„The proper study of mankind is Man.“1 Alexander Popes Maxime aus An Essay on Man (1733/34) fühlten sich zahlreiche Diskurse und literarische Werke der Aufklärung verpflichtet. Motiviert wurde das anthropologische Erkenntnisinteresse nicht zuletzt durch den Wunsch, Licht in das Dunkel des eigenen Lebens zu bringen. Der delphische Imperativ – das ‚Erkenne dich selbst‘ – konfrontierte diejenigen, die ihn sich zu eigen machten, jedoch auch mit unangenehmen Erkenntnissen. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht daher die emotionale Dimension von Erkenntnisprozessen, die ein unvorteilhaftes oder gar abstoßendes Selbstbild hervorbringen: das Verhältnis von Aufklärung und Scham. Zum einen zeigt diese Studie auf, dass die Diskurse der Aufklärung auch Wissen verhandelten, das als Anlass zur Scham verstanden wurde. Zum anderen fragt sie danach, wie das Verhältnis von Aufklärung und Scham in den zeitgenössischen Diskursen reflektiert wurde, welche sozialethischen Konsequenzen die Aufklärung aus dieser Reflexion zog und welche Funktion sie der Literatur in diesem Zusammenhang zuschrieb. Im Fokus stehen sozialethische Diskurse der Aufklärung, in denen das Schreiben und die Literatur in den Dienst der Schamvermeidung treten. Orientierung bietet die Hypothese, dass in der Scham die normative Dimension des individuellen Selbstverständnisses zutage tritt – die Scham mit personeller Identität untrennbar verwoben ist. Für die Aufklärung war Scham daher keine zu vernachlässigende Emotion.
Dass Aufklärung Scham verursachen kann, verdeutlicht eine die europäische Kultur prägende Erzählung: Dem Buch Genesis zufolge kam die Scham mit der Selbsterkenntnis in die Welt. Nachdem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, erkannten sie ihre Nacktheit und schämten sich (vgl. Gen 3,7). Diese wohl wichtigste Schamszene der christlichen Kultur ist vielfach interpretiert worden. Die Scham stellt sich in ihr als Resultat eines Perspektivwechsels dar: Adam und Evas auf den Tieren und Pflanzen des Garten Edens ruhender Blick kehrt sich um und trifft den eigenen Körper. Als sich Gott nach dem Verzehr des Apfels nähert, wollen sich Adam und Eva seinem Blick entziehen. Er soll nicht sehen, dass sie nackt sind (vgl. Gen 3, 8–10). Jean-Paul Sartre zufolge enthüllt die Scham kognitiv und emotional „den Blick des Andern und mich selbst am Ziel dieses Blicks“.2 In Sartres säkularer Interpretation der christlichen Szene sind Scham und Selbstbewusstsein gleichursprünglich. Sie resultierten daraus, dass wir die Augen der anderen nicht einfach als weitere Objekte in der Welt erfassen, sondern wir in ihnen erkennen, dass wir wahrgenommen werden. Damit erschließt sich zugleich eine normative Dimension: die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, die der Mensch der Bibel zufolge durch den Verzehr des Apfels erlernt. Sartre verlegt den Ursprung dieser Erkenntnis in den Raum der Intersubjektivität: Durch den Blick der anderen nehmen wir uns selbst in einem intersubjektiven Raum von Normen wahr. Diese Interpretation der biblischen Schamszene3 erschließt die sozialethische Dimension der Scham. Wenn Scham aber – entgegen einflussreicher zivilisationstheoretischer und kulturwissenschaftlicher Theorien – sozialethisch relevant ist,4 so darf vermutet werden, dass sie von der Sozialethik der Aufklärung nicht ignoriert werden konnte.
Die Ambiguität der Scham
Zu den einflussreichsten Theorien über Scham zählt die Zivilisationstheorie von Norbert Elias. Sie widerspricht der normativen Verortung der Scham schon im Ansatz. Elias zufolge nimmt das Schamempfinden und das Gefühl für Peinlichkeit in der Moderne stark zu, weil sich im Prozess der Zivilisation „Fremdzwänge in Selbstzwänge“5 transformieren. Das Individuum übernehme gesellschaftliche Verhaltensmuster und gestalte auf dieser Grundlage auch das Verhältnis zum eigenen Selbst neu. Elias stellt Zivilisation als einen Prozess der Verhaltens- und Affektregulierung dar: „Der Einzelne wird gezwungen, sein Verhalten immer differenzierter, immer gleichmäßiger und stabiler zu regulieren.“6 Er spricht in diesem Sinne auch von einem „gesellschaftlichen Verhaltenscode“, der sich dem Individuum so einprägt, dass „er gewissermaßen ein konstitutives Element des individuellen Selbst wird“.7 Die von Elias beschriebene Selbstregulierung basiert nicht vorrangig auf dem Verstand des Individuums, sondern vollzieht sich emotional. Die Übertretung des gesellschaftlichen Verhaltenscodes sei angstbesetzt. Scham und Scham-Angst stellen sich in Elias’ Zivilisationstheorie als Werkzeuge gesellschaftlicher Funktionszusammenhänge dar. Wie die „Korrespondenz“8 von gesellschaftlicher Struktur und individuellem Verhalten zustande kommt, bleibt jedoch unbestimmt. Plausibilisiert wird die These lediglich mit Versatzstücken aus der Freud’schen Psychoanalyse: Die Scham-Angst verweise auf eine Spaltung im Individuum selbst. Das Über-Ich diktiere dem Ich sein Verhalten – konstatiert Elias an zahlreichen Stellen. Bestimmt sei das Verhalten des zivilisierten Menschen durch die „innere Angst“.9 Auch in der Erziehung fungiere Angst als Disziplinierungsmittel.10 Festzuhalten bleibt, dass die Internalisierung sozialer Verhaltensmuster von Elias als unbewusster Prozess verstanden wird.
Elias’ Zivilisationstheorie ist unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisiert worden. Geltend gemacht worden ist beispielsweise, dass seine Darstellung des Zivilisierungsprozesses eine problematische Konstruktion vormoderner und außereuropäischer Kulturen voraussetzt.11 Im Kontext dieser Studie ist ein anderer Sachverhalt bedenklich: Die für die Zivilisationstheorie fundamentale Wandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge wird als schlichter Konditionierungsprozess konzipiert. Soziales Verhalten wird aber nicht nur unbewusst inkorporiert. Elias ignoriert die „aus Einsicht stammende, flexible und ich-zugängliche Verinnerlichung von Normen“.12 Seine zahlreichen Belege für die Zunahme des Schamempfindens sind alle einem bestimmten phänomenalen Bereich der Scham entnommen, der keinesfalls das ganze Phänomen der Scham repräsentiert. Elias bezieht sich auf die Körperscham: Nacktheit, Defäkation, Sexualität, Körpergeräusche, -pflege und -geruch, Schlaf- sowie Essgewohnheiten. Für all diese Praktiken spielen habituelle Dispositionen eine große Rolle und es kann plausibel von einer „Konditionierung“13 der Körper gesprochen werden – von einer unsichtbaren „Mauer von Affekten, die sich gegenwärtig zwischen Körper und Körper der Menschen, zurückdrängend und trennend, zu erheben scheint“.14 Das Paradigma ‚Konditionierung‘ plausibilisiert eine heteronome Form des Selbstverständnisses, die in der Scham emotionalen Ausdruck erlangt. Dieses Verständnis von Scham verabsolutiert jedoch einen Aspekt der Scham und blendet andere – nicht minder wichtige – aus. Es erkennt in der Scham ausschließlich heteronome Einflussnahme, weil wir uns in der Scham aus der Perspektive der anderen wahrnehmen. Der gleiche Fehlschluss liegt Ruth Benedicts Gegenüberstellung von Scham- und Schuldkulturen in The Chrysanthemum and the Sword (1946) zugrunde. Benedict sieht in Scham und Schuld soziale Steuerungsmechanismen, die im Fall der Scham auf externe und im Fall der Schuld auf innere Ressourcen zurückgreifen: „True shame cultures rely on external sanctions for good behavior, not, as true guilt cultures do, on an internalized conviction of sin.“15 Benedicts Essentialisierung von Kulturen wurde inzwischen zurecht deutlich kritisiert.16 Wichtig für die in dieser Studie verfolgten Fragestellung ist der kritische Einwand, dass Schuldkulturen keineswegs auf externe Sanktionen verzichten und Schamkulturen durchaus auf die Internalisierung von Normen zurückgreifen.17 Benedict und Elias verkennen die Rolle des Publikums in der Phänomenologie der Scham. Sie gehen zwar richtigerweise davon aus, dass wir uns, wenn wir Scham empfinden, der Beobachtung durch ein Publikum entziehen wollen, doch konzipieren sie dieses Publikum fälschlicherweise als ausschließlich externe Instanz. Insofern ignorieren sie, dass das Publikum auch imaginiert sein kann bzw. wir dem realen Publikum eine bestimmte Norm unterstellen.18 Scham wird nicht immer extern verursacht, beruht jedoch auf einem Perspektivwechsel. Wir erblicken uns plötzlich aus einer Perspektive, die wir anderen zuschreiben, die aber durchaus das Produkt internalisierter Normen sein kann. Wer mit den einflussreichen Theorien von Elias und Benedict in der sozialen Dimension der Scham allein Heteronomie entdeckt, der unterschlägt, dass Scham eine Form von Identifikation mit der normativen Perspektive voraussetzt, aus der sich der oder die Beschämte wahrnimmt. Denn Scham kann „Ausdruck tiefer eigener Erfahrung und Quelle intellektueller und emotionaler Selbstständigkeit“19 sein. Sighard Neckel konstatiert: „Die Scham eines Menschen ist an sein Selbstverständnis gebunden, dessen defizitäre Verwirklichung sie mobilisiert.“20 Neckel hat auf Agnes Hellers Analyse der Scham verwiesen, um die in der Phänomenologie der Scham zutage tretende Spannung zwischen der eigenen und der fremden Perspektive besser zu verstehen. Entgegen der zivilisationstheoretischen oder kulturanthropologischen Deutung der Scham als einer ohne Internalisierung von Normen operierenden Emotion, geht Heller davon aus, dass Scham eine Identifikation voraussetzt. Sie konzipiert diesen psychischen Prozess als eine Internalisierung von Autorität. Sowohl eine Norm als auch eine externe Person bzw. Gruppe kann als Autorität anerkannt werden. Entsteht das Schamgefühl aus der Missbilligung einer internalisierten Norm, dann ähnelt die Scham dem Schuldgefühl, weshalb Heller auch von „shame-guilt“21 spricht. Allerdings können nicht nur Normen, sondern auch andere Personen oder Gruppen als internalisierte Autoritäten fungieren. Ich schäme mich in diesem Fall nicht, weil ich die Norm anerkenne, die mich verurteilt, sondern weil die Person oder Gruppe, aus deren vermeintlicher Perspektive ich mich betrachte, für mich eine Autorität darstellt.22 Neckel unterscheidet begrifflich zwischen einer moralischen und einer sozialen Scham. Dass es mitunter unmöglich sein kann, das Schamgefühl einer dieser beiden Arten klar zuzuordnen, ist hier nur anzumerken. Wichtig bleibt es festzuhalten, dass Scham eine moralische Dimension besitzt. Dem 18. Jahrhundert ist das nicht entgangen. Die Scham wird in den im Folgenden zu untersuchenden Diskursen aufgrund ihrer moralischen Qualität nicht nur als negative Emotion behandelt, sondern als Norm gesetzt. Viele Zeitgenossen waren sich sicher: Moralisch könne nur ein Individuum sein, das sich schämen kann.
Die Wertschätzung der Scham zeigt sich am deutlichsten in der Konstruktion des weiblichen Geschlechtscharakters. Die Frau und insbesondere das Mädchen werden von der Aufklärung als schamhaft konzipiert und die Angst vor der Scham zugleich als Tugend gepriesen. Für Leonhard Meister beispielsweise ist die Schamhaftigkeit sogar eine Tugend, „ohne welche das weibliche Geschlecht aufhören würde, weiblich zu seyn“.23 Die Erziehung von Mädchen müsse daher der Habitualisierung von Schamhaftigkeit dienen.24 Johann Gebhard Ehrenreich Maaß versteht die Scham ebenfalls als „Schutzwehr der Tugend“.25 Angestrebt wird von diesen und vielen anderen Männern der Aufklärung eine so effektive Angst vor der Scham, dass sie als episodisches Gefühl nahezu ausgeschlossen ist. Denn in der Imagination der Aufklärer soll der Frau das mit der Scham gleichursprüngliche Wissen über die eigene Sexualität nicht zur Verfügung stehen. Die männliche Phantasie imaginiert „ein Paradies der Unschuld“ und preist den „Genius der Schamhaftigkeit“.26 Zurecht erkennt Albrecht Koschorke in diesen Zuschreibungen eine „Figur der Tugend als Unmündigkeit“.27 Ein Blick in von Frauen herausgegebenen Zeitschriften zeigt, dass sich Frauen mit dieser Unmündigkeit nicht abfanden. Das Gebot der Schamhaftigkeit wurde als Aufforderung, sich einer bestimmten Rhetorik zu bedienen, verstanden: Frauen sollten „wissentlich unwissend scheinen“.28 Zur schamhaften Abwehr des männlichen Wunsches nach Intimität konstatiert Ulrike Weckel: „Die Pomona und andere Schriften dieser Zeit lehrten ihre Leserinnen, daß sie durch solchen Widerstand um so reizvoller für Männer würden.“29 In der Zeitschrift Hamburgs Töchter ist dementsprechend von der „reizende[n] Schamhaftigkeit“ die Rede und wird die „keusche Unwissenheit“ als eine Zierde verstanden, die als Mittel dafür angepriesen wird, die Liebe des Gatten auf ewig zu erhalten.30 Die Aneignung des männlichen Diskurses über weibliche Schamhaftigkeit reagierte pragmatisch auf die hierarchischen Geschlechterverhältnisse, problematisierte Scham und Schamhaftigkeit aber nicht in ihrer sozialen Funktion.31 Als „Disposition zur Schamvermeidung“32 blieb die Schamhaftigkeit im 18. Jahrhundert eine Norm, die das Leben von Frauen und Mädchen prägte und ihnen eine passive soziale Rolle vorschrieb. Verhaltensweisen wie Scheu und Schüchternheit fungierten als Ziel geschlechtsspezifischer Erziehung. „Soziale Unterlegenheit“, hält Edith Saurer in diesem Zusammenhang fest, „wird über das Schamgefühl individualisiert und sozialer bzw. politischer Überlegungen enthoben“.33
Schamvermeidung wurde im 18. Jahrhundert aber nicht nur als individuelle weibliche Disposition wertgeschätzt und als „negatives Selbstgefühl“34 in den Dienst sozialer Konformität gestellt, sondern – wie im Folgenden gezeigt wird – auch als sozialethisches Ziel kollektiv verfolgt. Reflektiert werden die durch Scham erzeugten sozialethischen Probleme im aufklärerischen Strafrechtsdiskurs, der die Scham ebenfalls als moralische Emotion thematisiert. Die dort vorgetragene Kritik der Schandstrafen basiert auf der Einsicht in die Ambiguität der Scham und hebt die problematischen Folgen des Ehrverlustes hervor. Der Staat, so wird in Anlehnung an Cesare Beccarias Abhandlung über Verbrechen und Strafen (1764) argumentiert, dürfe keinen Menschen für ehrlos erklären oder ihn mittels Schandstrafen bloßstellen. Beccarias Übersetzer Johann Adam Bergk zufolge ist das nicht nur unmoralisch, sondern auch „unzweckmäßig, weil diese Strafe nicht bessert, sondern abgehärtete Bösewichter macht“.35 Die These resultiert aus der sozialethischen Reflexion von Schandstrafen: „Da der mit Ehrlosigkeit Gebrandmarkte von allen Menschen verabscheuet wird, so entsteht in ihm nie ein Gedanke, sich zu bessern, weil er einsieht, das seine Besserung ihm nichts hilft“.36 Damit würde „in ihm der letzte Funken des moralischen Gefühls verlöschen“.37 Der aufklärerische Strafrechtsdiskurs reflektiert in diesen Sätzen die emotionale Dimension sozialethischer Sanktionen. Mit Sorge blickt er auf ein Strafrecht, das die emotionale Wirkung von Schandstrafen nicht bedenkt und den Nutzen moralischer Gefühle ignoriert. Der moralische Sinn könne nur ausgebildet und erhalten werden, wenn das Individuum soziale Anerkennung erfahre und nicht für ehrlos erklärt würde. Weil die Disposition zur Scham die Wertschätzung sozialer Anerkennung garantiere, dürfe diese nicht geschwächt werden. Auch vor übermäßiger Scham als eine „der schmerzhaftesten und unauslöschlichsten“38 Empfindungen, die zur Schamlosigkeit führen könne, sei das Individuum daher zu schützen. Einer der wichtigsten Akteure der Anthropologie im 18. Jahrhundert, der Leipziger Professor für Medizin und Philosophie Ernst Platner,39 skizziert die befürchtete emotionale Dynamik, die in der Schamlosigkeit mündet. Wenn es dem Individuum nicht gelinge, den Verlust der Ehre durch „Witz und List“ zu entgehen, sich „in die Einsamkeit“ zu retten oder alles zu tun, um die „Ausdrücke der Verachtung nicht zu sehen“, dann gehe die Scham „entweder in Schwermuth über; oder sie spricht der Ehre selbst Hohn, und geht, indem sie allen Ansprüchen darauf entsagt, über in Unverschämtheit“.40 Scham kann demnach Krankheiten und Schamlosigkeit verursachen. Platner zufolge bedrohen Schandstrafen nicht allein das soziale Prestige des Individuums, sondern betreffen auch die Psyche des Einzelnen fundamental. Im schlimmsten Fall löschten sie die Disposition zur Scham aus. Maaß erkennt den gleichen Zusammenhang zwischen Schande und Scham. Er konzipiert die Scham als Negativ der Ehre. Anders als das Ehrgefühl handle es sich bei der Scham aber um einen Affekt: „Das Schamgefühl kann eben darum, weil es immer Affect ist, auch leicht so übermäßig werden, daß es nicht allein dem Verstande alle Besinnung raubt, sondern auch das Gemüth im höchsten Grade niederschlägt.“41 Um die vernichtende Wirkung der Scham zu belegen, zitiert Maaß im Anschluss an diese These zwei Verse aus Schillers Tragödie Die Jungfrau von Orleans (1801). Sie demonstrieren, wie übermäßige Scham das Selbstgefühl des Individuums zerstört. Für Maaß sind Selbstgefühl und Ehrgefühl identisch.42 Er geht davon aus, dass Anerkennung durch andere unsere Ehre mehrt und damit auch unser Selbstgefühl: „Wer kein Gefühl für seine eigene Würde, keine Achtung für sich selbst hat, der kümmert sich auch um das Urtheil Anderer nicht. Es gilt ihm gleich, was die Welt von ihm denke oder sage.“43 Das Selbstgefühl des Individuums bezeichnet Maaß daher als „das Gefühl seiner Realität“ und sieht in ihm die emotionale Dimension des „Bewußtseyn[s] unseres eigenen Werths“.44 Ein demütiges Selbstgefühl entstehe aus dem Bewusstsein unserer Unzulänglichkeit, operiere aber, weil wir unsere Fehler ja als solche erkennen, ebenfalls im Raum der Moral. Schlimm sei es um diejenigen gestellt, die gar kein Selbstgefühl, weder positiv noch negativ gestimmtes, besitzen. Mangel an Selbstgefühl führe zu „Schlechtheit und Niederträchtigkeit“.45 Daher warnt Maaß davor, dass derjenige, der „das Gefühl der Scham unterdrückt und über Schande sich hinwegsetzt“, sich einer amoralischen Leidenschaft verschreibt und „endlich zu gänzlicher Schamlosigkeit“ herabsinken werde.46 Auf Scham will das 18. Jahrhundert nicht verzichten. Verstanden wird sie als ein ambiges Phänomen.
Der Emotionsdiskurs im 18. Jahrhundert
In den letzten Dekaden sind viele wichtige Studien über die literarische Darstellung von Emotionen erschienen. Erforscht wurde die Darstellung von Angst, Hass, Wut, Neid, Scham und anderer Emotionen.47 Dabei wurde gezeigt, wie in den verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten das Emotionswissen der Literatur auf zeitgenössische Diskurse zurückgriff und diese mitunter prägte.48 Auch der Wandel unseres Vokabulars, mit dem wir über Emotionen sprechen, wurde erforscht.49 Die Grenzen der Emotionsforschung waren der Kultur- und Literaturwissenschaft durchaus bewusst. Natürlich kann keine Geschichte des „inneren Erlebens“50 geschrieben werden. Indem die kulturgeschichtliche Emotionsforschung Kommunikationsprozesse erforscht, kann sie jedoch Aussagen über die Begriffs- und Wahrnehmungsstrukturen machen, mit denen sich Individuen ihr emotionales Erleben erschließen. Mit unseren Emotionen bewerten wir unsere Umwelt und verhalten uns zu ihr.51 Das emotionale Erleben des Individuums operiert insofern auf der Basis von kulturellen Konstellationen, die es zu erforschen gilt.
Diese Studie nimmt eine kulturhistorische Konstellation zwischen 1750 und 1800 in den Blick, in der Emotionen in ästhetischen und anthropologischen Diskursen sowie in literarischen Texten verstärkt problematisiert werden. Die Relevanz der Scham ergibt sich nicht auf den ersten Blick – unter den im Tragödiendiskurs thematisierten Emotionen findet sich die Scham beispielsweise nur selten. Im Feld des Dramas dominiert ein wirkungsästhetisches Interesse. Fokussiert werden Furcht, Schrecken, Mitleid und auch das Gefühl des Erhabenen. Die Scham gehört nicht zu den emotionalen Wirkungsabsichten der Tragödie. Sie bleibt darüber hinaus randständig, wenn wir uns den in literarischen Texten dargestellten Emotionen zuwenden.52 Selbst wenn sie in diesen zu finden ist, dominieren Liebe und Zärtlichkeit oder Schuld und Trauer.53 Eine Erklärung für die Randständigkeit der Scham bietet ihre Phänomenologie: Die Scham wirkt ansteckend.54 Weil die Darstellung von Schamszenen oftmals dazu führt, dass sich Rezipientinnen und Rezipienten mitschämen, werden sie gemieden. Aus dieser Bestandsaufnahme zu folgern, dass der Scham für die Literatur der Aufklärung keine besondere Bedeutung zukomme, wäre jedoch falsch. Die folgenden Kapitel zeigen, dass Scham in der Aufklärung vor allem in sozialethischer Hinsicht problematisiert wurde. Sowohl die Kritik der Satire im Zeichen des Humors als auch die Semantik der Freundschaft im Diskurs der Erfahrungsseelenkunde zielen auf Schamvermeidung.
Ausgangspunkt für die folgenden Analysen ist daher die Erkenntnis, dass Literatur Emotionen nicht nur darstellt oder erzeugt, sondern auch in den Prozess der Emotionsregulation eingebunden werden kann.55 Emotionsregulation ist ein aktuelles Konzept der Psychologie. Es geht davon aus, dass Emotionen nicht nur passiv erfahren werden, sondern sowohl unbewusst als auch bewusst Gegenstände psychischer Regulation sind.56 Die Praktiken der Emotionsregulation sind historisch und kulturell verschieden. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht lässt sich insofern fragen, welche Diskurse und Medien emotionsregulierend wirken bzw. individuelle Emotionsregulation prägen und ermöglichen. Eine Geschichte der Emotionsregulation am Beispiel der Scham im 18. Jahrhundert zielt nicht auf das individuelle Schamempfinden ab, sondern fragt danach, welche kulturellen Praktiken aus der Problematisierung der Scham entstehen. Der Begriff ‚Emotion‘ wird als Oberbegriff verwendet, der die historischen Praktiken der Emotionsbenennung nicht verdunkeln soll. Ob die Scham als ‚Affekt‘ oder ‚Gefühl‘ verstanden wird, ist ein relevanter Unterschied des zu erforschenden Gegenstandsfeldes.57 Im Zentrum dieser Studie steht die literarische Kultur, die im 18. Jahrhundert zunehmend darum bemüht ist, Scham zu vermeiden. Als Ziel fungiert die schamfreie Kommunikation, die als sozialethisches Fundament literarischer Geselligkeit begriffen wird und von Schamlosigkeit unterschieden werden muss. Gefragt werden soll, aus welchen Diskursen sich die Problematisierung von Scham im 18. Jahrhundert speist, wie die Literatur mit ihren Narrativen und Codes ein Wissen über Scham bereitstellt und welche Regulationspraktiken in Betracht gezogen werden. Es wird sich zeigen, dass der Literatur eine besondere Beziehung zur Scham zugeschrieben wird: Sie wird sowohl zur Ursache als auch zum Gegenmittel der Scham erklärt.
Die Problematisierung von Scham im literarischen Diskurs wird auch durch den Wandel des Emotionsdiskurses bedingt. Seit dem 18. Jahrhundert referieren wir auf unser emotionales Erleben vorrangig mit dem Begriff ‚Gefühl‘.58 Der Affektbegriff verliert an Bedeutung.59 Damit wird nicht nur ein neuer Begriff eingeführt, sondern das emotionale Erleben selbst verändert. Anders als die Begriffe ‚Leidenschaft‘ und ‚Affekt‘ führt der Gefühlsbegriff eine starke Selbstreferenz mit sich. Johann Nicolas Tetens führt ihn als ein Vermögen der Seele ein, das neben den Willen und die Vorstellung tritt. Dem Gefühl wird eine starke evaluative Dimension zugesprochen. Mit ihm wird sowohl die emotionale Wahrnehmung einer Situation bezeichnet als auch die emotionale Bewertung derselben. Das Gefühl antwortet auf die Frage, welche Bedeutung die Situation bzw. der wahrgenommene Gegenstand für mich hat. Es richtet sich daher auf das Selbst, nicht auf die Umwelt:
Fühlen gehet mehr auf den Aktus des Empfindens, als auf den Gegenstand desselben, und Gefühle, den Empfindungen entgegen gesetzt, sind solche, wo bloß eine Veränderung oder ein Eindruck in uns und auf uns gefühlet wird, ohne daß wir das Objekt durch diesen Eindruck erkennen, welches solche bewirket hat.60
Tetens betont mit diesen Zeilen die selbstreferentielle Dimension des Gefühls. Mit dieser Überzeugung ist er nicht allein. Auch Maaß verweist darauf, dass es unser eigener Gemütszustand ist, „den wir zunächst eigentlich fühlen“.61 Er definiert: „Subjektive Empfindungen heißen Gefühle. Sie dienen nicht der Erkenntnis der Gegenstände, durch welche sie erregt werden […]“.62 Das Gefühl kann folglich als eine Art innerer Sinn verstanden werden, der wahrnimmt, wie die Welt für mich emotional erschlossen ist. Johannes Lehmann hat festgehalten, dass Gefühle als Selbstreferenz zu verstehen sind, die „bei jedem Akt der Fremdreferenz notwendig mitläuft“.63 Anders als die Affekte und Leidenschaften informieren sie mich über meinen emotionalen Zustand, haben aber keine direkte Auswirkung auf meinen Willen. Gefühle motivieren nicht notwendig und selbstständig zur Handlung. Lehmann hat die Leistung des Gefühlsbegriffs an der Differenz zwischen dem Affekt des Zorns um 1700 und Wut als Gefühl um 1800 verdeutlicht. Während der Zorn einen Handlungsimpuls gegen den Verursacher derselben mitführt und die Rache inkludiert, wird Wut um 1800 als Gefühl verstanden und damit von Handlungsimpulsen unabhängig gedacht. Die Wut als Gefühl verschiebt das emotionale Erleben auf die Selbstreferenz. Wir nehmen uns als wütend wahr. Der Psyche kommt damit eine neue Bedeutung zu und infolge auch der Literatur: „[U]m zu verstehen, warum die Wut ausbricht und gegen was oder wen, muss man nun die ganze innere Geschichte (und äußere Lebensgeschichte) erzählen […].“64 Der Wandel in der Konzeptualisierung von Emotionen bewirkt Lehmann zufolge nichts Geringeres als die Umstellung der Literatur von rhetorischen Vorgaben auf realistische Beobachtungspraktiken. Darauf wird zurückzukommen sein.65 Zunächst soll festgehalten werden, dass die Umkehrung des Handlungsimpulses von außen nach innen dazu führt, dass Gefühle als Resultat einer individuellen Entwicklung konzipiert werden. Aus dieser Individualisierung des emotionalen Erlebens ergeben sich neue Fragen: Ist mein Gefühl gerechtfertigt? Kann es gemildert oder gar gesteigert werden? Wie kann ich das Gefühl verlängern? Im Gegensatz zum Affektbegriff bezeichnen ‚Gefühle‘ Emotionen, die modifiziert werden können. Jutta Stalfort konstatiert: „Die Überzeugung, dass das ‚Gefühl‘ kein inhärenter Bestandteil der Situation ist, sondern eine subjektive Reaktion auf diese Situation, ist ein neuer Gedanke.“66 Was in der heutigen Psychologie als Emotionsregulation bezeichnet wird, war schon im 18. Jahrhundert bekannt. Stalfort führt Tetens Diskussion des Schmerzempfindens in diesem Sinne an. Natürlich, so Tetens, kann der Schmerz, den eine Wunde verursacht, nicht willentlich abgestellt, sehr wohl kann er aber gemindert werden: „Überdieß kann die innere Selbstthätigkeit der Seele mächtige Quellen entgegengesetzter Empfindungen eröfnen, um jene Schmerzen zu überströmen […]“.67 Der Schmerz muss also nicht stoisch ertragen, sondern das Gefühl selbst kann modifiziert werden. Auch Maaß empfiehlt in seinem Versuch über die Gefühle zahlreiche Praktiken zur Gefühlsregulation und gibt als Ziel eine „heitere Stimmung“68 des Gefühlsvermögens aus. Gefühle werden im 18. Jahrhundert insofern auch unter gesundheitlichen Aspekten betrachtet. Kant beispielsweise schreibt dem Lachen69 eine positive Wirkung auf den Körper zu.70
Das emotionale Erleben aus der Perspektive seiner Regulation zu denken, wie es der Gefühlsbegriff ermöglicht, schließt gleichzeitig die Grenzen der Regulation mit ein und damit die Gefahren bestimmter Gefühle für das Individuum. Emotionsregulation darf daher nicht nur als eine individuelle Reaktion auf emotionales Erleben begriffen werden, sondern setzt – insbesondere in ihrer literarischen Form – schon früher ein. Weil bestimmte Emotionen erst gar nicht erzeugt werden sollen, antizipiert die Literatur ihre eigene emotionale Wirkung. Dieser Reflexionsprozess setzt selbstverständlich nicht erst im 18. Jahrhundert ein. Der Diskurs über die emotionale Wirkung des Dramas beispielsweise lässt sich schon in der Antike ausmachen. Mit der Entstehung der literarischen Anthropologie im 18. Jahrhundert ergibt sich jedoch eine neue Konstellation.71 Wird von der Tragödie mit Verweis auf Aristoteles die Erzeugung bestimmter Emotionen gefordert, so soll der anthropologische Roman in erster Linie Erkenntnisse vermitteln.72 Dargestellt werden sollen in ihm Ereignisse, Handlungen und Figuren, die Auskunft über die anthropologische Konstitution des Menschen geben.73 Allerdings rechnet auch der anthropologische Roman mit Leserinnen und Lesern, die sich dem Roman nicht wissenschaftlich und distanziert nähern, sondern sich emotional affizieren lassen. Schließlich zielt der anthropologische Roman auf lebensweltliche Relevanz. Leserinnen und Leser sollen ihre Probleme und Fragen im Roman wiedererkennen. Die literarische Figur des Schwärmers ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Mit ihr betritt eine Figur die literarische Bühne, die zwar einerseits als Sonderling und Krankheitsfall dargestellt wird, die andererseits aber auch zur Identifikation einlädt.74 Die kognitive und emotionale Wirkung der Literatur selbst wird durch die Schwärmerfigur gegenständlich. Die Faszination für den Schwärmer bezeugt insofern auch die Begeisterung für Literatur.75 Die Widersprüchlichkeit der Schwärmerfigur generierte eine Frage, der sich die hier im Mittelpunkt stehenden Romane und Diskurse annahmen: Wie kann der Schwärmer kritisiert werden, ohne Leserinnen und Leser, die sich ähnlich veranlagt sehen, zu beschämen?
Seit Victor Langes Forschungsbeitrag Zur Gestalt des Schwärmers im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts ist über Wilhelm Meister und seine schwärmerischen Brüder viel geforscht worden. Eine ausführliche Darstellung dieser Beiträge ist hier weder nötig noch möglich.76 Hervorgehoben werden soll lediglich, dass diese Beiträge den Roman des 18. Jahrhunderts überwiegend als Erkenntnisinstrument begreifen. Das ist durchaus nicht selbstverständlich, denn insbesondere die frühen Darstellungen des Schwärmers und der Schwärmerei waren politisch oder religiös motiviert. Der Religionsschwärmer wurde in ihnen oftmals als Fanatiker verstanden und daher mit satirisch-polemischen Mitteln bekämpft. Für den Roman seit Wielands Don Sylvio von Rosalva (1764), so die Victor Lange folgende Forschung, gelte das jedoch nicht mehr, denn hier überwiege das anthropologische Erkenntnisinteresse. Wielands Roman steht in dieser Lesart am Anfang einer Entwicklung. An ihm ließe sich erkennen, „wie aus dem moralisierenden Traktat ein seelenkundliches Dokument“77 wird. Unstrittig ist, dass im anthropologischen Roman am Beispiel des Schwärmers das Wissen über den Menschen vermehrt werden sollte. Aber sind damit alle Wirkungsabsichten des Romans benannt? Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass dies keineswegs der Fall ist. An Wielands Don Sylvio ist vielmehr zu erkennen, dass nicht die Frage, was einen Schwärmer ausmacht, im Vordergrund steht, sondern wie mit dem Schwärmer umzugehen ist. In diesem Zusammenhang wird die Scham thematisch. Wielands Roman reflektiert die emotionale Dimension literarischer Kommunikation und inszeniert sich zugleich als Medium der Schwärmerkur. Der Roman vermittelt nicht ausschließlich Wissen, sondern versucht, seine emotionale Wirkung selbst zu regulieren. Die Schamvermeidung, das wird im ersten Kapitel dieser Studie gezeigt, gehört zu den sozialethischen Imperativen der angestrebten Kommunikation.
In Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser kommt der Roman als Gattung hingegen an seine Grenzen. Moritz’ Protagonist wird nicht geheilt. Die Forschung hat die emotionalen Schwankungen des Protagonisten als Charakteristikum der erfahrungsseelenkundlichen Darstellung begriffen. Damit ist eine Gattungsproblematik angesprochen, denn der Text firmiert zwar als Roman, ist aber zugleich stark von der medizinischen Fallgeschichte beeinflusst. Liest man den Roman im Kontext von Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, in dem Auszüge desselben erschienen, dann zeigt sich Moritz’ Autorschaft als Teil eines therapeutischen Unternehmens. Moritz sieht im erfahrungsseelenkundlichen Dokument nicht allein ein Erkenntnisinstrument für Ärzte, sondern zugleich ein Medium der Selbsttherapie. Die Scham begreift er als Hindernis für die Selbstbeobachtung. Um sie zu vermeiden, orientiert Moritz den therapeutischen Diskurs am sozialethischen Ideal der Freundschaft.
Der sozialethische Rahmen der Aufklärung
Auf die Vernunft wird die Aufklärung schon lange nicht mehr reduziert. Die Forschung hat in den letzten Dekaden auf die vielen Diskurse und Bewegungen des 18. Jahrhunderts verwiesen, die Sinnlichkeit und Emotionalität nicht lediglich als das andere der Vernunft ausgrenzen. Konstatiert wurde mit Rückgriff auf ältere Forschung eine „Emanzipation“78 (Cassirer) bzw. „Rehabilitation“79 (Kondylis) der Sinnlichkeit und verwiesen wurde auf die Anakreontik, die empfindsamen Freundschaftsbünde, die Entstehung der Ästhetik als Wissenschaft vom Sinnlichen, die Diskurse der Empfindsamkeit sowie die Literatur des Sturm und Drang. Auch im anthropologischen Roman wendet sich die Aufklärung dem ganzen Menschen zu. Die Differenzen zwischen diesen Diskursen und Bewegungen bezeugen die Vielfältigkeit der aufklärerischen Interessen an Sinnlichkeit und Emotionalität. Unterscheidet man zwischen deskriptiven und normativen Zugängen zum Thema, gewinnt das Bild der Epoche an Kontrast. Entsteht die Ästhetik als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis und reklamiert der anthropologische Blick auf den Menschen einen rein beobachtenden Standpunkt für sich, so sind Konzepte wie Freundschaft und Zärtlichkeit eindeutig normativ. Die Norm ist in diesen Kontexten moralischer Natur. Sie codiert laut Luhmann die Kommunikation durch das binäre Schema gut/schlecht bzw. gut/böse und führt damit Hinweise auf die Achtung bzw. Missachtung von Personen mit sich.80 Geachtet wird, wer Freundschaften pflegt und zärtlich kommuniziert. Die politische Dimension der Aufklärung liegt in der Etablierung von Diskursen begründet, die sich an einer solchen Interaktionsmoral orientieren.81 Indem die Interaktion zwischen Personen auf der Grundlage neuer Regeln gestaltet wird, entstehen neue Diskursgemeinschaften.82 Diese werden zum Paradigma von Sozialität erklärt, weil das 18. Jahrhundert Gesellschaft in den Bahnen der Interaktionstheorie denkt.83 Wolfram Mauser hat dieses Nachdenken mit dem Begriff der Sozialethik gefasst. Die Sozialethik fokussiert soziale Interaktion und fragt insbesondere nach „der ethischen Verantwortbarkeit von institutionellen Regelungen“.84 Entsteht der Begriff ‚Sozialethik‘ auch erst im 19. Jahrhundert im Kontext der evangelischen Theologie, so bezeichnet er doch ein Erkenntnisinteresse, das eine längere Tradition hat. Mauser verweist auf das sozialethische Denken der Frühaufklärung und erkennt insbesondere bei Christian Thomasius eine „Ethik des Miteinanders“.85 Die sozialethischen Programme der Aufklärung zielten auf die Reform der Lebensführung. Sedimentiert haben sie sich in Schlagworten wie ‚Geselligkeit‘,86 ‚Freundschaft‘87 oder ‚Zärtlichkeit‘.88 Diese Reformprogramme haben gemeinsam, dass sie das Individuum als soziales Wesen begreifen. Zärtlichkeit, Freundschaft und Geselligkeit stellen nicht lediglich Pflichten dar, sondern in ihnen erfüllt sich zugleich ein Bedürfnis nach ‚menschlicher‘ Interaktion. Sozialethische Konzepte setzen eine Abhängigkeit des Menschen vom Menschen voraus und gestalten den Raum der Intersubjektivität. Mauser hat das Ziel aufklärerischer Sozialethik in einem „Pakt auf Gegenseitigkeit“ ausgemacht und im zeitgenössischen Begriff der ‚Billigkeit‘ den „Kerngedanken der Sozialethik“ erblickt.89 Billigen konnte die Aufklärung ein Verhalten, das die eigenen Bedürfnisse nicht über die der anderen stellt, Respekt vor den anderen erkennen lässt und im Konfliktfall auf einen gerechten Ausgleich setzt.90 Dieses Verhalten konnte nicht verordnet werden. Sozialethische Konzepte partizipieren vielmehr am aufklärerischen Autonomiepostulat. Spätestens seit Wolfgang Martens’ Abhandlung Die Botschaft der Tugend ist bekannt, wie nachdrücklich sich die Wochenschriften der Reform bürgerlichen Lebens verschrieben.91
Diese Studie fragt nach der Rolle der Emotionen für die sozialethischen Programme der Aufklärung. Allerdings stehen im Folgenden nicht die emotionalen Kultivierungsabsichten im Mittelpunkt. Wie die Aufklärung zärtliche Interaktionsformen92 und Empathie93 vermittelte, ist detailliert erforscht worden. In den folgenden Kapiteln soll hingegen eine Emotion fokussiert werden, durch die die Aufklärung ihre sozialethischen Ziele gefährdet sah: die Scham. In der Scham wurde eine Gefahr erkannt, weil sie den ‚Pakt auf Gegenseitigkeit‘ aufkündigte und das beschämte Individuum aus der aufklärerischen Diskursgemeinschaft ausschloss. Welche Bedeutung der Vermeidung von Scham zugesprochen wurde, zeigt sich exemplarisch in der ersten Ausgabe der Hamburger Wochenschrift Der Patriot. Dort formuliert Barthold Heinrich Brockes mit den folgenden Worten ein Kommunikationsideal: „Mein Zweck ist, zu erinnern, und nicht zu schmähen: zu nützen, und nicht zu beleidigen: den Sitten der Menschen beyräthig, und nicht nachtheilig, zu seyn.“94 Indem Brockes dieses Motto von Erasmus von Rotterdam an den Anfang seiner der sittlichen Aufklärung verpflichteten Wochenschrift stellt, hebt er die Rolle der Emotionen und insbesondere der Scham hervor. Das Zitat impliziert, dass Aufklärung nur gelingen kann, wenn Kommunikation emotional reguliert wird. Leserinnen und Leser, so die These, eignen sich eine Norm nur dann an, wenn sie sich an sie ‚erinnert‘ fühlen, nicht aber, wenn sie ihnen vorgehalten wird. Brockes positioniert sein Publikationsprojekt mit dieser Maxime in der durch Schmähschriften und Satiren geprägten Hamburger Öffentlichkeit.95 Scham zu vermeiden war aber keinesfalls ein allein den lokalen Verhältnissen geschuldetes Bedürfnis. Im Gegenteil: Die Kritik der Satire entspringt dem Geist der Schamvermeidung, der für die Sozialethik der Aufklärung charakteristisch war. Ein ‚Pakt auf Gegenseitigkeit‘, so lässt sich der sozialethische Impuls der Schamkritik fassen, kann nur gelingen, wenn niemand beschämt wird. Weil Scham und Beschämung von der Aufklärung als ein Problem der Aneignung und Kommunikation von Wissen verstanden wird, stehen im Folgenden nicht naturrechtliche Diskurse96 im Mittelpunkt, sondern Diskurse, in denen Kommunikations- und Publikationspraktiken reflektiert werden. Während im Diskurs über die Satire die beschämende Wirkung derselben kritisiert wird, problematisiert die Erfahrungsseelenkunde die Tatsache, dass auch Selbsterkenntnisse Scham auslösen können. In beiden Fällen wird die Scham als Hindernis für individuelle Entwicklungsprozesse thematisiert. Das erste Kapitel wendet sich dem aufklärerischen Satirediskurs zu. Die Satire, so ihre Kritiker, strafe moralische Fehler mit dem Entzug von Anerkennung, ohne die Scham als Selbstverhältnis zu reflektieren. Gegen die Apologeten von Schand- und Ehrenstrafen wird geltend gemacht, dass die der Scham inhärente Angst vor sozialer Missachtung zum Rückzug aus der aufgeklärten Gesellschaft führt und damit zur Annäherung an Kreise, die Achtung unabhängig von moralischer Interaktion vergeben. Die sozialethische Reflexion der Scham motiviert daher die Suche nach einem anderen, integrativ verfahrenen Umgang mit Fehlern. Diese Suche wird im ersten Kapitel beschrieben: Auf der Grundlage anthropologischen Wissens entwickelt Wieland eine literarische Darstellung des Schwärmers, die auf die Erzeugung von Scham verzichtet. Statt auf die Satire, setzt er auf den Humor. Steht im ersten Kapitel mit Wieland ein Autor im Mittelpunkt, der die strafende Funktion von Literatur kritisiert, weil sie Scham generiert, so wendet sich das zweite Kapitel Moritz und der Erfahrungsseelenkunde zu. Moritz’ Roman Anton Reiser analysiert die therapeutische Wirkung der Literatur, indem er fragt, welche Lösungen die empfindsame Kultur für das beschämte Individuum anzubieten hat. Der Roman thematisiert die soziokulturellen Anlässe der Scham und bezeugt die existentielle Gefährdung des Individuums durch dieselbe. Moritz betreibt eine kritische Bestandsaufnahme der literarischen Kultur und hebt dabei die Grenzen literarischer Autorschaft hervor. Dem Roman als Gattung spricht er eine therapeutische Wirkung ab und verfolgt mit der kollaborativen Arbeit am Magazin zur Erfahrungsseelenkunde eine Alternative. Sein Magazin unterstellt er einem zentralen sozialethischen Ideal der Aufklärung: der Freundschaft. Ermöglicht werden soll auf diese Weise die aufrichtige Kommunikation von Krankengeschichten, die Scham zu vermeiden weiß.
Pope, Alexander: Vom Menschen. Englisch-Deutsch. Hrsg. von Wolfgang Breidert. Hamburg: Meiner 1993 (= Philosophische Bibliothek 454), S. 38.
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. 18. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2014, S. 471.
Meine Interpretation folgt: Lotter, Maria-Sibylla: Scham, Schuld, Verantwortung. Über die kulturellen Grundlagen der Moral. Berlin: Suhrkamp 2012, S. 73–82.
In der philosophischen Theoriebildung scheint es inzwischen unstrittig, dass die Scham eine normative Dimension besitzt und ihr daher die Qualität eines Urteils zukommt. Vgl. Landweer, Hilge: Philosophische Perspektiven auf Scham und Schuldgefühle. In: Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Hermann Kappelhoff, Jan-Hendrik Bakels u. Hauke Lehmann. Stuttgart: Metzler 2019. S. 235–239, hier: S. 235; Demmerling, Christoph u. Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart: Metzler 2007, S. 228.
Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogentische und psychogenetische Untersuchungen. Zweiter Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 398.
Ebd., S. 317.
Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 262.
Ebd., S. 263.
Elias, N.: Über den Prozeß der Zivilisation. Zweiter Band, S. 407.
Vgl. ebd., S. 403.
Vgl. die ausführliche Kritik des fünfbändigen Werkes: Duerr, Hans Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. 5 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988–2002.
Honneth, Axel u. Hans Joas: Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen der Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main: Campus Verl. 1980, S. 119.
Elias, N.: Über den Prozeß der Zivilisation. Erster Band, S. 88.
Ebd., S. 89.
Benedict, Ruth: The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of Japanese Culture. Boston: Houghton Mifflin 2005, S. 223.
Die vom US-amerikanischen Kriegs- und Informationsministerium in Auftrag gegebene Studie begreift die japanische Kultur überwiegend als Scham- und die europäisch-nordamerikanische in erster Linie als Schuldkultur. Für eine prägnante Zusammenfassung der Kritik vgl. Benthien, Claudia: Tribunal der Blicke. Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800. Köln: Böhlau 2011, S. 36–45.
Vgl. die Zusammenfassung der Kritik an Benedict im japanischen Diskurs in: Creighton, Millie R.: Revisiting Shame and Guilt Cultures: A Forty-Year Pilgrimage. In: Ethos 18 (1990) H. 3. S. 279–307, hier: S. 282.
Vgl. Williams, Bernard: Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral. Berlin: De Gruyter 2000, S. 95f.
Lotter, Maria-Sibylla: „What dost thou know me for?“. Stanley Cavell über die Dynamik der Scham in der Spannung zwischen dem Streben nach sozialer Anerkennung und der Anpassungsverweigerung. In: Die verborgene Macht der Scham. Ehre, Scham und Schuld im alten Israel, in seinem Umfeld und in der gegenwärtigen Lebenswelt. Hrsg. von Alexandra Grund-Wittenberg u. Ruth Poser. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. S. 221–245, hier: S. 222.
Neckel, Sighard: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt am Main: Campus 1991, S. 135.
Heller, Agnes: The Power of Shame. London: Routledge & K. Paul 1985, S. 5.
In diesem Zusammenhang hält Landweer fest: „Je mehr das Scham-Subjekt die Scham-Zeugen bewundert und umso größere Autorität sie für es entweder überhaupt oder mindestens hinsichtlich der verletzten Norm haben, umso intensiver wird auch das Scham-Gefühl sein.“ Landweer, Hilge: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls. Tübingen: Mohr Siebeck 1999 (= Philosophische Untersuchungen 7), S. 98.
Meister, Leonhard: Ueber die Schamhaftigkeit. In: Fliegende Blätter, größtentheils historischen und politischen Inhalts. Hrsg. von Leonhard Meister. Basel: F. F. Flick 1783. S. 112–139, hier: S. 116.
Vgl. ebd., S. 124.
Maaß, Johann Gebhard Ehrenreich: Versuch über die Gefühle, besonders über die Affecten. Zweiter oder besonderer Theil. Halle: Reinicke und Comp. 1812, S. 312.
Ewald, Johann Ludwig: Die Kunst ein gutes Mädchen, eine gute Gattin, Mutter und Hausfrau zu werden. Ein Handbuch für erwachsene Töchter, Gattinnen und Mütter. Erstes Bändchen. Vierte vermehrte und verbesserte Auflage. Frankfurt am Main: Friedrich Wilmans 1807, S. 50.
Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. 2. Aufl. München: Fink 2003, S. 439.
Weckel, Ulrike: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum. Tübingen: Niemeyer 1998 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 61), S. 96.
Ebd.
Über die weibliche Schamhaftigkeit. In Form eines Briefes, von einem Liebhaber an seine Geliebte. In: Für Hamburgs Töcher (1779) H. 2. S. 24–30, hier: S. 28f.
Rousseaus einflussreiche Ausführungen zur Schamhaftigkeit in seinem Brief an d’Alembert stützen einerseits die Konstruktion eines weiblichen Geschlechtscharakters, bewirken andererseits aber auch eine Auseinandersetzung mit der Theatralität geschlechtsspezifischen Handelns. Vgl. Geitner, Ursula: Zur Rhetorizität moderner Weiblichkeit. Die Figur der Schauspielerin. In: Jahrbuch Rhetorik 29 (2010) H. 1. S. 19–34, hier: S. 25–30. Zu Rousseaus Gleichsetzung von weiblicher Schamhaftigkeit und Koketterie in Émile vgl. Meyer-Sickendiek, Burkhard: Zärtlichkeit. Zu den aristokratischen Quellen der bürgerlichen Empfindsamkeit. Paderborn: Wilhelm Fink 2015, S. 350–52.
Demmerling, C. u. H. Landweer: Philosophie der Gefühle, S. 242.
Saurer, Edith: Über die Beziehung von Schamhaftigkeit, Öffentlichkeit und Geschlecht. Einige Gedanken zur Genese des Konzepts von öffentlicher Schamhaftigkeit. In: Macht, Geschlechter, Differenz. Beiträge zur Archäologie der Macht im Verhältnis der Geschlechter. Hrsg. von Wolfgang Müller-Funk. Wien: Picus-Verl. 1994. S. 63–90, hier: S. 64.
Ebd., S. 63.
Beccaria, Cesare: Des Marchese Beccaria’s Abhandlung über Verbrechen und Strafen. Von neuem aus dem Italiänischen übersetzt. Mit Anmerkungen von Diderot, mit Noten und Abhandlungen vom Uebersetzer, mit den Meinungen der berühmtesten Schriftsteller über die Todesstrafe nebst einer Kritik derselben, und mit einem Anhange über die Nothwendigkeit des Geschwornengerichts und über die Beschaffenheit und die Vortheile desselben in England, Nordamerika und Frankreich. Hrsg. von Johann Adam Bergk. Leipzig: Beygang 1798, S. 197.
Ebd.
Ebd.
Platner, Ernst: Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik. Bd. 1. Leipzig 1791, S. 430.
Vgl. Košenina, Alexander: Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der „philosophische Arzt“ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul. Würzburg: Königshausen & Neumann 1989 (= Epistemata Reihe Literaturwissenschaft 35); Pfotenhauer, Helmut: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart: Metzler 1987, S. 8.
Platner, E.: Neue Anthropologie für Aerzte, S. 627.
Maaß, J. G. E.: Versuch über die Gefühle (Bd. 2), S. 293.
Vgl. Stalfort, Jutta: Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750–1850). Bielefeld: transcript 2013, S. 338.
Maaß, J. G. E.: Versuch über die Gefühle (Bd. 2), S. 238.
Ebd., S. 239.
Ebd., S. 265.
Ebd., S. 308f.
Hier können nur einige Studien genannt werden: Begemann, Christian: Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung. Zu Literatur und Bewusstseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Athenäum 1987; Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin: Schmidt 2003; Meyer-Sickendiek, Burkhard: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005; Lehmann, Johannes Friedrich: Im Abgrund der Wut. Zur Kultur- und Literaturgeschichte des Zorns. Freiburg im Breisgau: Rombach 2012; Schonlau, Anja: Emotionen im Dramentext. Eine methodische Grundlegung mit exemplarischer Analyse zu Neid und Intrige 1750–1800. Berlin: De Gruyter 2017 (= Deutsche Literatur. Studien und Quellen 25); Hass/Literatur. Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie- und Diskursgeschichte. Hrsg. von Jürgen Brokoff u. Robert Walter-Jochum. Bielefeld: transcript 2019; Geisenhanslüke, Achim: Die Sprache der Infamie III. Literatur und Scham. Paderborn: Wilhelm Fink 2019.
Wegweisend: Schings, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1977.
Vgl. Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Hrsg. von Ute Frevert, Pascal Eitler u. a. Frankfurt am Main: Campus 2011.
Darauf weist hin: Schnell, Rüdiger: Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer „History of emotions“. Teil 2. Göttingen: V&R Unipress 2015, S. 967.
Vgl. Solomon, Robert C.: Emotions, Thoughts, and Feelings. Emotions as Engagements with the World. In: Thinking about Feeling. Contemporary Philosophers on Emotions. Hrsg. von Robert C. Solomon. Oxford: Oxford University Press 2004. S. 76–88, hier: S. 84f.
Drei die Scham fokussierende germanistischen Monografien analysieren wohl auch daher Texte aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Vgl. Heidgen, Michael: Inszenierungen eines Affekts. Scham und ihre Konstruktion in der Literatur der Moderne. Göttingen: V&R Unipress 2013; Blaimer, Sibylle: Tragische Scham und peinliche Prosa. Werk und Poetik Franz Grillparzers im Zeichen unsäglicher Affekte. Ein Beitrag zur (literarischen) Affektkultur des 19. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019; Zimmermann, Jennifer: Unbarmherzige Augen. Eine Analyse der Scham im Erzählwerk von Günter Grass. Würzburg 2016. Die Aufklärung bleibt im folgenden Sammelband zum Verhältnis von Scham und Literatur ausgespart: Scham und Schamlosigkeit. Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne. Hrsg. von Katja Gvozdeva u. Hans Rudolf Velten. Berlin: De Gruyter 2011. Mit der Scham bei Schiller und Kleist sowie in europäischen Diskursen der Aufklärung setzt sich auseinander: Geisenhanslüke, A.: Die Sprache der Infamie III, S. 89–136. Das Verhältnis von Scham und Schuld in den dramatischen Werken von Schiller und Kleist untersucht: Benthien, C.: Tribunal der Blicke. Aus psychoanalytischer Sicht wird Scham in Werken von Moritz und Kleist diskutiert in: Scham. Hrsg. von Joachim Küchenhoff, Joachim Pfeiffer u. Carl Pietzcker. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013 (= Freiburger Literaturpsychologische Gespräche 32), S. 107–146.
Für die antike Tragödie und die Epen Homers spielt die Scham hingegen eine größere Rolle. Vgl. Williams, B.: Scham, Schuld und Notwendigkeit; Meyer, Martin F.: Scham im klassischen griechischen Denken. In: Zur Kulturgeschichte der Scham. Hrsg. von Michaela Bauks u. Martin F. Meyer. Hamburg: Felix Meiner 2011 (= Archiv für Begriffsgeschichte. Sonderheft 9). S. 35–54; Geisenhanslüke, A.: Die Sprache der Infamie III, S. 21–50.
Vgl. Bastian, Till u. Micha Hilgers: Kain. Die Trennung von Scham und Schuld am Beispiel der Genesis. In: Psyche 44 (1990) H. 12. S. 1100–1112, hier: S. 1111.
Schon die medizinische Auslegung der aristotelischen Katharsislehre nimmt das an. Vgl. Till, Dietmar: Rhetorik und Poetik der Antike. In: Handbuch Literatur & Emotionen. Hrsg. von Cornelia Zumbusch u. Martin von Koppenfels. Berlin: De Gruyter 2016. S. 39–61, hier: S. 56.
Vgl. Gross, James J.: Emotion Regulation. Current Status and Future Prospects. In: Psychological Inquiry 26 (2015) H. 1. S. 1–26. Der Historiker und Kulturanthropologe William Reddy spricht in dieser Hinsicht von der „Navigation“ von Gefühlen bzw. der Gefühle. Vgl. Reddy, William M.: The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions. Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 122.
Monique Scheer hat die Emotionsbenennung zurecht als eine eigenständige Emotionspraxis verstanden, die es zu erforschen gilt. Vgl. Scheer, Monique: Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuan Approach to Understanding Emotion. In: History and Theory 51 (2012) H. 2. S. 193–220.
Vgl. Stalfort, J.: Erfindung der Gefühle.
Natürlich wird die Scham weiterhin auch als Affekt bezeichnet. So stellt der Eintrag im Zedler die Scham als Affekt dar, weil sie „eine außerordentliche starke Bewegung des Willens“ bewirke. [Art.] Scham. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Hrsg. von Johann Heinrich Zedler. Bd. 34. Halle, Leipzig: Zedler 1731–1754 [1742]. Sp. 841–846, hier: Sp. 843.
Tetens, Johann Nicolaus: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Kommentierte Ausgabe. Hrsg. von Udo Roth u. Gideon Stiening. Berlin: De Gruyter 2014, S. 98.
Maaß, J. G. E.: Versuch über die Gefühle (Bd. 2), S. 199.
Maaß, Johann Gebhard Ehrenreich: Versuch über die Gefühle, besonders über die Affecten. Erster oder allgemeiner Theil. Halle: Reinicke und Comp. 1811, S. 4.
Lehmann, J. F.: Im Abgrund der Wut, S. 150.
Ebd., S. 187.
Vgl. die Ausführungen zur Fallgeschichte als Genre der Erfahrungsseelenkunde, S. 164–167.
Stalfort, J.: Erfindung der Gefühle, S. 295. Hervorhebung im Original.
Tetens, J. N.: Philosophische Versuche, S. 123.
Maaß, J. G. E.: Versuch über die Gefühle (Bd. 1), S. 517.
Vgl. die Ausführungen zum geselligen Lachen auf den Seiten 38–47 dieser Studie.
Vgl. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik II. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. 15. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013 (= Werkausgabe 12). S. 398–690, S. 594f.
Vgl. Pfotenhauer, H.: Literarische Anthropologie, S. 1–28.
Vgl. Riedel, Wolfgang: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft. In: Forschungsreferate. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger u. a. Tübingen: Niemeyer 1994 (= Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 6). S. 93–157.
Vgl. Heinz, Jutta: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin: De Gruyter 2011, S. 162–64.
Zur unterschiedlichen Bewertung des Schwärmers vgl. ebd., S. 166–171.
In der Spätaufklärung erfolgt daher die Rehabilitation des Schwärmers: Vgl. Engel, Manfred: Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmens in Spätaufklärung und früher Goethezeit. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Hrsg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart: Metzler 1994. S. 469–498.
Im ersten Kapitel wird die Figur des Schwärmers in ihren Grundzügen dargestellt. Vgl. S. 24–27.
Lange, Victor: Zur Gestalt des Schwärmers im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hrsg. von Herbert Singer u. Benno von Wiese. Köln: Böhlau 1967. S. 151–164, hier: S. 161.
Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung. Hrsg. von Birgit Recki. Hamburg: Meiner 2003 (= Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe 15), S. 370.
Kondylis, Panagiotes: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart: Klett 1981, S. 19.
Vgl. Luhmann, Niklas: Ethik als Reflexionstheorie der Moral. In: Ders.: Die Moral der Gesellschaft. Hrsg. von Detlef Horster. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. S. 270–347, hier: S. 271–73.
Vgl. Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 43f.
Vgl. Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1988, S. 56–70.
Vgl. Luhmann, Niklas: Interaktion in Oberschichten. Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. S. 72–161, hier: S. 86.
Huber, Wolfgang: Evangelische Sozialethik. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Brill Reference Online. http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_04815 (4.3.22).
Mauser, Wolfram: Billigkeit. Literatur und Sozialethik in der deutschen Aufklärung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 42.
Vgl. Mauser, Wolfram: Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750. In: Aufklärung. Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 4 (1990) H. 1. S. 5–36.
Vgl. Meyer-Krentler, Eckhardt: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München: Fink 1984.
Vgl. Wegmann, N.: Diskurse der Empfindsamkeit.
Mauser, W.: Billigkeit, S. 65.
Vgl. ebd., S. 23.
Vgl. Martens, Wolfgang: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der Moralischen Wochenschriften. Stuttgart: Metzler 1971.
Vgl. Wegmann, N.: Diskurse der Empfindsamkeit; Meyer-Sickendiek, B.: Zärtlichkeit.
Vgl. Schings, Hans-Jürgen: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München: Beck 1980.
Ich zitiere die Übersetzung aus: Mauser, W.: Billigkeit, S. 43. In Der Patriot wird das Motto nicht übersetzt. Dort heißt es typografisch abgesetzt und mit Verweis auf Erasmus: „Admonere volumus, non mordere; prodesse, non laedere: consulere moribus hominum, non officere.“ Brockes, Barthold Heinrich: Erstes Stück. Mittewochens, den 5ten Jan. 1724. In: Der Patriot 1 (1724) H. 1. S. 1–10, hier: S. 1.
Vgl. Martus, Steffen: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2018, S. 231.
In den naturrechtlichen Diskursen der Aufklärung wird, wie es Friedrich Vollhardt gezeigt hat, die Bedeutung der Selbstliebe für die Geselligkeit herausgestellt. Die hier verhandelten Diskurse begreifen Selbstliebe als ein praktisches Problem emotionaler Selbstreferenz. Für den naturrechtlichen Diskurs vgl. Vollhardt, Friedrich: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin: De Gruyter 2001 (= Communicatio 26).