrenen die Stätte in ihm bereiten. Welche Fülle großartiger Abbreviaturen bedingt das! Sie sind meist nur unter den erstaunlichen Prägungen seines Witzes unter die Leute gekommen, kennzeichnen aber seine Gedankenwelt so gut wie die Schrift, von der eine Graphologin gesagt hat, sie bedürfe geradezu eines Schlüssels, um überhaupt gelesen werden zu können. Und sie gleicht ihrem Schreiber darin, dass sie ein unvergleichliches Versteck von Bildern ist. Ein weltgeschichtliches Refugium; denn in ihm wohnen, hausen Bilder, Weisheiten, Worte, welche ohne ihn, wer weiß, ob überhaupt und wie, sich in unseren Tagen behaupteten.
Vielleicht war dies das Unvergessliche der Stunde, von der ich hier sprechen wollte: das Gedicht aus ihm sich heben zu sehen wie einen Vogel aus dem gewaltigen Sagenbaum, in dem er mit Tausenden seinesgleichen nistet.158
Im Porträt von Karl Wolfskehl stellt Benjamins als Erinnerung untertitelter Text eine Fülle von Verdichtungen und Verschiebungen her. Gegenüber Wolfskehl inszeniert sich Benjamin als empathischer Hörer und verschiebt damit die weit entfernte Wirkung der Gedichte Georges auf das Organ desjenigen, der die Erfahrung der Nähe Georges unwillkürlich mitteilt, wenn er Gedichte vorliest. Die Stimme, wie sie bei Wolfskehl noch hörbar ist, behauptet das „Unvergessliche einer Stunde“ eines „verspäteten Pan“ – die ganze Anthologie des Jahrhundert Goethes ist ihm damit erschlossen, die Gedichte, die in ihm hausen, „rückten“ „zusammen, um einen letzten spätesten Fremdling unter sich aufzunehmen.“ Indem das Lenau-Gedicht in der Verklammerung eines Interieurs auftritt, wird eine physiognomische Kritik unternommen: Der Gesang der Dichtung ist in der Moderne nicht einfach verstummt, die nicht mehr rezipierbare Stimme ist vielmehr ein Residuum der nur sehend registrierten Anonymität in der städtischen Massengesellschaft. Die Aura des Gedichts und die Kritik an einem anonymisierten Umgang sehenden Registrierens sind komplementär.
Benjamin konstruiert seine Geburtstagsgabe so, dass der ideologische Erneuerungsanspruch der Anthologie Deutsche Dichtung von George und Wolfskehl um 1900 in der Wendung der abgeschlossenen Vorvergangenheit ironisch kassiert wird. Die syntaktisch entstellte „hermetische, geleitende Stimme“ arrangiert die Entideologisierung des Zeitbilds der Lyrik, das Benjamin hier vornimmt, um ein Unvergessliches, die Vorwelt der bürgerlichen Bildung der Gründerzeit, gegenüber einer monumentalisierenden Vorzeit zu behaupten. Diese ist jene des deutschen Juden Wolfskehl innerhalb des Kreises um George159 – hatte doch dieser die Anthologie mit Stefan George komponiert und dabei den größten Teil der philologischen Arbeit der Texteinrichtung übernommen (vgl. Kap. 2.1).
Kritik, die das Gedichtete einer gesanglosen Zeit konstelliert und damit der anthologischen Verwertung, der metabolischen Gier des Bildungsbürgertums in der „Jagd nach dem falschen Reichtum“160, entzieht, muss dennoch das Material dieser Situation konservieren. Genau spiegelbildlich zum Anthologisten Wolfskehl, der die ,Dinge‘ der Klassik in der Anthologische Deutsche Dichtung „unantastbar“ machte, überliefern in der Benjamin’schen Auffassung die destruktiven Charaktere die Situation, „indem sie sie handlich machen und liquidieren“.161 Die ,Situation‘ ist in diesem Zusammenhang die existenzielle Nähe und Ambivalenz Benjamins zum Milieu des George-Kreises. Ist Aura – das bestimmende Moment dieser Künstlersekte – die Erscheinung der Ferne, „so nah das sein mag, was sie hervorruft“,162 so ist die Nähe des Stammvaters George damit nur dort legitim, wo sie von einer Kritik gerahmt ist. Als, wiederum anthologisch, Gedicht und Kommentar verschränkender Text, oder, körperlich, in der Stimme, der kreatürlichen Spur derer, die die Nähe erfahren haben. Für Benjamin verkörpert nebst Wolfskehl die Künstlerin Jula Cohn diese Nähe, der er seinen Wahlverwandtschaften-Essay widmete und die sich im Umkreis von Stefan George in Heidelberg bewegte.163
Die von Benjamin ausgelegte semiologische Kette ist ein In-Szene-Setzen widerständiger Schrifträume und kreatürlicher Zeichen, die darauf hinauslaufen, ein verdrängtes Interesse, die nationale Identifikation der jüdischen Intellektuellen in der George-Schule, aus der hermetischen Kraft der Suche nach der Stimme zu begreifen und damit als jenen durchaus ambivalenten politischen Kommunikationszusammenhang anzudeuten, in welchem Benjamin das deutsch-jüdische Zusammenleben und Kommunizieren zu dieser Zeit, Mitte der 1920er Jahre, als eine – öffentlich – zu verschweigende Beziehung einordnete. Gegenüber Florens Christian Rang postulierte Benjamin: Heute (das heißt Anfang der 1920er Jahre) sei zwischen Juden und Deutschen nur das verschwiegene Gespräch möglich, nicht die öffentliche Kommunikation, die nur zu Missverständnissen führe.164 Das Geheimnisvolle eines esoterischen Kreises und seines kulturpolitischen Einflusses nachzuweisen, ist nicht zuletzt Benjamins Erkenntnisprozess geschuldet, dass die sich auf George berufende Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg geglaubt hatte, die Stadt Berlin
unberührt lassen zu können, um nur die Schulen in ihr zu verbessern, nur die Unmenschlichkeit der Eltern ihrer Zöglinge zu brechen, nur den Worten Hölderlins oder Georges in ihr ihren Platz zu geben. Es war ein äußerster, heroischer Versuch, die Haltung der Menschen zu verändern ohne ihre Verhältnisse anzugreifen.165
Die spannungsvolle Ritualität eines verschwiegenen Verhältnisses im Kleinen wie im Großen unterstreicht die Ausweglosigkeit aus dem Erbe des eigenen Bildungswegs des Individuums Benjamin wie der deutschen Nation als Republik. Diese Verschränkung wird im Prosaporträt zugleich bildkritisch und – in der Ausleuchtung des institutionellen Umfelds der kultischen Leseszene – ausgenüchtert reinszeniert, das heißt auf das sie bestimmende Arrangement hin gelesen und gedeutet. Der (nicht zuletzt in sich gewalttätige) Ritualcharakter der Produktion und Rezeption von streng formgebundener Dichtung wird dabei ebenso aufgezeigt.166 Es ist wenig bekannt, dass Benjamin selbst formstrenge Sonette dichtete, als eine Form der Trauerarbeit nach dem Selbstmord seines Freundes Friedrich Heinle. Bernhild Boie hat die Gedichte in ihrer Analyse als Gepräge des Rituals charakterisiert. Ihrer Denkbewegung läge eine Idee der Polarität ohne jeglichen Antagonismus zugrunde. Die Sonette sind von Spannungen gesättigt, häufigste Redefigur ist die Antithese. Benjamin inszeniert mit ihrer Hilfe das Zusammenfallen der Gegensätze als Prozess, um „eine legitime bilderlose Sprache der Beschwörung“167 gerade in der starrsten aller Gedichtformen, im Sonett, wiederauffindbar werden zu lassen. Gewalt ist eines der heimlichen Zentren dieser Gedichte, Gewalt als Form und Gewalt als Sprache. Dies wird gemeinhin als Versuch Benjamins gelesen, das George’sche Erbe dem Vorbild zu entreißen.168
Es gehört zu den bestimmenden Einsichten der Frankfurter Schule, den vermeintlichen Gegensatz von Ritual und Technik gerade ausgehend von der Deutung der Gedichte Stefan Georges und des Jugendstils als ,stilisierendem‘, ornamentierendem Stil par excellence aufzulösen. Hatte Benjamin das Historischwerden Stefan Georges bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg artikuliert, gewinnt er im Gespräch mit Adorno in den späten 1930er Jahren ein schlagendes Kriterium der Ausdruckslogik von dichterischem Material und sozialem Leben: In der Erfahrung des von Adorno als „kindlich“169 bezeichneten Trotzes des Lied des Zwergen gegen die kapitalistische Moderne und Massengesellschaft revoziert George sozial den abgeschlossenen Künstlerbund und dichterisch die kultische Aura des körperlosen, mündlich fortgepflanzten Dichterworts. Benjamins Entzücken an Adornos Essay zum Briefwechsel von Hofmannsthal und George – „es ist das Beste, was sie jemals geschrieben haben“ – mündet in den methodischen Hinweis, wie ein „unvorstellbares“ Nachleben von George 1940 (!) beginnen würde: „mit einer Anthologie seiner Verse. Gewisse stehen in Ihrem Text besser als am Fundort.“170
Das methodische Prinzip einer von Valéry übernommenen création par des principes séparés bestimmt das Prosaportrait von Wolfskehl. Die erste Verschiebung postuliert die Bedeutung des Kontexts der Gattungsform: „Vieles schließt sich um ein Gedicht.“ Der Wert seines Gemachtseins, die „Logik des Produziertseins“171 verlangt nach einem Schlüssel der Lesbarmachung wie die Schrift nach dem Schlüssel des Graphologen. Dieser liegt nicht in höchster philologischer Auslegungskunst vor – vielmehr, mit Paul Valéry, in der materialästhetischen Lektüre, die aus erinnernd verfügbar gemachtem Material in seiner unmittelbar sinnlichen Verklärung – Gesprächsort, Gesprächspartner, Gesprächssituation, der buchräumlichen Umgebung des Gedichts, dem Umschlag des Buchs – eine zweigeteilte Szene rekonstruiert. Zuerst wird, in einer Art Experiment, die Kette der phantasmagorischen Gedächtnisstücke inflationiert, um die lesende Stimme ihrer hypostasierten natürlichen Autorität, ihres klassischen Erbes mündlicher Fortpflanzung der Lyrik zu entkleiden. Die zitierten Zeilen des Lenau-Gedichts werden auf ein unscheinbares Summen in der Mittagsstille depotenziert, das Benjamin im Essay Karl Kraus später namhaft machen wird. Das depotenzierte Summen bildet eine Sphäre aus, die nicht durch das in der biblischen Sprache vom Theologumenon von Freund oder Feind bestimmte Wort (und die entsprechende politische Theologie) definiert ist.172
Die Anthologisierung des Lenau’schen Gedichts im Schatten der ragenden Köpfe der Anthologie Deutsche Dichtung ist in den Transpositionen rückgängig gemacht, die „aus dem Innern“ des Erinnernden über das Dichterzimmer, den Buchumschlag und die Verhökerung der Prachtausgabe in die Unscheinbarkeit der kahlen Stimme, des kahlen Gedichts in der einfachen Buchausgabe zurückführen. Dieser Gang bestimmt sich, gleichsam nach Maßgabe architektonischer Hervorbringung, als Veräußer(lich)ung von „meinem Innern“ – des inneren Bildungsguts, das der verarmte freischwebende intellektuelle Lohnarbeiter Walter Benjamin zu produzieren hat. Oder wie er später in der Berliner Chronik schreiben wird:
[M]ir scheint heut dennoch der Versuch, dem Toten den äußeren Raum, in dem er lebte, ja das Zimmer, in welchem er „gemeldet“ war, nachzuzeichnen […] befugter als den geistigen zu umfassen, in […] welchem er dichtete.173
Die anthologische Prachtausgabe wird durch die unstete Hand des Dichter-Freundes Franz Hessel aus der Hand gegeben, verhökert. Ersetzt wurde sie durch jene unscheinbaren Populärausgaben, die in den Tornistern der Soldaten im Ersten Weltkrieg die Zitatenschätze zur Erbauung der Kriegsmoral ins Feld tragen sollten.
1932 schreibt Benjamin in seinem Essay Erfahrung und Armut:174 „Arm sind wir geworden. Ein Stück des Menschheitserbes nach dem anderen haben wir dahingegeben, oft um ein Hundertstel des Wertes im Leihhaus hinterlegen müssen, um die kleine Münze des ,Aktuellen‘ dafür vorgestreckt zu bekommen. In der Tür steht die Wirtschaftskrise, hinter ihr ein Schatten, der kommende Krieg.“175 Die politischen Aussichten sind mit der Faschisierung der Weimarer Republik, den Notverordnungen nach den Septemberwahlen 1930 und dem schlagartigen Aufstieg der Nationalsozialisten düster. Die Wirtschaftskrise verengt die Perspektiven auf die ästhetischen Optionen – gerade auch im Rückblick auf Benjamins prägende Erfahrung des Selbstmords seines Freundes Heinle, der sich bei Kriegsausbruch im August 1914 im Versammlungsheim der Berliner Jugendbewegung zusammen mit einer weiteren Freundin der beiden, Rika Seligson, das Leben nahm:
Das war damals in Heidelberg und gewiss in selbstvergessner Arbeit, daß ich es versuchte, die Gestalt meines Freundes Fritz Heinle, um die all jene Geschehnisse im Heim sich ordnen und mit dem sie verschwinden, in einer Betrachtung über das Wesen der Lyrik zu beschwören. Fritz Heinle war Dichter und unter allen der einzige, dem ich nicht ,im Leben‘, sondern in seiner Dichtung begegnet bin.176
In den Anthologien bzw. dem Anthologischen Schreiben des George-Kreises (und dazu zählt Benjamin letztlich auch Hofmannsthal und Borchardt) refiguriert er das kunstphilosophisch intrikate Verhältnis von schönem Schein und nüchternem Leben – den „Wahrheitsgehalt“ des Kunstwerks – nun im Medium gesellschaftlicher Institutionen und Medien: Buchumschlägen, Typografien, generell der Ausstellung von Situationen, in denen Kunst produziert und rezipiert wird. Besonderes Augenmerk ist dabei auf das Unscheinbare zu legen: Kein Gewand mehr zu haben, ist bezeichnend für die grafische Spannung, die Benjamin in seinem Buch Einbahnstraße der Reklame zuschreibt, die das Buch als veraltetes Vermittlungssystem abgelöst hat und die die visuellen Affekte in dem kapitalisierten, dem Zwang zur Visualität unterworfenen menschlichen Umgang in der Großstadt zugleich aktiviert und bindet.177 Diese grafische Spannung ist, materialiter betrachtet, die Aufspannung eines Codes von Schriftbildlichkeit: eine Spannung des Schriftbilds, dessen Kapitalisierung der Traumindustrie der visuellen Gestalter gelungen ist.178 Hingegen unscheinbar zu sein – damit ist die kritische Erkenntnis verbunden, dass die Werkpolitik der George-Schule mit den anthologischen Prachtausgaben eine Form der Fälschung und des kapitalistischen Ästhetikkults darstellt. Zwar hat Benjamin George von seiner vernichtenden Kritik immer ausgenommen und diese an seinen Mitarbeitern, insbesondere am Germanisten Friedrich Gundolf,179 vollzogen; damit liegt er ganz auf der von Rudolf Borchardt seit dessen Kritik des Gedichtbands Der Siebente Ring vorgegebenen Linie (vgl. Kap. 2.2).180 Borchardt schrieb, George könne den Schutt der Werkstatt nicht mehr aussieben, weil er in seinem Kreis nur Hörige habe und keine kritische Stimme zulasse. Dass Benjamin eine ambivalente Note genau dort einträgt, wo er die Identifikationsfunktion des George-Kreises für das nationalliberale Judentum181 betont, verdeutlicht, dass sein Prosaporträt von Karl Wolfskehl zugleich der Figuration des komplexen Verhältnisses eines jüdisch-deutschen Forums gewidmet ist. Es buchstabiert die anderswo gemachte verstörende, Identität über kulturelle Herkunft verknüpfende Feststellung Benjamins von Mitte der 1920er Jahre aus, wonach es zwischen Juden und Deutschen kein „öffentliches“ Gespräch geben könne.182
In Benjamins Prosastück ist es die Stimme, die im Vorlesen ihren eigenen Weg findet und die als vorzeitliche Adresse des Gratulanten das lyrische Sprechen anders wieder in Wert setzt. Die ,deutsche‘ Erneuerung einer Klassik (die schon im Horizont der Vereinnahmung durch den Faschismus steht) auf das Bild eines friedlichen Mittagsschlummers auszunüchtern – indem gleichwohl Nietzsches zarathustrischer ,Großer Mittag‘ durchklingt – und ,jüdische Witterung‘ als eine schwache messianische Kraft, das Unvergessliche der hermeneutischen Tradition und Lehre anzurufen, entspricht damit einer Umkehr der in der Gegenwart dieses Essays Mitte der 1920er Jahre virulenten politischen Metaphern. Benjamin fasst das Arrangement der Bildung und Tradierung von Lyrik in einen Rahmen, der der Komplexität des biografischen und generationalen Orts gerecht wird, an dem Schreiber, Adressat und Vermittler stehen – Franz Hessel und Karl Wolfskehl kannten sich bereits zu Jahrhundertbeginn in der Münchner Bohème, als Benjamin noch ein Kind war. Benjamin, Wolfskehl und Hessel waren als freie Schriftsteller und Gelehrte degradiert und vom Feuilletonmarkt abhängig geworden. Alle drei waren von George geprägte deutsch-jüdische Künstler-Philologen, die die künstlerisch-philologische Tradition des 19. Jahrhunderts, die in einer problematischen Weise an Konzepte des nation building gebunden blieb, in die Zukunft transformieren wollten – obwohl sie durch den Ersten Weltkrieg ihrer bürgerlichen Existenzprivilegien zugleich erstmals wirklich gewahr wurden wie gleichzeitig ihrer beraubt.
Der Umweg, den Benjamins Text dabei von der deutsch-esoterischen Bildungswelt über eine als ,jüdisch‘ markierte Vorzeit nimmt, aber nicht ausspricht, besteht in den französischen Bezügen. In Hessels Zimmer als Ort der Transposition klingen sie an: Hessel übersetzte zusammen mit Benjamin Prousts Im Schatten der jungen Mädchen (À l’ombre des jeunes filles en fleurs). Die Proust’sche ,mémoire involontaire‘ wird in der Erinnerung des Lenau-Gedichts an die summende Stimme und deren kreatürliche Allegorie der summenden, nicht mehr befruchtenden Biene183 in der Mittagsstille evoziert. Der linguale Geschmack der vorgelesenen und damit gehörten Sprachblüte und das Summen der lesend, also über den Sehsinn erinnerten Stimme legen ein textuelles punctum,184 den Einstich einer ästhetischen Gedächtnisspur, aus. Benjamins mythologische Spekulation der zarteren schwebenden Gestalt, die der Götterbote Hermes mit allen anderen Göttern eingehen kann, führt auf Wolfskehls hermeneutisch-kreatürliche „Witterung“ zurück – ein Zusammenführen der Extreme antimythologischer ,messianisch‘ disruptiver Geschichtsvorstellung und eines Kontinuums von der Antike hin zur ,deutschen‘ Klassik.
Das physiognomische Schlusstableau des Prosatexts, in dem der „zu noch späterer Stunde eingetroffene“ Kritiker-Autor, das Ich Benjamins, Wolfskehls Gesicht und Gestalt in dessen „unlesbare“185 Schriftlinie versenkt und nach dem Schlüssel fragt, hat damit in der ,Witterung‘, im ,Summen‘, im ,Geschmack‘ die vergegenwärtigten physiologischen Effekte, die ein komplexes somatisches Wissen im Medium des ästhetischen Gedächtnisses bezeichnen. Damit ist das ,destruktive‘ Eingedenken an die multiplen Bildungserlebnisse, an die Kraft der klassischen Lyrik, das generationale Wissen des Bildungsbürgertums in der handlichen Situation eines Sammlers bewahrt. Dieses Wissen ist in der anthologisierten Lyrik markiert, die aneinandergereiht und laut gelesen in einem geschlossenen kultischen Kreis keine produktive Rezeption erzielen kann – die entwertet, „aus der Hand gegeben“ ist.
5.8 ,Integrale‘ Prosa, provorsa statt Autorität und Klassik
In den Transpositionen einer solch prekären Bildlichkeit figuriert Benjamin ein Anthologisches Schreiben, das sich gleichermaßen respektvoll vor der philologischen Leistung des Adressaten Karl Wolfskehl verneigt, wie es gegen die überkommene Vorstellung der monumentalen Anthologie als heroischem nationalphilologischem Bildungserlebnis Stellung bezieht. Die Verwicklung von erinnerter mimetischer Verwandlung durch die Stimme und ein Bild-Arrangement im erinnernden, veräußerlichenden Schreiben fügt einen geschichteten Komplex an biografischer Erfahrung, rezeptionsästhetischer Momente einer singulären Buchästhetik und kritischer Entstellung und Distanzierung generationalen Wissens zusammen, ohne dass eines der Elemente prävalieren würde. Die Verschichtung unterschiedlichster Elemente schafft eine Singularität, die dem Angeredeten Wolfskehl einen Standort am Rand des kultischen Kreises um George beimisst, ohne dass die politisch-ästhetische Problematik des Kultus um den Dichterpolitiker George ausgeblendet würde. Aber auch ohne dass der anachronistische Standort des deutschen Juden Wolfskehl geopfert würde – die Opferung, ja die „Schlachtung“,186 bleibt der Benjamin’schen Kritik von Max Kommerells „Meisterwerk“187 Der Dichter als Führer der Klassik im Jahr 1930 vorbehalten. Bei Wolfskehl ist es hingegen eine Erinnerung: über das physiologische Material der Bucharchitektur wie der räumlichen Dispositionen schreibt sich ein Soma aus – die (Gedächtnis-)Karte des Lebens, der wichtigen Begegnungen, wie sie in der Erfahrung der Stadt Berlin grafisch gegliedert und damit in die Nähe der anthologischen Form in der Berliner Chronik beschrieben sind.
Ich will von diesem Nachmittag sprechen, weil er so kenntlich macht von welcher Art das Regiment ist, das Städte über die Phantasie führen und warum die Stadt, in der die Menschen am rücksichtslosesten einander beanspruchen, die Verabredungen und Telefongespräche, die Sitzungen und Besuche, der Flirt und der Lebenskampf dem Einzelnen keinen […] beschaulichen Augenblick können, in der Erinnerung ihre Revanche nimmt und […] der Schleier, welchen sie im Verborgnen aus unserm Leben gewirkt hat, weniger […] die Bilder der Menschen als die der Schauplätze zeigt, an denen wir andern oder uns selber begegneten. […] Da kam […] mit zwingender Gewalt der Gedanke über mich, ein graphisches Schema meines Lebens zu zeichnen […].188
Das letzte Bild des kurzen Wolfskehl-Portraits markiert als Abschluss der Transpositionen und Substitutionen den Gattungswechsel – und gibt einen Wink auf die Vorstellung einer integralen Erlösung der diversen Sprachen als deren Auflösung in der universell verstehbaren Sprache, wie sie Benjamins Schreiben immer wieder figuriert. Eine etwaige kultische Zeit der Gedichte ist, wie die Zeit der Sagen, zwar längst abgelaufen in der Moderne; weil es aber weltgeschichtliche Refugien gibt, ,Häuser‘ – die George-Schule als Identifikationsangebot der deutsch-jüdischen Intellektuellen und Geisteswissenschaftler –, lohnt sich der Gang zu den Ursprüngen, um das sektiererische Nachleben des Ruhms anthologischer Pracht entlang ihrer monumentalisierten Vorwelt in die Teilung der Stimme in Semantik und Physiologie, Summen und Sagen, ihre kreatürliche Vorzeit zu ergänzen. Benjamin hat 1938 Adorno gegenüber davon gesprochen, die gesamte Moderne unter dem Signum des Jugendstils (repräsentiert durch Mallarmé und George) als des stilisierenden Stils par excellence rubrizierend kritisch verwerten zu wollen.
Das Schlussbild trägt die literaturpolitische Auseinandersetzung bildkritisch aus, die Benjamin an anderer Stelle, in seinen literaturkritischen Beiträgen zu George und zum George-Kreis, unter dem Motiv des „Zu-spät-Gekommenen“ explizit entwickelt hatte.189 In der Erinnerung dieser Prosaminiatur wird eine kleine Ästhetik des Lyrischen entfaltet, die in der Kette der Veräußerung des Innern eine sublime Kritik nicht nur des – erkenntnisperspektivisch von außen nach innen gerichteten – physiognomisierenden Pathos der essayistischen Gelehrtendarstellungen im George-Kreis vornimmt, sondern die Idee einer ,Fortpflanzung des Lyrischen’ als eines angeblichen Naturzusammenhangs mündlicher Überlieferung insgesamt kritisch infrage stellt. Es sind die ,verspäteten‘ kulturellen und die anachronistisch-aktuellen geistleiblichen Vorzeiten des Summenden, des tradierten Rhythmus, des Buchgewands, des Zimmers, deren Materiales die ästhetische Purifikation der Vorstellung einer körperlosen Produktion und Rezeption, wie sie im mündlich übertragenen und tradierten Gedicht ein Refugium haben könnte und wie es durch die Ideologie des Gedichts – „den leib vergottet und den gott verleibt“190 – auf ihren problematischen Höhepunkt getrieben ist, durchkreuzen.
Das ,Unvergessliche‘ einer späten Stunde der Zusammenkunft erhebt sich als mnemotechnisch gebauter Gang auf einem Feld von Äußerlichkeiten, die es dem Erzähler-Ich ermöglichen, das Gedicht als Raum poietischen Hörens zu rearrangieren und als über Freundschaftsbeziehungen vermittelten und gestaffelten Gang in eine innere Wahrnehmungswelt der Gedichte darzustellen. Damit ist eine immanent vollzogene, bildkritische191 Defiguration am Beschwörungskult von auf Führerschaft ausgerichtetem sagendem Befehl und gebannter Unterwerfung angelegt und vollzogen. Die Immanenz dieser Transfiguration wird im (verwandlungsfähigen) Schmetterling – Emblem der Philologie – zur Mittagszeit und im späten Vogel kenntlich. Die Konsequenz für den kritischen Produzenten liegt darin, Gedichtetes als prosaisch Anonymes im erzählenden Kommentarwerk zu rekonstruieren, damit die Widerständigkeit einer methodischen Übertragung eine Pluralisierung der Stelle, ihre Konstellation eine Transfiguration erwirkt.
Die Revokation einer starken ästhetischen Erfahrung, eines auratischen Erlebnisses der Dichtung in den Grenzen der Gruppe ist damit als Fingierung belegt und zugleich in ihren ambivalenten gesellschaftlichen und bildungspolitischen Wirkungen analysiert. Den Nachweis der ,Echtheit‘ und deren Traditionsgebundenheit in der dichterisch-philologischen Produktion und Interpolation wird Benjamin später, marxistisch, als dialektischen Ort der politischen Aneignung des reproduktiv gewordenen Kunstwerks zu fassen versuchen. In dieser Konstellation wird damit auch seine ,verschwiegene‘ Antwort auf die Versuche der antisemitischen Literatur- und Kunstwissenschaft sichtbar. Eine gängige Praxis in der Germanistik der 1920er Jahren bildete etwa das Narrativ, jüdische Autoren als ,unechte‘ Künstler anzuprangern, die von der Arbeit anderer leben würden, Texte aus zweiter Hand erhielten und diese „über die Maße erotisieren, politisieren oder spiritualisieren, um sie zu Geld zu machen.“192 Denn trotz alledem ist die Erfahrung der Stimme eine geblieben, die aller gesellschaftlichen Vermittlungen und Abstraktionen zum Trotz Erfahrung – oder Erfahrungsarmut, Erfahrungslosigkeit –, also etwas, mitteilt.193 Auch für Benjamin: Die starke Erfahrung der Stimme, der Musik, der Klage bildete den Ursprung seines Trauerspielbuchs, wie er Hofmannsthal mitteilt.194 Dieser wird auch dort aufgerufen, wo Benjamin sein „dialektisches Bild“ einer „Geschichte“ konzipiert, „der das Buch des Lebens zugrunde liegt“: „,Was nie geschrieben wurde, lesen‘“, heißt es bei Hofmannsthal.195 Die Sprache der messianischen Universalgeschichte ist weder geschrieben noch gesprochen – sondern in der „von Festgesängen“ „gereinigten“, „festlich begangene[n]“ Sprache der „Sonntagskinder“ kenntlich, „die die Sprache der Vögel“ verstehen“.196
Benjamins spekulative Idee einer wahren, gewissermaßen das Menschheitskollektiv und alle Kreatur umspannende „Prosa“ aufnehmend, hat Giorgio Agamben in einem kurzen Text eine ebenso spekulative etymologische Figur etabliert,197 die sich für eine Theorie der Prosa fruchtbar machen lässt. Ralf Simon hat dies in seiner Theorie der Prosa zu systematisieren versucht. Simon zufolge organisiert die Lyrik die Wende in die poetische Selbstreferenz zunächst über das Versende (visuell), während die Prosa eine solche Wende in jedem einzelnen Element bis hin zum Buchstaben vollzieht (wahrnehmungstheoretisch). Diese – in Agambens agrarischer Metaphorik – ,Furchung‘ bezeichnet ein Sprachmodell, bei dem die Sprache, im Ausschwingen bildkritischer Defiguration, immer sofort, aber in Gegenrichtung, an sich selbst vorbeikommt und auf engstem Raum Korrespondenzen entstehen lassen kann. Die Sprache der Prosa folgt nicht dem referenziellen Etwas der Erzählung, sondern tritt in Konkurrenz zur Lyrik,198 wie es Simon formuliert.
Im Prosaporträt zu Wolfskehl ist dies wiederum architektonisch als Bauprinzip und rhythmisch als Wiederholungsprinzip vollzogen: In der Mitte des Prosaflusses erheben sich drei Verszeilen, deren akustischer Bau von den feindifferenten Binnenwegen geprägt ist, die in der Kehle zwischen den Lautfolgen l/m, b/l, l/r, vorkommen. Flankiert sind die drei äußerst unfestlichen, unpathetischen, auf Moll gestimmten ,schläfrigen‘ Verse (die das fortgesetzte aber vom Text unausgesprochene Lesen der weiteren vierzig trochäischen Verse des Gedichts einfassen) von zwei Prosazeilen, die Wolfskehl in einer Kehre, Kehle, zweimal (-el/-er) als Lesenden aufrufen: -kehr-, les-, -kehl … Die inwendige Verspiegelung der Kehre der kleinsten Differenzen in der Substitution der Buchstaben wie der, in aufsteigender Perspektive, Wortbestandteile, Worte, Verse, Sätze, Abschnitte, Texte, Werke, Bücher, Anthologien, der gesamten Klassik – fügt sich auf den Eigennamen199 – fügt sich in die Kehle aller Lesenden und bezeichnet die sich öffnenden uferlosen Abgründe einer Sprache ohne Festgesänge, den Vögeln und Sonntagskindern kenntlich. Prosa, provorsa, mit einem Wort Benjamins (dessen zweiter, auch seinen engsten Freunden kaum bekannter Vorname Schoenfließ lautete): die schöpferische Indifferenz im Fluss geschriebener, gesungener, gesprochener Sprache. „Vieles schließt sich um ein Gedicht“, vieles schließt sich um die (des-)anthologisierten Blüten- und Blumenschätze: gesellschaftliche Strukturen, biografische Erfahrungen, generationales (Un-)Wissen. Ebenso findet sich aber auch im „Innern“, im Philologischen, in den Kehlungen und Kehrungen, den kleinen Binnendifferenzen Aufschluss – über die Vögel, über die Wörter.200
Aus der Mitte des Porträt schaut der Leser Wolfskehl als Anthologist der Klassik nach George. Das von Benjamin betonte unscheinbare Gewand des Mediums Anthologie erhält damit eine neue Note. In gattungsspekulativer Perspektive als anthologisches Schreiben evoziert eine ausgenüchterte Prosa die Einfassung von ein paar wenigen anthologisierten Versen gegen ein von sprachfremden Werten vereinnahmtes monumentalisiertes kriegsstarres Anthologisieren, wie es in den gleichermaßen von sprachexternen Intentionen der Volksbildung oder der ästhetizistischen Kreisbildung geprägten Buchschätzen vorliegt.
So findet sich im kumulativ-bildmächtigen Abschluss von Benjamins Wolfskehl-Porträt eine bildkritische De-/Figuration auf einige zentrale Erfahrungsgehalte der gesellschaftlichen Situation, Biografie und Generation, in die der Autor den Porträtierten, sich selbst und den Vermittler Franz Hessel einzeichnet. Das anthologische Schreiben, das Blütenlesen, wird in unsinnlicher Ähnlichkeit zum Eingedenken der Anthologie als Medium – als Schauplatz einer Situation, die die Geschichte (und politische) Zukunft dieser drei deutsch-jüdischen Intellektuellen und Schriftsteller nach dem nationalistischen Krieg geprägt hat und prägen wird. Der Rhythmus der Bilder des Porträts nivelliert und versöhnt Schöpfung und Geschichte nicht, „sondern [reflektiert] die doppelte Bezugnahme auf profane und religiöse Vorstellungen als Doppelreferenz, die kritisch von außen gestiftet wird“201 – anstelle von latenter Zweideutigkeit im Innern des anthologischen Sagenbaums.
Was Benjamin hier als ,Lebensbild‘ fasst, sieht er später nur noch in einer materialistischen Konstruktion für möglich: Das „Dichterleben“ ist einzig in einer „historischen Nachwirkung“ zu fassen.202 Der Anspruch auf eine klassisch-idealische, normative Repräsentativität in Anthologisierungsprozessen wird nicht allein durch eine politisch-messianische Aktualität ihrer ,Wirkung‘ ersetzt, sondern durch ein relationales Verhältnis im Horizont gesellschafts- und bildungspolitischer Prämissen. Diese bilden die Folie für die ästhetische Produktion jener ,Intelligenz’, deren Anspruch damit sowohl über die Funktion des Kritikers wie jene des Historikers hinaustritt und – insbesondere nach der ,Moskau‘-Erfahrung prägend geworden203 – sich nicht in die (kommunistische) Parteidisziplin einbinden lässt. Anhand des Verhältnisses und der Entwicklung Benjamins zu marxistischen Kunsttheoretikern wie Plechanow und Mehring und vor dem Hintergrund von Texten von Lukács ist jüngst für die Erweiterung eines Zentralbegriffs von Benjamin, der „Aktualität“, plädiert worden.
Die privilegierte Beziehung des Kritikers zum sich in der Geschichte entfaltenden Kunstwerk, in dem Geschichte ,lesbar‘ wird, wird durch Fragen gesellschaftlicher Teilhabe durch Bildung als Literatur erweitert, herausgefordert und demokratisiert, ohne die geschichtsphilosophische Perspektive aufzugeben, die als Weltgeschichte rekonzeptualisiert wird.204
Diese Rekonzeptualisierung ist der weitgreifende Versuch Benjamins ab Mitte der 1920er Jahre, sein dem Neukantianismus verpflichtetes Theorievokabular für „analytische Beschreibungen von Prozessen der Erfahrungsbildung“205 nutzbar zu machen: Daraus ergibt sich der „anthropologische Produktionskreis“206 der essayistischen Texte Benjamins. Die Genese ihrer historischen Konstruktion zu aktualisieren und damit einen Mehrwert der Philologie zu postulieren (August Boekhs Erkenntnis des Erkannten als Formel der Philologie207 ), wäre ebenso zur Wirkungslosigkeit verurteilt wie die Unbeurteilbarkeit des Kanons als solche weiter zu behaupten und sich davon absolut zu verabschieden.
Innere und äußere Gründe führen dazu, dass sich Benjamins Verhältnis zu Publikum und Öffentlichkeit nach dem Scheitern seines Habilitationsverfahrens 1925 verändert. Die Prämisse einer „von Folgen begleitete[n]“ Produktion,208 unter die Benjamin sein Schreiben nach der ,Umschmelzung‘ seiner ,Gedankenmasse‘ hin zum historischen Materialismus fortan stellt, impliziert einen methodischen Umweg: Was Folgen zeitigt oder eine Folge ist, lässt sich nicht forcieren, wohl aber provozieren. Zentrale Begriffe seines Frühwerks wie ,Idee‘ oder ,Ausdruckslosigkeit‘ sind ab Ende der 1920er Jahre aus seinen Schriften verschwunden. Dies ist als deutliches Indiz dafür zu nehmen, dass das autor- und werkzentrierte Interpretieren unter dem Paradigma der Produktion einen neuen Ort erhält. Benjamin verzichtet auf die ungebrochene Fortführung eines hegemonial gedachten Verhältnisses von Autor- bzw. Herausgeberschaft zum Publikum, sondern vollzieht mit philologisch-historischer Entzifferungsarbeit in Zitatkonstellationen und Begriffspersonen eine Rekonfiguration dessen, was einmal ein in philosophischer Autorität und philologischer Klassik verankertes hierarchisches Gebilde bezeichnete.
Die formprozessierenden Momente der Wahrnehmung und Erfahrungsbildung rücken ins Zentrum für die Ausprägung von Funktionsbildern, in denen aisthetische Techniken monadisch darstellbar sind, ohne losgelöst zu sein und damit zu reiner Gleichnisrede zu verkommen: „Aufmerken und Gewöhnung, Anstoß nehmen und Hinnehmen sind Wellenberg und Wellental im Meer der Seele“. Benjamin deutet die Taktilität des Inneren im Funktionsbild hinsichtlich der künstlerischen Tätigkeit aus:
Bedenkt man, wie der Schmerz ein Staudamm ist, der der Erzählungsströmung widersteht, so sieht man klar, dass er durchbrochen wird, wo ihr Gefälle stark genug wird, alles, was sie auf diesem Weg trifft, ins Meer glücklicher Vergessenheit zu schwemmen. […] Im Traum kein Staunen und im Schmerze kein Vergessen, weil beide ihren Gegensatz schon in sich tragen, wie Wellenberg und Wellental bei Windstille ineinander gebettet liegen.209
Es ist das Erzählen, die schöpferische Indifferenz künstlerischen Bearbeitens und philosophischen Reflektierens, das den Schmerz verflößt – den Schmerz des historischen, postmetaphysischen (wohl männlich vorgestellten) Menschen an der unabdingbaren ästhetischen Arbeit, Sinn für das ,eigene‘ Leben zu produzieren, ohne Repräsentationslogiken zu verfallen. Die „Techniken“,210 im weitesten Sinn als aisthetischer Apparat der, mit einer Anleihe bei Marx, erstmals als Menschheit zu denkenden Gattungsform, rücken ins Zentrum von Benjamins Nachdenken über Politik. Die Techniken in den geschichtlich vorliegenden Formen, speziell dem blühend zerfallenden Traditionsprodukt ,Anthologien‘, als ,gemeinte‘ zu erkennen und politisch zu aktualisieren, wird dann das Projekt der unabgeschlossenen Passagenarbeit werden.
Das komplexe Umfeld dieser mit Begriffsarbeit verbundenen und deshalb nicht linear verlaufenden Schreibprozesse Benjamins von Mitte der 1920er bis Mitte der 1930er Jahre hat sich im materialen und metaphorischen Raum des Traditionsmediums Anthologie abgespielt. Eine der wichtigsten Folien der Auseinandersetzung bildete dabei die Person – oder besser: das ,Phänomen‘ Rudolf Borchardt. Der abschließende 6. Teil meiner Dissertation widmet sich den anthologischen Konstellationen dieses Benjamin in vielem verwandten Dichters und Denkers.
Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, GS I.1, S. 123–201, hier S. 161.
Benjamin/Haas: Vom Weltbürger zum Großbürger, GS IV.2, S. 815.
Benjamin: Der destruktive Charakter, GS IV.1, S. 396–398.
Walter Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, GS IV.1, S. 388–396, hier S. 390.
Lindner: Zu Traditionskrise, Technik, Medien, S. 453.
Ein interessantes Gegenbild dazu mag sich in Simmels Auseinandersetzung mit der Ruine als Formwerdungsmoment finden, die als weitgefasstes Funktionsbild zwischen Natur und Kultur auch in Benjamins Trauerspielbuch begrifflich versinnlicht ist. Vgl. Aleksandra Prica: Ruine. Versuch über die philosophische Kehrseite bei Georg Simmel, in: Natalie Pieper/Benno Wirz (Hg.): Philosophische Kehrseiten. Eine andere Einleitung in die Philosophie, Freiburg/Br./München 2014, S. 273–297. Vgl. meine Rezension dieses Sammelbands in: Variations. Literaturzeitschrift der Universität Zürich 23/2015, S. 212–213.
Stingelin: Einleitung: „Schreiben“.
Jürgen Habermas: Bewusstmachende oder rettende Kritik – die Aktualität Walter Benjamins, in: Siegfried Unseld (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt/M. 1972, S. 173–224, hier S. 176.
Zu den zentralen Setzungen dieser Kontroverse unter dem Aspekt von Benjamins Verhältnisbestimmung von Philologie und Philosophie, vgl. Forrer: „Andacht zum Unbedeutenden“, S. 49–53.
Benne: Die Erfindung des Manuskripts, S. 623.
Vgl. Astrid Deuber-Mankowsky: Praktiken der Illusion. Kant, Nietzsche, Cohen, Benjamin bis Donna Haraway, Berlin 2007, bes. S. 203–221, hier S. 215, sowie Campe: „Die tiefste Bestätigung des Daseins der Dissonanz“, S. 32–33.
Vgl. die Lektüren in Helmut Hühn/Uwe Steiner/Jan Urbich (Hg.): Benjamins Wahlverwandtschaften. Zur Kritik einer programmatischen Interpretation, Berlin 2015.
Vgl. Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte, S. 109–126.
Uwe Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den frühen Schriften Walter Benjamins, Würzburg 1989, S. 274.
Norbert von Hellingrath: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe [1910], Jena 1911, S. 5–6. Die Schrägstriche stehen so im Erstdruck, die Kleinschreibung ist typisch für die Publikationen des George-Kreises. Zu Hellingrath, vgl. Jürgen Brokoff/Joachim Jacob/Marcel Lepper (Hg.): Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne, Göttingen 2014.
Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, GS I.1, S. 181–182.
Vgl. Saner: Ingenium der Politik.
Steiner: Geburt der Kritik, S. 276–277.
Walter Benjamin: Exposé [zu Ursprung des deutschen Trauerspiels], GS I.3, S. 950–952, hier S. 952.
Benjamin: Der destruktive Charakter, GS IV, S. 396–398, hier S. 398.
Steiner: Geburt der Kritik, S. 269.
Walter Benjamin an Florens Christian Rang, 9.12.1923, GB II, S. 390–397, hier S. 392–393.
Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Dritte Fassung], in: ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Bd. 16: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, hg. v. Burkhardt Lindner, Berlin 2013, 96–141, hier S. 137.
Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, GS I, S. 112.
Walter Benjamin: Vereidigter Bücherrevisor, in: Einbahnstraße (WuN 8), S. 29–31, hier S. 30.
„Lukács hat als erster diese unsere Ideen publik gemacht“ [bezogen auf die Gruppe der Intellektuellen, die die Zeitschrift Krise und Kritik gründen wollten, F.S.], so der mitbeteiligte Ernst Bloch, zit. n. Doris Zeilinger: Georg Lukács und Ernst Bloch. Geschichte und Klassenbewusstsein als Kristallisationspunkt; http://www.trend.infopartisan.net/trd0502/t270502.html (letzter Aufruf: 24.4.2022).
Umfassend zu diesem Projekt vgl. Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/M. 2004, S. 115–163.
Vgl. die begriffliche Fixierung dieses Gedankens später in Benjamins Vortrag „Der Autor als Produzent“ [1934], GS II.2, S. 683–701.
Benjamin: Das Passagen-Werk, GS V.1, S. 595. Benjamin zitiert hier Friedrich Engels.
Vgl. Müller/Wizisla: „Kritik der freien Intelligenz“, S. 61–76.
Benjamins anhand von Proust und der Surrealisten herausgearbeitete Genealogie der Krise der Intelligenz findet besonders in seiner Rede „Der Autor als Produzent“ von 1934 (postum erschienen 1966) Ausdruck (GS II.2, S. 683–701); vgl. Chryssoula Kambas: Positionierung des Linksintellektuellen im Exil, in: Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch, S. 420–435, hier S. 431–434.
Benjamin: Der destruktive Charakter, GS IV.1, S. 396–398, hier S. 396; ders.: Notizen über den „destruktiven Charakter“, GS IV.2, S. 999–1001, hier S. 1000.
Zum Begriff der Erfahrungsarmut vgl. Lindner: Zu Traditionskrise, Technik, Medien, S. 453–455.
Walter Benjamin: Erfahrung und Armut [1932], GS II.1, S. 213–219, hier S. 214.
Wizisla: Benjamin und Brecht, S. 162.
Walter Benjamin an Max Rychner, 7.3.1931, GB IV, S. 17–20, hier S. 18.
Benjamin: Ein deutsches Institut freier Forschung, GS III, S. 518–526, hier 525.
Vgl. dazu die Arbeiten von Sigrid Weigel, die Benjamin im Rahmen der ersten Generation der deutschen Kulturwissenschaft (Warburg, Cassirer, Kracauer, Freud) verortet; Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte, S. 21.
Vgl. ebd.
Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I.1., S. 203–430, hier S. 207.
Walter Benjamin: Pariser Passagen I [1929], GS V.2, S. 993–1038, hier S. 1027.
In Bezug auf die verschiedenen Fassungen des Kunstwerkaufsatzes hat dies Burkhardt Lindner überzeugend dargelegt, vgl. Burkhardt Lindner: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Ders. (Hg.): Benjamin-Handbuch, S. 229–250.
Vgl. Jan Loheit: Benjamins Material. Oder der Stoff, aus dem die Wunschbilder sind, in: Baehrens/Voigt/Tzanakis Papadakis/Loheit (Hg.): Material und Begriff, S. 261–285, bes. S. 264–267.
Vgl. Arburg/Tremp/Zimmermann (Hg.): Physiognomisches Schreiben.
Valentin M. Volosinov: Marxismus und Sprachphilosophie [1929], hg. u. eingel. V. Samuel M. Weber, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1975, S. 145.
2014/2015 habe ich am Forschungskreis Hinwendung zum Materialen. Nietzsche und die Kulturwissenschaften um 1900 an der Universität Luzern teilgenommen. Ich danke dem Interdisziplinären Forschungskreis, besonders Dr. Tobias Brücker und Dr. Thomas Forrer, für Hinweise und Gespräche zum Begriff des Materials.
Alexander Kluge im Gespräch mit Dietmar Dath, in: Alexander Kluge: Nachrichten aus der ideologischen Antike – Marx – Eisenstein – Das Kapital (3 DVDs mit einem Essay von Alexander Kluge; 570 Minuten), Frankfurt/M. 2008.
Vgl. die dritte von Benjamins Geschichtsthesen (1939/1940): „Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne große und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, daß nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist.“ Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, GS I.2, S. 694.
Benjamin: [Rezension zu] Oskar Walzel, Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung. Leipzig: Quelle und Meyer 1926. XVI, 349 S., GS III, S. 50–51, hier S. 51.
Benjamin: Das Passagen-Werk, GS V.2, S. 1033.
Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS. I.1, S. 208; vgl. Willy Bolle: Physiognomik der modernen Metropole: Geschichtsdarstellung bei Walter Benjamin, Köln/Weimar/Wien 1994, S. 410–411.
Rolf Tiedemann: Einleitung, in: Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, hg. v. Rolf Tiedemann, GS V.1, S. 29.
Theodor W. Adorno: Benjamin der Briefschreiber [1962], in: Ders.: Noten zur Literatur (GS 11), S. 583–590, hier S. 586.
„Gute Formulierung von Bloch zur Passagenarbeit: die Geschichte zeigt ihre Marke von Scotland Yard. Das war im Zusammenhang eines Gesprächs, in dem ich darlegte, wie diese Arbeit – vergleichbar der Atomzertrümmerung, die die ungeheuren Kräfte freimacht, welche die Atome zusammenhalten – die ungeheuren Kräfte der Geschichte freimachen soll, die im ,es war einmal‘ der klassischen historischen Erzählung eingeschläfert werden. Die Geschichte in dem Bestreben die Sache zu zeigen, ,wie sie denn eigentlich wirklich gewesen ist‘ war das stärkste Narkotikum des 19ten Jahrhunderts“, Benjamin: Pariser Passagen, GS V.1, S. 1033.
Walter Benjamin an Theodor W. Adorno, 7.5.1940, GB VI, S. 444–455, hier S. 445.
Vgl. Benjamin: Das Passagen-Werk, GS V.1, S. 574.
Norbert W. Bolz/Richard Faber (Hg.): Walter Benjamin. Profane Erleuchtung und rettende Kritik, Würzburg 1985, S. 146.
Georg Benjamin hatte von Kind an eine Affinität zur peniblen Erstellung von Listen, etwa auch seiner Spielzeuge; vgl. Howard Eiland/Michael Jennings: Walter Benjamin. A Critical Life, Cambridge/London 2014, S. 19.
Walter Benjamin: [Die Sätze Hebels], GS II.3, S. 1447–1448, hier S. 1448. Hierbei handelt es sich um eine Aufzeichnung zum Vortrag „Johann Peter Hebel. 3“, GS II.2, S. 635–640.
„Das Ausdruckslose ist die kritische Gewalt, welche Schein vom Wesen in der Kunst zwar zu trennen nicht vermag, aber ihnen verwehrt, sich zu mischen.“ Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, GS I.1, S. 181.
Benjamin: Ein deutsches Institut, GS II.2, S. 525.
Müller/Wizisla: „Kritik der freien Intelligenz“, S. 75.
Benjamin: Das Passagen-Werk, GS V.1, S. 577 und 582.
Vgl. ebd., S. 580; Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt/M. 1997, S. 39–44.
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, GS I.2, S. 695.
Walter Benjamin: Über die Malerei oder Zeichen und Mal, GS II.2, S. 603–607.
Vgl. René Magritte zit. n. Mattenklott: Ähnlichkeit, S. 179–180.
Vgl. Benjamin: Vereidigter Bücherrevisor, S. 29–30.
Vgl. dazu meinen Beitrag „Klassik – Zitat – Nachleben. Walter Benjamin als Produzent“, in: Heine/Zanetti (Hg.): Transaktualität, S. 73–82.
Vgl. Walter Benjamin an Gershom Scholem, 16.9.1924, GB II, S. 480–488, hier S. 482–483: „Lukács, der mich darin frappierte, dass er von politischen Erwägungen aus in der Erkenntnistheorie, mindestens teilweise, und vielleicht nicht ganz so weitgehend, wie ich zuerst annahm, zu Sätzen kommt, die mir sehr vertraut oder bestätigend sind.“.
Jean Michel Palmier: Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin [frz. 1998], Berlin 2019, S. 421 (Hervorh. im Orig.).
Benjamin: Kapitalismus als Religion [1921], GS VI, S. 100–101; ausführliche Lektüren und Deutungen in Baecker (Hg.): Kapitalismus als Religion; Steiner: „Kapitalismus als Religion“, S. 167–174.
Benjamin: Deutsche Menschen (WuN 10), S. 100
Ebd., S. 10.
Vgl. ebd., S. 10, 94, 100; der Brief, ebd., S. 101–104.
Vgl. Barbara Hahn: Die Folgen eines seltsamen Buches, in: Dies./Wizisla (Hg.): Walter Benjamins „Deutsche Menschen“, S. 68–90.
Werner Hamacher: Unlesbarkeit, in: Paul de Man: Allegorien des Lesens [1979], übers. und hg. v. Werner Hamacher/Peter Krumme, Frankfurt/M. 1988, S. 7–26, hier S. 14.
Hamacher: Unlesbarkeit, S. 14.
Vgl. de Man: Allegorien, S. 162.
Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, S. 344.
Vgl. Anselm Haverkamp: Allegorie, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1: Absenz – Darstellung, hg. v. Karlheinz Barck, Stuttgart/Weimar 2000, S. 49–70, hier S. 56–57. Haverkamp führt mit Verweis auf Riemers Griechisch-Deutsches Hand-Wörterbuch (Jena/Leipzig 1820) eine etymologische Unterscheidung zwischen gr. Tropē und metaphora an: Reimer übersetzt metaphora mit Allegorie, führt aber unter tropos zusätzlich zu der Standardübersetzung „Wendung“ auch die grammatisch-syntaktische „Stellung“ an, welche, nach Haverkamp, „die tropologische Voraussetzung dafür ist, dass es von der Metapher zur Allegorie kommt.“
Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, S. 434–435 (Aphorismus 79).
Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, 434–435 (Aphorismus 79), Herv. i. Orig.
„ungeheure Lüsternheit“ / „ungeheure Beredtsamkeit des Verlangens und des Heisshungers“ / „über sein Werk und alle Werke hinaus“ / „Flügel, um so hoch zu steigen, wie Zuhörer nie sonst steigen“.
In der Kritik des bürgerlichen Bildungsbegriffs und den Bezügen zu einer ,Berliner Kindheit‘ in der Gründerzeit läge noch weiteres Potenzial für den Vergleich Benjamins mit Borchardt. Vgl. den Ansatz von Kai Kauffmann, der sich vor allem für die sprachliche Exponierung der ,Kindheit‘ interessiert. Kai Kauffmann: Rudolf Borchardts und Walter Benjamins Berliner Kindheiten um 1900, in: Zeitschrift für Germanistik NF, 8, 2/1998, S. 374–386.
Deuber-Mankowsky: Praktiken der Illusion, S. 210, in Bezugnahme auf den amerikanischen Kant – und Benjaminforscher Peter Fenves.
Vgl. Lindner: Zu Traditionskrise, Technik, Medien, S. 462.
Walter Benjamin: Antoine Wiertz: Gedanken und Gesichte eines Geköpften, GS IV.2, S. 805–808.
Vgl. Walter Benjamin: Einmal ist keinmal, in: Ders.: Einbahnstraße (WuN 8), S. 89–90.
Vgl. Walter Benjamin: Weimar, in: Ders.: Einbahnstraße (WuN 8), S. 121–123. Zu diesen Texten vgl. Klaus Garber: Benjamin als Briefschreiber und Kritiker, München 2005.
Benjamin, zit. n. Anmerkungen der Hg., GS, I.3, S. 1160: „Scheidungen von Beginn weg sind immer Scheidungen innerhalb dieses höchsten gemischten Gegenstands selbst und den kann man sich garnicht genug gemischt, garnicht unkritisch genug vergegenwärtigen.“
Vgl. Walter Benjamin: Zu [Scheerbart:] „Münchhausen und Klarissa“, GS VI, S.147–148, hier S. 148.
Als Benjamin’sches Arbeitsprinzip beschreibt dies Uwe Steiner: Der wahre Politiker. Walter Benjamins Begriff des Politischen, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 25, 2/2000, S. 48–92, hier S. 76; Uwe Steiner: Walter Benjamin, Stuttgart 2004, bes. S. 74–82.
Vgl. Jan Urbich: Darstellung bei Walter Benjamin. Die „Erkenntniskritische Vorrede“ im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne, Berlin/New York 2011, S. 319. Vgl. auch dessen dichte Bemerkungen zur Erkenntnistheorie des Erwachens in der Passagenarbeit, ebd. S. 314–316.
Ebd., S. 497.
Benjamin: Zum Planetarium, S. 75–76, hier S. 76.
Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 74, 73.
Walter Benjamin: Der Kampf der Tertia. Zur Berliner Uraufführung, GS IV.1, S. 532–533, hier S. 533.
Stefan Ripplinger hat in seinem Essay Mallarmés Menge die auf Mallarmé zurückführenden interessanten kunstpolitischen Bezüge herausgearbeitet; vgl. Stefan Ripplinger: Mallarmés Menge, Berlin 2019.
Rudolf Borchardt: Nachwort, in: Ders. (Hg.): Der Deutsche in der Landschaft, München/Zürich 1927, S. 485–500, hier S. 488.
Vgl. Peter Neumann: Der Deutsche in der Landschaft – Borchardt und Benjamin, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 5, 1/2020; DOI: https://doi.org/10.2478/kwg-2020–0024.
Vgl. Benjamin: Ankündigung der Zeitschrift Angelus Novus, GS II.1, S. 241–246, die folgenden Zitate ebd. Vgl. zu Benjamins Zeitschriftenprojekt Angelus Novus Uwe Steiner: „Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus“. „Zuschrift an Florens Christian Rang“, in: Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch, bes. S. 302–308.
Dies kommt insbesondere in Benjamins Briefwechseln mit Scholem, den er als Mitarbeiter gewinnen wollte, und mit dem Verleger Richard Weissbach zum Ausdruck; vgl. Walter Benjamin an Gershom Scholem, 4.10.1921, GB II, S. 194–198, hier S. 197 und passim.
Eiland/ Jennings: Walter Benjamin. A Critical Life, S. 5.
Benjamin: Ankündigung der Zeitschrift Angelus Novus, GS II.1, S. 242.
Der Editionsspezialist Roland Reuss hat Benjamins Übersetzung von Baudelaires Tableaux parisiens als Faksimile herausgegeben; Walter Benjamin: Tableaux parisiens. Mit dem Vorwort „Aufgabe des Übersetzers“ und Materialien zur Editionsgeschichte, hg. v. Roland Reuss, Frankfurt/M./Basel 2016. In der Zusammenstellung der Materialien der Editionsgeschichte (ebd. S. 17–36) ist der intensive Austausch dokumentiert, den Benjamin mit dem Verleger Weissbach über Druckproben und Typenwahl führte
Benjamin: Ankündigung der Zeitschrift Angelus Novus, S. 245.
Eiland/Jennings: A Critical Life, S. 4.
Benjamin: Einbahnstraße (WuN 8), S. 136–137. Diese Notizen bilden die Basis des Denkbilds „Kaiserpanorama“ in Einbahnstraße.
Benjamin: Einbahnstraße (WuN 8), S. 136–137. Damit kommen Benjamins Überlegungen dem religiösen Anarchismus Hugo Balls (Kritik der deutschen Intelligenz, Bern 1919) und Gustav Landauers (Aufruf zum Sozialismus, 1918, Briefe aus der Französischen Revolution, 1919) nahe.
Paul Klees aquarellierte Zeichnung aus Tusche und Ölkreide mit dem Titel Angelus Novus hatte Benjamin im Mai 1921 erworben.
Benjamin: Ankündigung der Zeitschrift Angelus Novus, GS II.1, S. 246.
Vgl. die Definition der Prosa in Walter Benjamin: Achtung Stufen! In: Ders.: Einbahnstraße (WuN 8), S. 29: „Arbeit an einer guten Prosa hat drei Stufen: eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie gebaut, endlich eine textile, auf der sie gewoben wird.“
Als Motiv ist es ebenfalls wegweisend in seinen Literaturkritiken, vgl. etwa die Kritik „Chronik der deutschen Arbeitslosen“ von 1937 zu Anna Seghers Roman Die Rettung; Walter Benjamin: Die Rettung, in: Ders.: Kritiken und Rezensionen (WuN 13.1), S. 495–503.
Vgl. Eckhardt Köhn: Nichts gegen die Illustrierte. Benjamin, der Berliner Konstruktivismus und das avantgardistische Objekt, in: Detlev Schöttker (Hg.): Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin und die Künste, Frankfurt/M. 2004, S. 48–69, hier S. 58.
Walter Benjamin: Tankstelle, in: Ders.: Einbahnstraße (WuN 8), S. 11.
Schöttker: Nachwort. Aphoristik und Anthropologie, S. 554–571.
Dettlev Schöttker: Aphoristik und Anthropologie. Von der Einbahnstraße (WuN 8), S. 554–569, hier S. 563.
Benjamin: Vereidigter Bücherrevisor, S. 30.
Ebd., S. 29.
Vgl. Rosalind E. Krauss: Die fotografischen Bedingungen des Surrealismus, in: Dies.: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hg. v. Herta Wolf, Amsterdam/Dresden 2000, S. 140; Köhn: Nichts gegen die Illustrierte, bes. S. 67–69.
Vgl. Köhn: Nichts gegen die Illustrierte, S. 68–69; Tristan Tzara: Die Photographie von der Kehrseite [frz. 1922, dt. 1924 in G. Zeitschrift für Gestaltung 3/1924], in: Benjamin: Kleinere Übersetzungen, GS Suppl. I, S. 9–13, vgl. auch Anm. d. Hg., ebd., S. 435.
[Ohne Autor, ohne Titel]: in: G. Zeitschrift für Gestaltung, 1/1923, S. 1–2.
Vgl. das Forschungsprojekt zu Primitivismus in der Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts an der Universität Genf. Nicola Gess/Christian Moser/Markus Winkler (Hg.): Primitivismus intermedial, Bielefeld 2015 (Colloqium Helveticum. Cahiers suisses de littérature générale et comparée, Bd. 44); Melanie Rohner/Markus Winkler (Hg.): Poetik und Rhetorik des Barbarischen. Poétique et rhétorique du barbare (Colloquium Helveticum. Cahiers suisses de littérature générale et comparée, Bd. 45), Bielefeld 2016.
Walter Benjamin an Ernst Schoen, Mai 1918, GB I, S. 455–460.
Vgl. Polczyk: Ordnungen der Schrift, S. 217.
Ablehnend äußert sich Adorno in der Ästhetischen Theorie gegen die Definition von August Boekh, wonach die Philologie die Erkenntnis des Erkannten sei: „Das philologische Verfahren, das mit der Intention den Gehalt als sicheres in der Hand zu haben sich einbildet, richtet sich immanent dadurch, dass es aus den Kunstwerken tautologisch das herausholt, was zuvor in sie hineingesteckt ward. Allerdings leistet solchem Brauch eine ihrerseits authentische Tendenz der Literatur Vorschub: dass ihr die naive Anschaulichkeit samt ihrem Illusionscharakter fadenscheinig geworden ist, dass sie Reflexion nicht verleugnet und notgedrungen die intentionale Schicht verstärkt. Das liefert leicht der geistfernen Betrachtung bequeme Surrogate für den Geist. An den Kunstwerken ist es, so wie es in ihren größten Leistungen geschah, das reflexive Element durch abermalige Reflexion der Sache selbst einzuverleiben, anstatt sie als stofflichen Überhang zu tolerieren.“ Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie [1970], hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 2003 (Gesammelte Schriften, Bd. 7), S. 226.
Im Wahlverwandtschaften-Essay steht an der Stelle des Worts Philologie der – aus einer philosophisch-ästhetischen Perspektive und damit unter anderen Voraussetzungen entwickelte – „Kommentar“ im Gegensatz zur „Kritik“, GS I.1, S. 123–126. Vgl. auch die Erläuterung gegenüber Adorno in seinem Brief, Walter Benjamin an Theodor W. Adorno, 9.–12.12.1938, GB VI, S. 181–191, hier S. 184–185.
Benjamin: Gottfried Keller, GS II.1, S. 283–295, hier S. 289–290; vgl. auch ders.: Gottfried Keller: Gesammelte Gedichte, Band 1, in: Ders.: Kritiken und Rezensionen (WuN 13.1), S. 348.
Das entsprechende Funktionsbild ist das ,Kästchen‘ als Palast (dazu später die Berliner Kindheit); vgl. zum angedeuteten Melusine-Projekt Thomas Schestag: Interpolationen. Benjamins Philologie, in: Ders.: Lampen. Philo:xenia, Basel/Weil am Rhein 2009, S. 33–99; zum Kleinen in produktionsästhetischer Perspektive vgl. Thomas Fries: Robert Walsers Mikrogramm 385. Poetik des flüchtigen Kleinen, in: Heine/Zanetti (Hg.): Transaktualität, S. 83–94 sowie Marianne Schuller, die die Miniatur des aufspringenden Kästchens als Allegorie des Begegnens mit Fremdem im Lesen und Schreiben starkmacht; Marianne Schuller: Begegnung und Distanz. Adressierung, Botschaft und Weitergabe in Benjamins Briefbuch, in: Hahn/Wizisla (Hg.): Walter Benjamins „Deutsche Menschen“, S. 111–120, hier S. 116.
Benjamin: Gottfried Keller, S. 348.
Ebd.
Walter Benjamin: Notizen 5, GS VI, S. 209.
Heine/Zanetti: Einleitung, S. 17.
Vgl. Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus; ders.: Nachwort. Aphoristik und Anthropologie.
Vgl. Walter Benjamin: Anja und Georg Mendelssohn: Der Mensch in der Handschrift, in: Ders.: Kritiken und Rezensionen (WuN 13.1), S. 147–152, hier S. 149. Zum Konzept der Werkzeugkiste, das bei Foucault und auch in der phänomenologisch-hermeneutischen Tradition zu finden ist, vgl. Stéphane Boutin: Die Dramatisierung der Macht – Zur Genealogie von Foucaults Begriff der Werkzeugkiste; https://www.fsw.uzh.ch/foucaultblog/blog/81/stephane-boutin-die-dramatisierung-der-macht-zur-genealogie-von-foucaults-begriff-der-werkzeugkiste-abstract-of-the-conference-historicizing-foucault-in-zurich-presentation-on-march-19–2015 (letzter Aufruf: 31.8.2022).
Benjamin, GS VI, S. 201.
Benjamin: Einbahnstraße (WuN 8), S. 136.
Walter Benjamin an Ernst Schoen, Mai 1918, GB I, S. 455–460, hier S. 455.
Ebd.
Benjamin: Goethes Wahlverwandtschaften, GS I.1, S. 182.
Vgl. Theisohn: Plagiat, S. 362.
Walter Benjamin: Nichts gegen die „Illustrierte“, GS IV.1, S. 448–449 (Herv. F.S).
Walter Benjamin an Theodor W. Adorno, 7.5.1940, GB VI, S. 444–455, hier S. 448–449. Benjamins Urteil ist nur von seinem eigenen Sprachbegriff her nachzuvollziehen, ist doch die Virtuosität der Bildsprache von Hofmannsthal eines der am ehesten ins Auge stechenden Elemente seiner Poetik. Benjamin ging all seinen verstreuten Äußerungen zu Hofmannsthal – mit Ausnahme der Besprechung der Turm-Dichtung von 1928, dem er zwei Besprechungen widmete – von einem Gesamtbild Hofmannsthals aus, das in der späteren brieflichen Auseinandersetzung mit Adorno um den 1938 erschienenen Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und George im Urteil der „Sprachlosigkeit“ mündet.
Dazu ist der ausufernde Andreas-Komplex das interessante Dispositiv in Hofmannsthals Werk. Über mehr als 20 Jahre hinweg entstanden, ist er auf untergründige wie offensichtliche Weise mit dem Gesamtwerk verzahnt. Der Hofmannsthalexperte Mathias Mayer plädiert gar dafür, in diesem eine „Matrix“ für das Gesamtwerk zu sehen – mehr als ein begrenzbares Werk innerhalb des Œuvres. Vgl. Mathias Mayer: Die Grenzen des Textes. Zur Fragmentarik und Rezeption von Hofmannsthals Andreas-Roman [1994], in: Elisabeth Dangel-Pelloquin (Hg.): Hofmannsthal. Wege der Forschung, Darmstadt 2007, S. 62–83, hier S. 76; vgl. auch Mayer: Hugo von Hofmannsthal.
Günther Oesterle: Die Grenzen der ästhetischen Lebensidee, in: Wizisla/Hahn (Hg.): Walter Benjamins „Deutsche Menschen“, S. 91–109. Benjamins Bekenntnisspruch gemäß sei es die „heutige Aufgabe“, die Grenzen der ästhetischen Lebensidee zu klären. Oesterle zitiert aus Walter Benjamin: Rückblick auf 150 Jahre deutscher Bildung“, in: Ders.: Kritiken und Rezensionen, WuN 13.1, S. 436–437.
Hier zeigt sich auch das „Geistergespräch“, das Benjamin in feinen Differenzierungen mit seinem geistigen Widerpart Max Kommerell führt. Letzterer zeichnet folgendes Bild für die Beschreibung der Hofmannsthal’schen Prosa: „Wer fein genug ist, nur erraten zu lassen, erntet wenig Dank, da jeder das Eingeflüsterte selbst zu finden glaubt. Unmerklich für den Leser zubereitet ist diese Weisheit in ihrem gleichsam kristallinischen Aufbau: ein leichter Schlag darauf und alles splittert in schönster Ordnung nach den vorbestimmten Bruchflächen“ (Kommerell: Rede auf Hofmannsthal, Berlin 1930, S. 27). Ist „Prosa“ für Benjamin eine aus Struktur und Performanz bestimmte, aber entschieden göttlich determinierte Sprachinstanz, hält Kommerell an einem intentionalen Modell fest. Vgl. auch Benjamins Prosaportrait San Gimignano (Benjamin GS IV, S. 360–365), eine Würdigung Hofmannsthals nach dessen Tod 1929, in dem er schreibt, dass Hofmannsthal die Worte mit „kleinen Hämmern“ herausgetrieben habe. Zu den literaturtheoretischen Bezügen zwischen Benjamin und Kommerell, allerdings ohne auf diese Ähnlichkeiten einzugehen, vgl. Eckart Goebel: Das Opfer der Kritik: Kommerell – Benjamin, in: Martin Roussel/Georg Mein/Stefan Börnchen (Hg.): Name, Ding, Referenzen, München 2012, S. 345–365.
Benjamins Erfahrungsbegriff wäre in Bezug auf einen radikalen Begriff des Lesens auch mit jenem von William James abzugleichen; vgl. die produktiven Ansätze hierzu bei Helmut Müller-Sievers: Roman und reine Erfahrung. William James’ radikaler Empirismus als Vollzug des Lesens.
Walter Benjamin: Hofmannsthal, GS VI, S. 145–146.
Peter-Andre Alt: „Gegenspieler des Propheten“, in: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): global Benjamin, 3 Bde, Bd. 2, München 1999, S. 891–906, hier S. 905.
Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation [1927], in: Ders.: KA XXXV, S. 322. Ein Leben, das nur in „gültigen Bindungen“ lebbar sei, wurde geradezu zu einem Emblem der Hofmannsthalrezeption, so etwa auch bei Ingeborg Bachmann; vgl. Ingeborg Bachmann an Hans Werner Henze, 19./20.10.1955, in: Ingeborg Bachmann. Hans Werner Henze. Briefe einer Freundschaft, hg. v. Hans Höller, München 2013, S. 62.
Vgl. Walter Benjamin an Theodor W. Adorno, 7.5.1940, GB VI, S. 444–455, hier S. 448–449.
Benjamin: Charakeristiken und Kritiken: Hofmannsthal, GS VI, S. 145–146.
Vgl. Benjamins Bild der „Heuschreckenschwärme von Schrift“, Benjamin: Vereidigter Bücherrevisor, S. 30.
Walter Benjamin an Theodor W. Adorno, 7.5.1940, GB VI, S. 444–455, hier S. 447.
Walter Benjamin an Gershom Scholem, 28.10.1931, GB IV, S. 60–63, hier S. 61.
Robert Boehringer: Über Hersagen von Gedichten, in: Jahrbuch für die geistige Bewegung 2/1911, S. 77–88.
Benjamin: Karl Wolfskehl zum sechzigsten Geburtstag, GS IV.1, S. 366–367.
Vgl. Marcel Lepper: Odyssee der Bücher. Mit unerwarteten Funden lassen sich Karl Wolfskehls zerschlagene und zerstreute Exilsammlungen rekonstruieren, in: Neue Zürcher Zeitung, 26.9.2015, S. 53.
Benjamin: GS II.2, S. 581.
Benjamin: Der destruktive Charakter, GS IV.1, S. 396–398; ders.: Notizen über den „destruktiven Charakter“, GS IV.2,S. 999–1001, hier S. 1000.
Benjamin, Das Passagen-Werk, GS V.1, S. 560.
Die Widmung der Wahlverwandtschaftenarbeit für Jula Cohn ist in GS I.1., S. 122 abgedruckt. Cohn hat auch eine nicht erhaltene Büste von Benjamin hergestellt. Vgl. auch dessen Text Agesilaus Santander in zwei Fassungen von 1933, in die Benjamin eine andere Verliebtheit hineingezeichnet hat – ebenso im Modus des Künstlerphilologen.
Vgl. Walter Benjamin an Florens Christian Rang, 18.11.1923, GB II, S. 367–371, hier S. 369.
Walter Benjamin: Berliner Chronik, in: Ders.: Berliner Chronik / Berliner Kindheit um neunzehnhundert (WuN 11.1), hg. v. Burkhardt Lindner/Nadine Werner, Berlin 2019, S. 7–78, hier S. 27.
Vgl. Bernhild Boie: Dichtung als Ritual der Erlösung. Zu den wiedergefundenen Sonetten von Walter Benjamin, in: Akzente 31/1 1984, S. 23–39, bes. S. 26–27. Die von Giorgio Agamben in den 1980er Jahren wieder aufgefundenen Sonette sind in Bd. VII der Gesammelten Schriften abgedruckt. Vgl. auch den Abdruck der überlieferten Texte von Christoph Friedrich Heinle: Lyrik und Prosa, hg. v. Johannes Steizinger, mit einem Geleitwort von Giorgio Agamben, Berlin 2016.
Matz: Eine Kugel im Leibe, S. 42.
Vgl. Matz: Eine Kugel im Leibe, bes. S. 38–42.
Eine sich tropisch zuspitzende Sequenz in Benjamins Essay Karl Kraus (GS II.1, S. 334–367) spielt das Kinder-Motiv aus, das bei Benjamin notorisch mit der messianischen Idee zusammen auftritt. Im Kraus-Text entdeckt das Kind die Sprachquellen im Reim, um den Namen im Reich der Kreatur als Vorschein einer nicht mehr repräsentierend gedachten Sprache wahrzunehmen. Darauf nimmt Benjamin auch in seiner Kritik des aus Hofmannsthals Nachlass und aus verstreuten Publikationen zusammengestellten Prosabands von 1931 Bezug (Loris. Die Prosa des jungen Hofmannsthal). Dessen Herausgeber Max Mell sei auf dem richtigen Weg, wenn er eine der dunkelsten Stellen im späten Werk Hofmannsthals anziehe und an die künftigen Kinder erinnere, denen der Kaiser der Frau ohne Schatten in der Höhle begegne (Walter Benjamin: Zur Wiederkehr von Hofmannsthals Todestag, in: Ders.: Kritiken und Rezensionen (WuN 13.1), S. 269–271, hier S. 271). Adorno nimmt diesen Gedanken in seiner Rezension des Briefwechsels von George und Hofmannsthal wieder auf; vgl. Adorno: George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel 1891–1906, Noten zur Literatur (GS 11), S. 158–202.
Walter Benjamin an Theodor W. Adorno, 7.5.1940, GB VI, S. 444–455, hier S. 450.
Vgl. Theodor W. Adorno: Valérys Abweichungen, S.159. Vgl. Sandro Zanetti: Literaturwissenschaftliches Schreiben zwischen Mimesis und Abstraktion. Von Jean Leclerc zu Peter Szondi und Roland Barthes, in: IASL 40, 2/2015, S. 348–373.
Benjamin: Karl Kraus, GS II.1, S 358: „Das Wort dankt niemals zugunsten des Instruments ab; indem es aber seine Grenzen weiter und weiter hinausschiebt, geschieht es, dass es am Ende sich depotenziert, in die bloße kreatürliche Stimme sich auflöst: ein Summen, das zum Worte sich so verhält wie sein Lächeln zum Witz, ist das Allerheiligste dieser Vortragskunst. In diesem Lächeln, diesem Summen, wo wie in einem Kratersee zwischen den ungeheuerlichsten Schroffen und Schlacken die Welt sich friedlich und genügsam spiegelt, bricht jene tiefe Komplizität mit seinen Hörern und Modellen durch, der Kraus im Worte niemals Raum gegeben hat. Sein Dienst an ihm erlaubt ihm keinen Kompromiss. Kaum aber hat es den Rücken gekehrt, so findet er sich zu manchem bereit. Da macht denn der quälende, stets unerschöpfte Reiz dieser Vorlesungen sich fühlbar: die Scheidung zwischen fremden und verwandten Geistern zunichte werden und jene homogene Masse falscher Freunde sich bilden zu sehen, die in diesen Veranstaltungen den Ton angibt.“
Benjamin: Berliner Chronik, S. 26.
Referiert Benjamin hier auf die auf Hegels Ästhetik-Vorlesungen und auf Marx zurückweisende „Armut geistiger Interessen“, die im kapitalistischen 19. Jahrhundert zerstört werden durch die „Prosa der Verhältnisse“, die das Idyllische zugunsten der „baren Zahlung“ zwischen Mensch und Mensch vernichten? Vgl. Sabine Schneider: Einleitung, in: Dies./Marie Drath (Hg.): Prekäre Idyllen in der Erzählliteratur des deutschsprachigen Realismus, Stuttgart 2017, S. 1–12, hier S. 4. Soweit ich sehe, wurde in der umfangreichen Forschungsliteratur zu diesem Essay von Benjamin der Bezug zur Stelle bei Hegel nicht hergestellt.
Benjamin: Erfahrung und Armut, GS. II.1, S. 213–218; zur Text- und Rezeptionsgeschichte vgl. Lindner: Zu Traditionskrise, Technik, Medien, S. 453–455.
Benjamin: Berliner Chronik, S. 25.
Vgl. Benjamin: Vereidigter Bücherrevisor, bes. S. 29–30.
Vgl. Benjamin: Traumkitsch, GS II.2, S. 620–622.
Vgl. Gerhard R. Kaiser: Die rechtskräftige Aburteilung und Exekution des Friedrich Gundolf, in: Hühn/Urbich/Steiner (Hg.): Benjamins Wahlverwandtschaften, S. 294–318.
Vgl. Matz: Eine Kugel im Leibe, S. 34–35.
Vgl. Benjamins Enzyklopädiebeitrag „Juden in Deutschland“, GS II.2, S. 807–813.
Vgl. Walter Benjamin an Florens Christian Rang, 18.11.1923, GB II, S. 367–371, hier S. 371 (vgl. Kap. 5.6).
Hier klingt auch Valérys Sonett L’abeille an.
Der Begriff des punctums bezeichnet eine kleine Stelle, einen kleinen Fleck, Tupfen oder Einstich. Roland Barthes verwendet den Begriff als Stich, kleines Loch, kleinen Fleck oder kleinen Schnitt; vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M. 1989, S. 36.
„Während Georges Briefe immer gut lesbar sind […], ist das hervorstechendste Merkmal von Wolfskehls Briefen ihre Schwerlesbarkeit. […] Alle seine Briefpartner beschwerten sich über die Unleserlichkeit seiner Schrift“; Wägenbaur/Oelmann (Hg.): Stefan George. Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892–1933, S. 21–22.
Goebel: Opfer der Kritik, S. 345–365.
So Benjamin in seiner Rezension und auch gegenüber Adorno; vgl. Walter Benjamin: Wider ein Meisterwerk, in: Ders.: Kritiken und Rezensionen (WuN 13.1), S. 271–279.
Benjamin: Berliner Chronik, S. 41.
Geret Luhr: Ästhetische Kritik der Moderne. Über das Verhältnis Walter Benjamins und der jüdischen Intelligenz zu Stefan George, Marburg 2002. Das Motiv des Zu-Spät-Gekommenen wird besonders im Artikel Stefan George betreffend von 1933 entwickelt (Walter Benjamin: Rückblick auf Stefan George, in: Ders.: Kritiken und Rezensionen (WuN 13.1), S. 413–420). Auch im Briefwerk kommt er immer wieder auf George zu sprechen.
Stefan George: Der Siebente Ring. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 6/7, Berlin 1931, S. 53.
Vgl. Ralf Simon: Was ist bildkritische Literaturwissenschaft?, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 55/1 2010, S. 49–67. Nach Simon ist eine Bildkritik internen, nicht externen Zuschnitts, nicht Ideologiekritik, Kritik des Medienbegriffs etc. Soll sie intern sein, „muss sie das Bild aus den Konstitutionsbedingungen des Bildlichen her kritisieren, nämlich die ikonischen Konstitua hinsichtlich ihrer Grenzen und ihrer Wirksamkeit bestimmen. […] Bildkritik ist damit der Name für eine jeweils gegenstandsbezogene und also exegetische Tätigkeit in einem philosophieaffinen Begriffsraum. Der bildkritischen Literaturwissenschaft kommt in diesem Feld die Funktion zu, den schwierigen Weg zu gehen, unsichtbare Bilder denken zu sollen, deren Ort in dem Außen des Texts (nicht im Innern des Gemüts) liegt“ (ebd., S. 66, 67).
Vgl. das Beispiel der deutschnationalen Philologin Marianne Thalmann, die sich akribisch die Quellen für literarische Werke des Romanciers Jakob Wassermann vorgenommen und diesen in einer deutschnationalen germanistischen Zeitschrift „vor das Forum der Nation“ gezerrt hatte, um die „Unsauberkeit“ seines Künstlertums zu ‚beweisen‘; Theisohn: Plagiat, S. 432–446.
Mit dieser Konstellation eines „Gewichts der Erfahrung“ steigt Sandro Zanetti in die Lektüren zu Paul Celan ein; vgl. Sandro Zanetti: Celans Lanzen. Entwürfe, Spitzen, Wortkörper, Zürich/Berlin 2020, bes. S. 16–20.
„Endlich frappierte mich Ihr Brief mit Ihrem Hinweis auf das eigentliche, so sehr versteckte Zentrum dieser Arbeit: die Darlegung über Bild, Schrift, Musik ist wirklich die Urzelle der Arbeit mit ihren wörtlichen Anklängen an einen jugendlichen Versuch von drei Seiten ,Über die Sprache in Trauerspiel und Tragödie‘. Die tiefere Ausführung dieser Dinge würde mich freilich aus dem deutschen Sprachraum in den hebräischen führen müssen, der, aller Vorsätze ungeachtet, bis zum heutigen Tage immer noch unbetreten vor mir liegt.“ Walter Benjamin an Hugo von Hofmannsthal, 30.10.1926, GB III, S. 206–210, hier S. 209.
Das Motto seines Trauerspiels Der Thor und der Tod.
Walter Benjamin: Das dialektische Bild [Manuskripte – Entwürfe und Fassungen zu den Geschichtsthesen], in: Über den Begriff der Geschichte (WuN 19), hg. v. Gérard Raulet, Berlin 2010, S. 124–125 (teils gestrichene Notizen).
Vgl. Giorgio Agamben: Idee der Prosa, Frankfurt/M. 2003, S. 21–24.
Vgl. Simon: Bildkritische Literaturwissenschaft, S. 426–427.
Vgl. Thomas Schestag: Namenlose, Berlin 2019 und andere Publikationen dieses Autors.
Diese Lektüre ließe sich in zwei Richtungen weiterentwickeln: hinsichtlich des Menschenfressermotivs und der „Zähne“ in Benjamins Essay Karl Kraus und komplementär dazu hinsichtlich des Dialogs Eupalinos von Paul Valéry. Die „acte de construire“ einer „création par des principes séparés“ bezeichnen dessen Ideal ästhetischer Produktion: die ästhetische Konzentration des Menschen auf sich selbst, das Aufgehen seines Wesens in seinem Werk und die Erfüllung seines Geistes in seinen Akten. Der Echoraum des idealen Rezipienten, in dem sich die singenden Bauwerke des Eupalinos allererst materialisieren, ist der Mund des Erzählers Phaidros. Diese Zusammenhänge (auch in Bezug auf Goethe und Nietzsche) untersucht Hans-Georg von Arburg in seinem Aufsatz: ,Gefrorene‘ oder ,stumme‘ Musik?, S. 264. In die Zeit der Publikation des Wolfskehl-Essays (1926) fällt Benjamins erstmalige intensive Rezeption von Valéry, später verwandelt sich Benjamin insbesondere Valérys Konzept der Schriftstellerei als Technik an (vgl. Kap. 4).
Vgl. Sigrid Weigel: Walter Benjamin – Die Kreatur, Das Heilige, die Bilder, Frankfurt/M. 2008, S. 56.
Benjamin: Anmerkungen zum Enzyklopädieartikel ,Goethe‘, GS II.3, S. 1466–1467.
Vgl. Caroline Adler: Anschaulich, nicht theoretisch bereichert. Walter Benjamins Moskau-Aufsatz, in: Baehrens/Voigt/Tzanakis Papadakis/Loheit (Hg.): Material und Begriff, S. 81–101; Enrico Rosso: Moskauer Passagen. Die konzeptuelle Arbeit am Moskau-Aufsatz im Licht des Verhältnisses Benjamins zum Zeitschriftenprojekt Die Kreatur, in: Ebd., S. 102–144.
Konstantin Baehrens/Frank Vogt: „Die Problemgeschichte wird tatsächlich zur Geschichte der Probleme“. Geschichtliche Totalität und Augenblick bei Walter Benjamin und Georg Lukács, in: Baehrens/Voigt/Tzanakis Papadakis/Loheit (Hg.): Material und Begriff, S. 193–242, hier S. 242.
Schöttker: Nachwort. Aphoristik und Anthropologie, S. 563.
Ebd., S. 554.
Vgl. Lepper: Philologie zur Einführung, bes. S. 104–107.
Walter Benjamin: Memorandum zu der Zeitschrift „Krisis und Kritik“, GS VI, S. 619–221, hier S. 219.
Beide Zitate in Walter Benjamin: Gewohnheit und Aufmerksamkeit (Ibizenkische Folge 1932), GS. IV.2, S. 407–408.
Vgl. dazu insbesondere Uwe Steiners einführende Autorenmonografie Walter Benjamin, Stuttgart 2004;ders.: Von Bern nach Muri. Vier unveröffentlichte Briefe Walter Benjamins an Paul Häberlin, in: Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 75, 3/2001, S. 463–490; DOI: 10.1007/BF03375735.